Gadomski, Christopher R., Die Rezeption der historischen Rechtsschule und der Pandektenwissenschaft in der italienischen Wissenschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Diss. jur. Frankfurt am Main 2006. XVI, 176 S. Besprochen von Thorsten Keiser.
Studien über die Annäherung von Rechtskulturen im jeweiligen politischen Kontext sind in Zeiten von Systemzusammenbrüchen und Normentransfers immer von aktuellem Interesse. Zu ihrer Rechtfertigung bedarf es nicht der allgemeinen Verweise auf eine möglicherweise bevorstehende europäische Rechtsangleichung, die auch Christopher Gadomski, wie derzeit viele andere, etwas unreflektiert als Legitimationshilfe für seine Auseinandersetzungen mit romanistischen Traditionen aufruft. Die langjährige Fokussierung der italienischen Rechtsgeschichte auf das Mittelalter lässt noch viel Raum für interessante Forschungen über das 19. Jahrhundert. Insbesondere Kontaktaufnahmen der in Zeiten des Risorgimento politisch und kulturell an Frankreich orientierten Italiener mit einem deutschen Wissenschaftszweig, der ein Stück italienischer Vergangenheit zum Forschungsgegenstand gemacht hat, erscheinen in diesem Zusammenhang vielversprechend. Der Autor definiert „Rezeption“ allgemein als „Aufnahme, Verarbeitung und (…) Fortentwicklung fremden Gedanken- und Kulturguts“ (S. 5). Aktuelle Debatten über „Rechtstransfers“ konnten hier wahrscheinlich nicht mehr einbezogen werden. Die Kontroverse zwischen Watson und Legrand um Bedingungen und Abläufe solcher „Aufnahmen“ wird ebenfalls nicht als Hintergrund geschildert. Statt Methodenfragen zu erörtern widmet sich der Autor sofort dem historischen Stoff, was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss. Zunächst referiert er eine geläufige These, die er in seiner Arbeit diskutieren und überprüfen will. Vor 1865 sei demnach die italienische Rechtswissenschaft auf einem niedrigen Niveau gewesen und von Frankreich beherrscht worden. Erst nach etwa 1881 habe in Italien eine Assimilierung an die deutsche Rechtswissenschaft stattgefunden und der italienischen Jurisprudenz zu einer Blütezeit verholfen (S. 5, 6).
Dieses Bild wird in den folgenden Kapiteln als zu schematisch kritisiert und aufbauend auf soliden Kenntnissen der italienischen Rechtsgeschichte um einige Facetten erweitert. Hierin liegt das Verdienst dieser Arbeit.
Bezüglich der Ausgangsbedingungen einer Rezeption der Pandektenwissenschaft relativiert Gadomski zunächst das Werturteil einer „Minderwertigkeit der italienischen Rechtswissenschaft“ vor 1880 (S. 13ff). Verantwortlich für die Rechtsentwicklung seien damals eben nicht Wissenschaftler, sondern vor allem Praktiker gewesen. Das könne man aber auch positiv als „lebendige“ unakademische Jurisprudenz werten (S. 14), meint der Autor und zitiert in diesem Zusammenhang Paolo Grossi, dessen Geschichtsbetrachtungen bekanntlich oft von einer Affinität zu „lebensnahem Recht“ bei gleichzeitiger Ablehnung „formalistischer“ Strukturen geprägt sind.
1825 und 1833 bereiste Savigny auf der Suche nach römischen Quellen Italien. Dabei knüpfte er persönliche Kontakte, die zu wichtigen Grundlagen eines späteren Austauschs zwischen deutschen und italienischen Wissenschaftern werden sollten (S. 19ff.). Gerade in der Toscana, wo man zunächst keine Kodifikation nach französischem Vorbild eingeführt hatte und weiterhin römisches Recht anwendete, erweckte das Werk Savignys besonderes Interesse. An den Universitäten Siena und Pisa entstanden Brückenköpfe für eine Vermittlung der historischen Rechtsschule südlich der Alpen (S. 58). In diesem Zusammenhang hätte man auch die Studien Erik Jaymes über Savignys Austausch mit dem Juristen und Schriftsteller Pasquale Stanislao Mancini zitieren können. Ansonsten ist die Arbeit aber im Bereich der Sekundärliteratur solide recherchiert. Gerade zu italienischen Texten über das 19. Jahrhundert ist sie ein brauchbarer Wegweiser.
