Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung. Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie, hg. v. Hilgendorf, Eric/Weitzel, Jürgen (= Schriften zum Strafrecht 189). Duncker & Humblot, Berlin 2007. 255 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.
Im Wintersemester 2005/2006 veranstaltete die Würzburger juristische Fakultät eine Ringvorlesung mit der im Titel des hier besprochenen Buches angegebenen Thematik. Bis auf drei Vorträge (Jerouschek, Naucke, Koch) wurde die 13teilige Ringvorlesung ausschließlich von Würzburger Referenten bestritten. Das zeitliche Spektrum der Vorträge reichte vom römischen Recht bis zur Gegenwart. Wie dies auch in Geschichtsbüchern üblich und wohl unvermeidlich ist, war die Schwelle zum 19. Jahrhundert bereits beim sechsten Vortrag (über Feuerbach), die zum 20. Jahrhundert beim siebten (über Binding/Liszt) überschritten. Auffällig ist, dass abgesehen von dem Vortrag Laubenthals über die Entwicklung der Kriminalbiologie, der auch die Zeit des Nationalsozialismus umfasste, diese Zeit nicht besonders berücksichtigt wurde.
Der Titel der Vortragsreihe mag suggerieren, dass die dort bezeichnete Problematik sich als roter Faden durch alle Vorträge zog. Dies ist indes nicht der Fall; manche Vorträge, vor allem solche, welche die ältere Zeit behandeln, halten sich zwar explizit oder in der Sache an das Leitthema, andere sind nur durch eine strafrechtliche bzw. strafrechtsgeschichtliche Thematik generisch mit ihm verbunden. Allerdings würde es auch kaum gelingen, 13 Referenten für ein an dieser kurzen thematischen Leine geführtes Unternehmen zu gewinnen. So hat man denn bei der Formulierung der Vortragsthemen offenkundig auf die Interessen und Vorarbeiten der Referenten Rücksicht genommen.
Jan Dirk Harke handelt vom römischen furtum und stellt interessante Verbindungen zwischen materiellem Recht und Prozessrecht und dem Einfluss dieser Verbindungen auf die Ausgestaltung des furtum-Tatbestandes her. – Jürgen Weitzel behandelt die Zeit des frühen Mittelalters und schildert die allmähliche, bis zum 12. Jahrhundert andauernde Entwicklung von Strafgedanke und Strafbegriff, die er anhand der drei kulturellen Traditionen und Kräfte des Germanischen, des Römischen und des Christlichen nachvollzieht. Vor allem die christliche Entwicklung von der Prägung durch eigene Verfolgung im römischen Kaiserreich bis zur siegreichen Durchsetzung der eigenen Lehren – unter Inkorporierung manches Gedankeninhaltes besiegter Ideen – und die Abfärbung dieser Entwicklung auf die Strafvorstellungen der Kirche sind lehrreich. Der Referent schließt sich der neueren Auffassung an, dass der Beitrag der Kirche zur Entwicklung des Strafgedankens als sehr erheblich anzusehen sei (33). – Die Schwellenzeit zwischen Mittelalter und Neuzeit betrachtet Dietmar Willoweit, der nach einem Blick auf methodologische und rezeptionsgeschichtliche Probleme anhand konkreter Fälle die Probleme eines Verständnisses mittelalterlichen Strafens deutlich werden lässt. Sein Hinweis, dass die kirchliche Bußgeldpraxis lange Zeit jedenfalls den großen Bereich der innerfamiliären und häufigen sittlichen Verfehlungen vor dem härteren Zugriff der weltlichen Strafgewalt abgeschirmt habe (57), fügt der im Vortrag Weitzels angesprochen Thematik eine weitere Facette hinzu. – Christiane Birr befasst sich mit dem Strafgedanken in der juristischen Literatur der Frühen Neuzeit und behandelt zuvörderst das vor allem durch Johann von Schwarzenberg bekannt gewordene Begriffspaar „Gerechtigkeit“ und „gemeiner Nutzen“. Dazu geht sie auf die Strafrechtslehre des Aquinaten zurück und zeigt, wie diese sich auf die Entstehung des öffentlichen Strafrechts ausgewirkt hat und wie, je näher man dem 17. Jahrhundert kam, die Zweckidee in Form der Generalprävention der Gerechtigkeitsidee Terrain abgewann – meistens mit der Folge besonders strenger Strafdrohungen und abschreckend grausamer Strafen.
