„Das Kind in meinem Leib“. Sittlichkeitsdelikte und Kindsmord in Sachsen-Weimar-Eisenach unter Carl August. Eine Quellenedition 1777-1786, hg. v. Wahl, Volker, mit einem Nachwort von Baerlocher, René Jacques (= Veröffentlichungen aus thüringischen Staatsarchiven 10). Böhlaus Nachfolger, Weimar 2004. XI, 516 S. Ill. Besprochen von Werner Ogris.

Baerlocher, René Jacques, „Das Kind in meinem Leib“. Ein notwendiger Nachtrag zu einer Quellenedition des Thüringischen Hauptstaatsarchivs in Weimar, hg. v. Freundeskreis des Goethe Nationalmuseums e. V..Weimar 2005,16 S. Besprochen von Werner Ogris.

 

Goethe: Einer neuen Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum!

 

Der stattliche Band stellt das Produkt einer Gemeinschaftsarbeit – bei grundsätzlich getrennter wissenschaftlicher Verantwortung – zweier Autoren dar: des Direktors des thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, Volker Wahl, und des Baseler Advokaten René Jacques Baerlocher. Beider Forscher Intentionen waren und sind darauf gerichtet, die vor einiger Zeit (wieder einmal) aufgeflammte Diskussion um Goethes Rolle bei der Verurteilung der Kindsmörderin Johanna Catharina Höhn zum Tode im Jahre 1783 von der bescheidenen Stilhöhe billiger Polemik auf eine quellenmäßig fundierte und daher sachlich korrekte Wissenschaftsebene zu heben. Dies ist, so viel sei bereits hier vorweggenommen, durchaus und in überzeugender Weise gelungen. Doch ist das Buch weit mehr als eine Rechtfertigungsschrift für den „Geheimrat“; es gewährt tiefe und aufschlussreiche Einblicke in die Rechtskultur, vor allem in die Strafrechtspflege jener Zeit.

 

I. 1. Im Zentrum des vom Herausgeber erarbeiteten ersten Teils (Kapitel 1-7) steht – nach einer ausführlichen entwicklungsgeschichtlichen Einführung in Staatsform, Landesadministration und Strafrechtspflege des kleinen Doppel-Fürstentums (S. 3-49) – die Edition von 68 Dokumenten aus den Jahren 1777 bis 1786, die im Wesentlichen um die Probleme Kindsmord und dessen Bestrafung, Verheimlichung unehelicher Schwangerschaften und Abschaffung der Kirchenbuße kreisen (S. 51-142). Eine Faksimile-Edition aller erhaltenen Seiten der „Akte Höhn“ zeigt die einzelnen Verfahrensschritte (S. 143-178). Zu Vergleichszwecken sind einschlägige Gesetzestexte (CCC; Schmidt, Ältere und neuere Gesetze ..., 1799) auszugsweise wiedergegeben (S. 179-195). Es folgen unter der (nicht ganz einleuchtenden) Überschrift „Texte zur Rezeptionsgeschichte“ Darstellungen zur Strafrechtspflege in Sachsen-Weimar-Eisenach bzw. im Großherzogtum Sachsen im Allgemeinen sowie zu Goethes Haltung zu Kindsmord und Todesstrafe im Besonderen (S. 197-255). Hinweise zur Quellenüberlieferung und zur Edition (S. 257-264), ein Glossar der fremdsprachigen (meist lateinischen) oder sonst für heutige Leser nicht ohne weiteres verständlichen Ausdrücke (S. 265-275) sowie Erläuterungen zu den abgedruckten Texten (S. 276-330) beschließen diesen Teil. In Kapitel 9 folgen noch Literatur- und Quellenverzeichnis (S. 505-514).

 

2. Die Dokumenten-Edition, das Kernstück des Bandes, bringt zu Beginn des Regierungsrates (für den Weimarer Landesteil) Christian Gottlob Voigts Beitrag zur Lösung der Preisfrage „Welches sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindermorde Einhalt zu tun?“, die 1780 von Mannheim aus an die Öffentlichkeit ging (S. 51-68). Voigts Ausführungen gaben sozusagen das Leitmotiv für die ganze Thematik ab und haben (wahrscheinlich) auch den Herzog beeinflusst, als es um die Behandlung einzelner Kindsmord-Fälle im Besonderen (Tabelle S. 264) und um eine Korrektur der Strafgerichtsbarkeit bei Sittlichkeitsdelikten im Allgemeinen ging: Johanna Dorothea Kübelstein, 1779 (S. 68-81); Dorothea Altwein 1783 (S. 81-92); Johanna Catharina Höhn 1783 (S.92-110), deren Prozess die Diskussion um die Zweckmäßigkeit der Todesstrafe bei diesem Verbrechen auslöste; Maria (Magdalena) Rost 1783/85 (S. 110-124) und die dadurch ins Rollen gebrachte de facto-Abschaffung der Tortur; Beseitigung der vor allem wegen Fleischesverbrechen verhängten Kirchenbuße 1777-1786 (S. 124-142). Die Aktenstücke (Überlieferung, Editionsgrundsätze, Forschungsergebnis S. 259f.) sind durch Kopfregesten und Zwischentexte hervorragend erklärt. In Verbindung mit den nach Seiten/Zeilen angeordneten Erläuterungen, die Personen, Orte, Gegenstände, Sachverhalte und Vorgänge überaus sachkundig, subtil und akribisch kommentieren und auch die nachfolgenden Reformen des Rechts der außerehelichen Schwängerung und des Kindsmords in Betracht ziehen, ist ein Erschließungsgrad gegeben, den man nur neidlos bewundern kann. Die Edition stellt denn auch eine Fundgrube zu allen einschlägigen Fragen dar und bietet reiche und wertvolle (rechts)historische Einsichten etwa zu geistesgeschichtlichen Einflüssen, Personen, Zuständigkeiten, Aktenlauf, Vollstreckungs- und Gefängniswesen, Gnaden- und Abschiebepraxis – und zu Goethes amtlicher Tätigkeit in diesem Bereich staatlichen Handelns.