Überzeugend wird dann geschildert, wie Savignys „Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter“ in Italien als zusammenhängende Darstellung über das Recht einer in Zeiten der Nationsbildung mythisch verklärten Vorzeit auf fruchtbaren Boden fiel (S. 27ff); den Thesen von einer organischen Rechtsentstehung aus dem „Volksgeist“ wollte man hingegen, sofern sie offen gegen die Kodifikation gerichtet waren, nicht folgen, obwohl das römische Recht überzeugend als Produkt eines einheimischen spirito popolare glorifizierbar gewesen wäre (82ff.). Eine Kodifikation nach französischem Vorbild, wie sie 1865 eingeführt wurde, sah man als unerlässlichen Schrittmacher der nationalen Einheit an.
Das „System des
heutigen römischen Rechts“ wurde ebenfalls ins Italienische übersetzt (S. 48ff.).
In der Aufnahme von Savignys zivilrechtlichem Hauptwerk dürfte einer der
wichtigsten Indikatoren für die Ausmaße einer „Rezeption“ der Pandektenwissenschaft
in Italien zu sehen sein. Interessant ist, wie die italienische Literatur
Anregungen aus diesem Werk verarbeitete. Das wird von Gadomski auch berichtet,
aber leider nur exemplarisch anhand eines Lehrbuchs von Nicola de Crescenzio
aus dem Jahr 1863. Darin wurde zum Beispiel versucht, die Volksgeistlehre mit
Vorstellungen christlichen Naturrechts in Einklang zu bringen. Vor der coscienza di un popolo stehe immer noch
die sich in der göttlichen Schöpfung manifestierende kosmische Ordnung der
Dinge als Ursprung des Rechts (S. 71). Solche Passagen zeigen tatsächlich
Berührungen zwischen verschiedenen Mentalitäten und Rechtskulturen. Man hätte
sich mehr davon gewünscht. Problematisch ist auch, dass die gesamte Darstellung
zu sehr auf die Galionsfigur der historischen Rechtsschule fokussiert ist. So
wird etwa über die Rolle Windscheids und dessen Pandektenlehrbuch, das von 1902
bis 1904 übersetzt wurde (S. 131), zwar berichtet (S. 148ff.), aber nicht
ausführlich. Man erfährt zum Beispiel nicht, ob es Rezensionen zu diesem
Schlüsselwerk gab, ob es, wie in Deutschland, das Interesse von Praktikern
wecken konnte u.s.w. Solche Informationen wären aber hilfreich gewesen, um
anhand von konkreten Quellenbeispielen zu zeigen, was eine Übernahme der
„pandektistischen Methode“ für Italien in jener Zeit bedeutete, auch im
Vergleich zu ihrem französischen Gegenmodell, der scuola dell’esegesi.
