Europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Internationaler
Kongress des Dipartimento di Storia der Universität Sassari und des Parco
nazionale di Asinara, Porto Torres, 25. Mai 2001, hg. v. Da Passano, Mario
(= Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 2 Forum juristische Zeitgeschichte
15). BWV Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2006. IX, 280 S. Ill. Besprochen
von Heinz Müller-Dietz.
Die Geschichte der Strafkolonien gehörte lange Zeit zu einem noch weitgehend unbeackerten Forschungsfeld. Zwar existierte im europäischen Bereich eine ganze Reihe von Einzelstudien, doch fehlte es vor allem an übergreifenden Darstellungen, die den wissenschaftlichen Horizont hin zur Strafvollzugs- und Sozialgeschichte erweiterten. Die rechtsgeschichtliche Forschung auf diesem bisher eher vernachlässigten Gebiet anzuregen und zu intensivieren war das Petitum des allzu früh verstorbenen italienischen Strafrechtshistorikers Mario Da Passano (1946-2005). Dem diente denn auch eine 2001 veranstaltete internationale Tagung über europäische Strafkolonien im 19. Jahrhundert. Es ist zum letzten großen Projekt des Rechtshistorikers geworden. Die Kongressakten, die er 2004 herausgegeben hat, hat nunmehr Thomas Vormbaum verdienstvoller Weise ins Deutsche übersetzt. Der jetzt vorliegende Band gibt einen kurzen Nachruf auf den italienischen Kollegen von Hans Schlosser wieder und dokumentiert die zehn Beiträge jener Veranstaltung.
Während drei einleitende Arbeiten darauf abzielen, allgemeine (strafvollzugs-, sozial- und begriffs-)geschichtliche Zusammenhänge herzustellen, warten die speziellen Beiträge mit Darstellungen der verschiedenen Formen der Deportation oder Zwangsverschickung in jenen europäischen Ländern auf, die von diesem Strafmittel besonders regen Gebrauch gemacht haben. Das waren neben Italien – dessen einschlägige Geschichte einen breiten Raum im Band einnimmt – namentlich Frankreich und Belgien. In Deutschland hingegen ist dieses Thema – wie an einem entsprechenden Beitrag Schlossers abzulesen ist – nie über einen kriminalpolitischen Diskursgegenstand um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hinausgelangt. Indessen hat es Walter Müller-Seidel in seiner eindrucksvollen Studie über Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ (Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung In der Strafkolonie im europäischen Kontext, 1986) in einen rechts- und literaturgeschichtlichen europäischen Kontext gerückt – der freilich auch jene Form der Zwangsverschickung einschließt, wie sie im zaristischen Russland und in der Sowjetunion in freilich unterschiedlicher Weise praktiziert worden ist. Diese Formen der Deportation waren ebenso wenig Gegenstand des Kongresses wie die englische, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach Australien eingesetzt hat.
Schon diese Beispiele lassen erkennen, dass scheinbar eindeutige Ausdrücke wie „Strafkolonien“ und „Deportation“ im Grunde Sammelbegriffe verkörpern, unter denen sich recht unterschiedliche Sanktionsarten und Zweckbestimmungen verbergen. Darauf weisen denn auch die einleitenden Analysen von Guido Neppi Modona, Anna Capelli und Carlos Petit hin. Wenn es eine Gemeinsamkeit der verschiedenen historischen Formen der Zwangsverschickung gibt, liegt sie den Autoren zufolge im Scheitern solcher Zwangsmittel. Das gilt jedenfalls gemessen am Zweck, der damit jeweils verfolgt worden ist – ob die Unterbringung in Strafkolonien nun der sozialen (Wieder-)Eingliederung von Straftätern in Gestalt sinnvoller Beschäftigung, der Humanisierung des Freiheitsentzugs, der Lösung des Problems der Gefängnisarbeit, der Entlastung von Strafanstalten oder der Urbarmachung brachliegender oder sumpfiger Ländereien gedient hat. Das negative Gesamtbild, das hiernach die europäischen Strafkolonien im 19. Jahrhundert geboten haben, wird namentlich an der Feststellung Modonas deutlich, mit der er den kriminalpolitischen Ertrag der bisherigen einschlägigen Forschung zusammenfasst: „Die auch für die Zukunft brauchbare Lehre, die aus dieser unglücklichen und barbarischen historischen Erfahrung gewonnen werden kann, besteht darin, dass Alternativen zur Freiheitsstrafe im Bereich des Strafvollzuges, d. h. in den Voraussetzungen des Strafensystems selbst, gesucht werden müssen, indem Sanktionsmodelle entwickelt werden, die sich ganz vom Freiheitsentzug lösen. Solange das Gefängnis weiterhin der Bezugspunkt aller möglichen Alternativsanktionen bleibt, ist – wie die historische Erfahrung lehrt – die Gefahr, in äußerst grausame und unmenschliche Formen des Strafvollzuges zu verfallen, überaus groß.