Mit der Schwarzenbergschen Formel ist bereits die Peinliche Gerichtsordnung von 1532 (Carolina) angesprochen. Ihr widmet sich der Vortrag Günter Jerouscheks. Der Referent stellt zunächst die am bekanntesten gebliebenen Institute – Folter und peinliche Strafen – in den legislativen und historischen Zusammenhang; weitere Gesichtspunkte sind der Indizienprozess und die wichtigsten Straftatbestände. Dass aus dem Nebeneinander von Akkusationsprozess und Inquisitionsprozess zunehmend der letztere als Sieger hervorging, hatte eine entsprechende Ausdehnung von dessen Beweisrecht zur Folge. Jerouschek hält fest: „Es kann keinen Zweifel leiden, daß die Folter den hohen Beweisanforderungen des gemeinen Strafprozesses geschuldet war. Wenn nach heutigem Beweisverständnis, das auf die richterliche Überzeugung nach freier Beweiswürdigung rekurriert, eine Beweislage mit einem Augenzeugen und sonstigen Indizien einer Verurteilung nicht entgegenstehen würde, so begründete dieselbe Beweislage nach gemeinrechtlichem Verständnis eben lediglich einen Verdacht. […] Der Verdacht von damals ist also die Verurteilungsgrundlage von heute“. Anders ausgedrückt: Was damals nur Anlass zur Folterung gab, kann heute zur Verurteilung führen. Das Strafprozessrecht ist heute gewiss humaner als damals; liberaler ist es nicht unbedingt. Abschließend geht Jerouschek noch auf die Bambergensis, auf die kriminalsoziologische Lage zur Zeit des Erlasses der Carolina (Stichwort „landschädliche Leute“) und auf die Frage der Autorschaft Schwarzenbergs an der Carolina (die er tendenziell verneint) ein.
Der für eine Vortragsreihe mit dieser Thematik unverzichtbare Vortrag über Paul Johann Anselm Feuerbach ist Wolfgang Naucke übertragen worden, von dem wie von kaum einem anderen eine ebenso kenntnisreiche wie kritische als auch transparente Darlegung der Gedanken dieses folgenreichen deutschen Strafrechtsdenkers (mit dem Prädikat „groß“ ist es bei Juristen ja ein schwierig Ding) zu erwarten war. Er enttäuscht diese Erwartung nicht: Seine Darlegungen lassen den Strafrechtstheoretiker, Strafgesetzgeber und Strafrichter als repräsentativ für die ambivalenten Züge der strafrechtlichen Moderne erkennbar werden; vor allem sein kantianisch verbrämter Abfall von der Kantschen Strafrechtslehre wird deutlich. Als Chronist der „Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts“ hat Naucke besonders feine Antennen für die problematischen Züge der Feuerbachschen Strafrechtslehre, die er im Interesse der Kenntlichmachung des Problems und der Würze des Vortrages stark zuspitzt; Feuerbachs (auch) liberale Züge treten daher bei dieser Gelegenheit eher in den Hintergrund.