Interessant ist hingegen, dass der Autor den um 1880 einsetzenden Methodenstreit der italienischen Rechtswissenschaft als historischen Hintergrund für weitere Rezeptionen der Pandektenwissenschaft schlüssig hervorhebt (S. 125ff). Treffend wird beschrieben, wie einzelne Bruchstücke deutscher Texte mit anderen Elementen aus den Bereichen organologischen oder im weitesten Sinne sozialistischen Rechtsdenkens vermischt wurden (S. 80). Die Pandektenwissenschaft war eben ein Reservoir von Zutaten für den minestrone ideologico (Paolo Grossi), den sich viele Juristen in dieser Zeit nach jeweils eigener Rezeptur zusammenbrauten. Von einer geschlossenen Hinwendung der italienischen Rechtswissenschaft zur Pandektenwissenschaft in dieser Zeit kann man tatsächlich nicht sprechen. Sie war gerade nach 1880, als sich die soziale Frage in den Vordergrund drängte, starken antiformalistischen und antiindividualistischen Strömungen ausgesetzt, in Deutschland wie in Italien. Insofern kann man Gadomski nur zustimmen, wenn er die These einer tiefgreifenden Assimilierung der italienischen Rechtswissenschaft an die Pandektenwissenschaft im Sinne einer „Wende“ nach 1880 relativieren will.
Auch in diesen anregenden Abschnitten fehlt jedoch der konsequente Zugriff auf die Primärliteratur. Autoren wie Cimbali oder Gianturco werden zwar erwähnt (S. 128). Wie sich etwa die in dieser Zeit kursierenden organologischen Vorstellungen mit Systemgedanken verbinden, wird aber nicht mit der notwendigen analytischen Tiefe dargestellt. Gerade Cimbalis „Lo studio del diritto civile negli stati moderni“ von 1881, das der Autor zitiert, hätte Anhaltspunkte für Kombinationen von ausdrücklich bei Savigny entlehnten Volksgeistgedanken und evolutionistisch-naturalistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts geboten.
Deutlicher wird die Darstellung aber, wo es um Übernahmen konkreter zivilrechtlicher Institute, wie der Figur des Rechtsgeschäfts, geht (S. 148ff.). Für den Zeitabschnitt unmittelbar nach 1900 hätte man noch ein kleines Kapitel über die italienischen Beurteilungen des „allgemeinen Teils“ im damals neuen Bürgerlichen Gesetzbuch einfügen können. Im Geburtsjahr des BGB veröffentlichte der Zivilrechtler Gino Segrè eine bemerkenswerte Analyse des „allgemeinen Teils“ aus Sicht der italienischen Rechtswissenschaft. Hierin finden sich unter anderem Auseinandersetzungen mit der Pandektenwissenschaft und der historischen Rechtsschule, die gut in den Themenbereich der dieser Arbeit gepasst hätten, zumal Gadomski gerade die Fähigkeit, allgemeine Rechtsbegriffe „vor die Klammer zu ziehen“, als Charakteristikum der Pandektenwissenschaft hervorhebt (S. 45).
Kenntnisreich beschreibt Gadomski dann die Situation in der Nachkriegszeit, wo antibürgerliche Affekte und kulturelle Suggestionen von Maschinisierung und Vermassung die Rezeptionsbedingungen für das am Individuum ausgerichtete Pandektenrecht des 19. Jahrhunderts verschlechterten (S. 160ff.). Die grundsätzliche Prägung des Privatrechts als ein nach Prinzipien abstrakt-begrifflich geordnetes Ganzes hielt aber auch in den Krisenjahren allen Angriffen stand, in Deutschland wie in Italien. Hierzu mag auch in Italien die Überzeugungskraft der Pandektenwissenschaft und das akademische Charisma ihrer Protagonisten beigetragen haben.
Insgesamt hat der Autor aus fundierten Kenntnissen der italienischen Rechtsgeschichte eine ansprechend konstruierte Arbeit mit hinreichend konkreten Fragestellungen, überzeugender chronologischer Gliederung und interessanten politischen Hintergrundinformationen entwickelt. Um aus diesem tragfähigen Gerüst eine völlig überzeugende Gesamtkonstruktion zu machen, hätte er aber mehr Primärliteratur einbauen müssen. Wegen des wichtigen und hochinteressanten Themas ist dem Buch eine aufmerksame „Rezeption“ aber auf jeden Fall zu wünschen, auch wenn es bislang noch nicht in einem Wissenschaftsverlag erschienen ist.
Frankfurt am
Main Thorsten
Keiser