“ (S. 6)
Die unterschiedlichen Formen, die unter den Oberbegriffen Deportation und Zwangsverschickung im 19. Jahrhundert entwickelt worden sind, treten vor allem bei einem Vergleich der italienischen und französischen Modelle hervor. In Italien gab es Bestrebungen, durch Errichtung ländlicher Strafkolonien Verurteilte, die Bauern waren oder aus ländlichen Gegenden stammten, namentlich mit Arbeiten zu beschäftigen, die sie nach ihrer Strafverbüßung ohnehin verrichten würden. Freilich wurde das Ziel der Wiedereingliederung in Form sinnvoller Tätigkeit letztlich doch durch andere Zwecksetzungen überlagert, wenn nicht gar verdrängt. So ging es auch oder sogar vorrangig darum, bessere Erträge, als sie die Gefängnisarbeit bot, zu erzielen, den Strafvollzug angesichts seiner baulichen Defizite und Überbelegung zu entlasten oder malariaverseuchte Gebiete urbar zu machen. Die Folgen dieser Entwicklung mussten – wie etwa katastrophale Unterbringungsbedingungen sowie überproportional hohe Sterblichkeits- und Krankheitsraten zeigten – vor allem die Verurteilten tragen. Das wird am Beitrag von Monica Calzolari und Mario Da Passano deutlich, der das Experiment der Kolonie „Tre Fontane“ in der Nähe Roms zum Gegenstand hat. Die in dem sumpfigen und gesundheitsgefährdenden Gebiet nach dem Vorbild einer älteren Einrichtung 1880 eingeführte Zwangsarbeit musste bereits 1895 nicht zuletzt wegen der hygienischen Missstände wieder eingestellt werden. Nicht anders war es um die Lebensbedingungen der Verurteilten und Gefangenenaufseher in den 1880er und 1890er Jahren auf Castiadis in Sardinien bestellt, wie Franca Mele in ihrem Beitrag über die verschiedenen Kolonien der „Sträflingsinsel“ darlegt. Auch dort fielen viele Verurteilte der Malaria zum Opfer.
Eine besondere „italienische Spezialität“ bildeten Daniela Fozzi zufolge die sog. Zwangskolonie, die im dortigen Königreich erstmals 1863 als „Kampfmaßnahme gegen das süditalienische Brigantentum“ eingeführt wurde (S. 192), um dann 1865 in eine Maßnahme der öffentlichen Sicherheit gegen politisch als gefährlich eingeschätzte Personen ausgestaltet zu werden. Den Betroffenen wurde ein Wohnsitz zugewiesen, an dem sie sich für einen bestimmten Zeitraum unter Aufsicht aufhalten mussten. 1926 wurde die Maßnahme – die ohne rechtliche Garantien, namentlich ohne gerichtliche Entscheidung, lediglich auf Grund eines Verdachts behördlich angeordnet wurde und sich letztlich als ein Mittel der politischen Unterdrückung erwies – unter der Herrschaft des Faschismus in die Verbannung umgewandelt. Die Unterbringung in den Zwangskolonien selbst war mit einer Fülle von Verpflichtungen – nicht zuletzt zur Arbeit – für den Eingewiesenen verbunden. Sie wurde durch Verordnung 1881 näher geregelt. Es gab eine wechselnde Vielzahl von Orten im Königreich, an denen solche Zwangskolonien errichtet wurden. Obgleich die Maßnahme auch wegen miserabler Lebensbedingungen der dort Eingewiesenen immer wieder in öffentliche Kritik geriet, wurde sie über die Jahrhundertwende hinaus angewendet. Sie diente freilich nur in der Theorie der öffentlichen Sicherheit. In der Praxis erwies sie sich als eine Strafe, die an gefährlich erscheinenden Personen unter vielfach unmenschlichen Bedingungen vollzogen wurde. Der von der Autorin wiedergegebene Bericht des Anarchisten Francesco Pezzi bildet ein eindrucksvolles Dokument jener gleichsam institutionell geronnenen Inhumanität (S. 260 f.).