Der Vortrag Arndt Kochs behandelt den sog. strafrechtlichen Schulenstreit, der häufig vereinfacht auf die Personen Karl Binding und Franz von Liszt reduziert wird, was allenfalls dem zuletzt Genannten gerecht wird. Ganz richtig tritt Koch der (freilich schon seit einiger Zeit bröckelnden) Auffassung entgegen, in diesem Streit hätten sich liberale und weniger liberale Positionen gegenübergestanden. Dass man von Liszt das Ehrenkleid eines liberalen Strafrechtlers nicht umhängen kann, hat Joachim Vogel auf der Bayreuther Strafrechtslehrertagung 2003 dargetan; und dass Bindings Schrift über die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ keineswegs ein zeit- oder altersbedingter „Ausrutscher“ gewesen ist, hat Wolfgang Naucke kürzlich anlässlich einer Neuherausgabe des Textes nachgewiesen[1].
Mit der Entwicklung der Kriminalbiologie, die Klaus Laubenthal behandelt, wird die Kriminologie und besonders die Kriminalätiologie in den Themenkreis der Vortragsreihe einbezogen. Der Referent zeichnet die Entwicklung der kriminalbiologischen Gedankenwelt seit Lombroso mit ihren Anleihen bei der Darwinschen Evolutionstheorie und bei der Haeckelschen Rekapitulationstheorie nach und schildert sodann die Rezeption in Deutschland, deren verbale Ablehnungen der Lombrososchen Thesen nicht immer beim Wort genommen werden dürfen. Kontinuitätslinien bestehen jedenfalls – wenn auch unterschiedlich ausgeprägt – zu Aschaffenburg, Kretschmer, Stumpfl, Johannes Lange, Viernstein und zu der – in der NS-Zeit radikalisierten – Rassenhygiene. Laubenthal verlängert diese Linie bis in den nationalsozialistischen Genozid. Es hätte noch erwähnt werden können, dass die Kriminalbiologie mit dem Jahr 1945 keineswegs auf den Müllhaufen der Geschichte landete, sondern noch 10 bis 20 Jahre lang ein beachtliches und geachtetes Dasein fristete.
Das bekannte Magdeburger Urteil wegen des Landesverrats-Vorwurfs gegen Reichspräsident Ebert behandelt Günter Spendel und weist überzeugend nach, dass es sich um ein politisch motiviertes Fehlurteil handelt. Der republikanisch-rechtsstaatliche Geist, der Spendels Vortrag durchweht, mutet sympathisch an; der Rezensent erlaubt sich daher auch nur zögernd, zwei Anmerkungen anbringen. Die – nicht erst in Spendels Vortrag zu findende – Auffassung, das Magdeburger Verfahren sei ursächlich für den Tod Eberts gewesen, entspringt wohl doch eher dem Bemühen, dem widerwärtigen Prozessgegner Eberts und seinen nicht weniger unsympathischen Richtern möglichst viel am Zeuge zu flicken und ihnen auch noch den Tod des Reichspräsidenten „anzuhängen“. Man sollte auch hier Augenmaß bewahren: ob ein Mensch sich in ärztliche Behandlung begibt, fällt in den Bereich seiner Selbstverantwortung. Auch hätte bei der bedrohlichen Gesundheitslage des Präsidenten der Prozess auch eine Zeit lang ruhen können. Ob es überdies klug war, gegen die Schmähungen der politischen Rechten mit einer Fülle von Injurienprozessen vorzugehen, mag man sich auch fragen; freilich ist dies aus zeitlicher Distanz schwer zu beurteilen. Bundespräsidenten haben später von der Möglichkeit der Ermächtigung zur Strafverfolgung wegen Verunglimpfung des Staatsoberhauptes so gut wie überhaupt nicht Gebrauch gemacht[2]. Die zweite Anmerkung: Was würde es eigentlich – jedenfalls aus heutiger Sicht – bedeuten, wenn Ebert tatsächlich aktiv an dem Munitionsarbeiterstreik teilgenommen hätte? Hätte er damit zur Kriegsverkürzung beigetragen, so hätten ihm die Mütter und Partnerinnen überlebender Soldaten immerhin dankbar sein können. An dem juristischen Skandal des Magdeburger Urteils ändert dies freilich nichts.
Die deutsche Strafrechtsentwicklung zwischen dem Jahr 1945 und dem Inkrafttreten des zweiten Strafrechtsreformgesetzes 1975 behandelt Franz Zieschang. Nach einer kurzen Darstellung der Entwicklung der Gesetzgebung widmet er einen Besonderen Teil seiner Ausführungen der Untersuchung und Bewertung der reformierten Regelung des Notstandes. Insgesamt beurteilt er die gefundene zweispurige Lösung (§§ 34, 35 StGB) positiv, bemängelt allerdings, dass der Gesetzgeber es versäumt habe, die rechtfertigende Pflichtenkollision und den übergesetzlichen entschuldigenden Notstand zu normieren.
Mit dem Beitrag Eric Hilgendorfs, der die Zeit von 1975 bis 2005 betrachtet, gelangt die Vortragsreihe in den Bereich des juristischen Zeitgeschehens. Hilgendorf gibt eine umfängliche Darstellung der Entwicklung und der Entwicklungstendenzen. Seine Ausführungen sind zwar über weite Strecken vom Verständnis für die mitunter schwierige Lage des Gesetzgebers vor den Herausforderungen der technischen und politischen Entwicklungen getragen, zeichnen aber letztlich doch ein recht düsteres Bild der jüngsten und ein recht pessimistisches Bild der künftigen Strafrechtsentwicklung.
Die letzten beiden Vorträge befassen sich mit grundlegenden Problemen der gegenwärtigen strafrechtspolitischen Diskussion. Brian Valerius prognostiziert die weitere Entwicklung des Verhältnisses von kulturellen Gegensätzen und nationalem Strafrecht – eine Problematik, deren Brisanz sogleich deutlich wird, wenn man an die durch Bevölkerungs- und Wanderungsströme bedingten Konflikte der Gegenwart denkt. Valerius gruppiert die Probleme in intranationale Konflikte („niedrige Beweggründe“ beim Mord) und internationale Konflikte (Distanzdelikte; multiterritoriale Delikte) und bemüht sich abschließend um eine angemessene Begrenzung der im Zusammenhang mit der globalen Informationsgesellschaft ausgreifenden und ausufernden Zuständigkeiten nationaler Strafgerichte. – Hochinteressant und aktuell sind schließlich auch die Ausführungen Winfried Bausbacks, die der Frage nachgehen, ob das Völkerstrafrecht mit seinem Insistieren auf Bestrafung der Täter von Regierungs- und Systemkriminalität und mit seiner Amnestiefeindlichkeit ein Friedenshindernis darstellt. Bausback legt u. a. dar, dass nach einer – freilich umstrittenen – völkerrechtlichen Auffassung wechselseitige Amnestien sogar als stillschweigende Bestandteile von Friedensverträgen anzusehen waren. Er schließt sich der Auffassung an, dass nach heutiger Völkerrechtslage prinzipiell ein Amnestieverbot bestehe, von dem nur in wenigen – materiell wohl als Fälle von Interessenabwägung, also als Notstandsfälle zu charakterisierenden – Ausnahmefällen abgewichen werden könne.
Jede Wissenschaft muss sich von Zeit zu Zeit ihrer Grundlagen und ihrer Geschichte versichern. Für das Strafrecht hat die hier besprochene Vortragsreihe einen beachtlichen Beitrag zu dieser Selbstversicherung erbracht.
Hagen/Westfalen Thomas Vormbaum
[1] Joachim Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht. (Juristische Zeitgeschichte. Kleine Reihe. Band 12). Berlin 2004), S. █; Wolfgang Naucke, Einführung: Rechtstheorie und Staatsverbrechen, in: Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form (zuerst 1920). (Juristische Zeitgeschichte. Taschenbücher. Band 1). Berlin 2006, S. Vff.
[2] S. dazu Andrea Hartmann, Majestätsbeleidigung und Verunglimpfung des Staatsoberhauptes. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 247 ff.