Die französische Entwicklung verlief demgegenüber grundlegend anders. Auf der einen Seite führte – wie Jacques-Guy Petit in seinem geschichtlich weit ausholenden Beitrag darlegt – das Scheitern der Strafvollzugsreform im Sinne der Zellenhaft zur „Ideologie der Strafkolonisierung“ in überseeischen Gebieten, namentlich in Guayana. Diese Form der Deportation fand erst 1938 ihr Ende. Auch sie forderte auf Grund unmenschlicher Lebensbedingungen zahlreiche Opfer. Nach den Berechnungen Petits starben von ca. 100 000 Zwangsarbeitern „Zehntausende im Exil, durchschnittlich also fünf- bis zehnmal so viele wie in der freien Bevölkerung“ (S. 40). Auf der anderen Seite standen Eric Pierre zufolge die französischen Agrarkolonien seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg im Mittelpunkt der Zwangserziehung jugendlicher Delinquenter. Bei ihrer Errichtung orientierte man sich an ausländischen Vorbildern, vor allem am niederländischen Modell der Strafkolonien. Man erhoffte sich von der Beschäftigung mit Landarbeit und der Berührung mit der Natur heilsamen Einfluss auf jugendliche Straftäter. Zugleich erblickte man in dieser Einrichtung eine positive Alternative zur viel kritisierten Zellenhaft. Auf einen langen, überaus schwierigen Entstehungsprozess folgte eine kurze Blütezeit. Erst 1850 wurden die Agrarkolonien, die der moralischen, beruflichen und religiösen Erziehung dienen sollten, gesetzlich anerkannt. In diesem „Goldenen Zeitalter“ zwischen 1851 und 1856 wurden zehn Kolonien eröffnet. Doch gerieten sie alsbald in die Kritik. Sowohl die allgemeinen Lebensbedingungen als auch der erzieherische Umgang mit den Jugendlichen wurden als unzulänglich befunden. Die Agrarkolonien wurden schließlich als Quelle der Rückfallkriminalität ausgemacht. Von 1912 an traten daher andere Arten der Erziehung delinquenter Jugendlicher in den Vordergrund.
In Belgien entstanden nach dem Beitrag Marie-Sylvie Dupont-Bouchats im 19. Jahrhundert zwei Haftsysteme für minderjährige Straffällige. Das eine Konzept orientierte sich am Strafgedanken, das andere an der sozialen Idee der Erziehung. Das Strafmodell, das nicht zuletzt dazu diente, Jugendliche von Erwachsenen zu trennen, wurde in Gestalt der 1840 eröffneten Strafanstalt St. Hubert verwirklicht. In die ländliche Reformschule, die sog. Agrarkolonien, sollten nicht verurteilte, aber erziehungsbedürftige Jugendliche eingewiesen werden. Jedoch waren beide Formen pädagogischer Einwirkung nicht in der Lage, dem Rückfall wirksam vorzubeugen. An ihre Stelle trat deshalb 1890 die sog. Wohlfahrtsschule, die auf einem einheitlichen Konzept der Erziehung sowie des Schutzes gefährdeter und delinquenter Jugendlicher fußte und den Abschied vom Strafgedanken bedeutete. Die Autorin konstatiert freilich auf Grund der neuesten Entwicklung – keineswegs nur in Belgien – eine Rückkehr zur repressiven Orientierung auch gegenüber straffälligen Jugendlichen.
Der überaus informationshaltige und materialreiche Band vermittelt wichtige Einblicke in ein bisher wenig bekanntes Kapitel der europäischen Strafvollzugsgeschichte. Seine Beiträge verweisen einmal mehr auf Zusammenhänge mit der historischen Entwicklung der staatlichen Kriminalitätskontrolle sowie der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Ganzen. Sie können jenseits ihres strafvollzugs– und kriminalpolitischen Ertrags - ganz im Sinne Mario Da Passanos – zugleich als Aufforderung an die rechtsgeschichtliche Forschung verstanden werden, dem so folgenreichen Phänomen der Strafvollzugskolonien vermehrte Aufmerksamkeit zu widmen.
Saarbrücken
Heinz Müller-Dietz