 

3. Was Ausstattung, Editionsgrundsätze und sonstige „Äußerlichkeiten“ anlangt, lässt der Band nur wenige Wünsche offen. Ob man z. B. die Gliederung nach Dezimalstellen als der Darstellungsweisheit letzten Schluss ansieht, ist Geschmackssache. Meine Wahl wäre sie nicht, wie denn überhaupt die Anordnung der Kapitel nicht überzeugt und, bei intensiver Lektüre, zu häufigem Hinundherblättern zwingt. In einem der „rezipierten Texte“ (S. 215) findet sich die Wendung Willkomm und Abschied. Dass es sich dabei um eine damals übliche Begrüßung und dann Verabschiedung von Strafgefangenen mit Stockschlägen, Peitschenhieben oder Rutenstreichen handelte, dürfte heute nicht (mehr) allgemein bekannt sein und hätte daher eine Erwähnung im Glossar verdient. Zu bedauern, wenn auch in gewissem Maße zu verstehen ist das Fehlen von Registern; das – zugegebenermaßen – breit gefächerte Inhaltsverzeichnis kann dieses Manko nicht ausgleichen. Dennoch: Im Ganzen eine Ausgabe, die das Prädikat summa cum laude verdient und die in der vorliegenden Form wahrscheinlich nur möglich ist, wenn man unmittelbar an der Quelle sitzt, und zwar in archivalischer Hinsicht wie (wohl auch) in finanzieller.

 

II. 1. Das 8. Kapitel stammt von René J. Baerlocher und nennt sich „Nachwort“, was angesichts eines Umfanges von fast 200 (!) Seiten (S. 331-504) etwas seltsam anmutet. Es handelt sich auch nicht um einen Epilog, sondern um eine engagierte Stellungnahme zu und um eine umfassende Aufbereitung von Goethes Involvierung in den Fall der Kindsmörderin Höhn. Anlass dafür war, wie bereits erwähnt, eine im Vorfeld und aus Anlass des Goethe-Jahres 1999 eskalierende Kontroverse um des Dichterjuristen „Schuld an der Hinrichtung von Johanna Höhn“, die in der Forderung (eines Freiburger Literaturprofessors via BILD-Zeitung an die deutsche Bundesregierung) gipfelte, die Goethe-Institute umzubenennen, da ihr Namenspatron sich 1783 als Beamter einer schweren Menschenrechtsverletzung (sic !) schuldig gemacht hätte. Nun ja ...? Offenbar gibt es auch in Gelehrtenkreisen (gelehrten Kreisen?) nichts, was es nicht gibt! Im Übrigen ist zu diesem Problem das Wesentliche schon von kompetenter Seite im Goethe-Jahrbuch 2004, S. 253-260, gesagt: Günter Jerouschek, Skandal um Goethe? (auch erschienen als: Rechtsgeschichtliche Vorträge 32, Budapest 2005, 12. S.), der auf die Kritik (Rüdiger Scholz [Hg.], Das kurze Leben der Katharina Höhn. Kindsmorde und Kindsmörderinnen im Weimar Carl Augusts und Goethes. Würzburg 2004, 180 S.) ausführlich eingeht und das Gesamtproblem sowie die den Weimarer Geheimrat diskreditierenden wie die ihn verteidigenden Fraktionen einer sachkundigen und ausgewogenen Würdigung unterzieht.

 

2. In der Sache handelt es sich, kurz gesagt, um Folgendes: Einschlägige Beratungen des Geheimen Consilium wie der Weimarer Regierung wurden ausgelöst durch Überlegungen des Herzogs (!), die für Kindsmord angedrohte Todesstrafe durch eine – seiner Auffassung nach – wirksamere Strafe zu ersetzen, etwa durch lebenslangen Kerker mit harter Arbeit und mit periodisch (am Jahrestag des Verbrechens) wiederkehrenden Züchtigungen (Auspeitschen) und Demütigungen (Haarabschneiden, Prangerstehen). Solche Argumente, die lebenslängliches Gefängnis mit den üblichen Verschärfungen zwar nicht für „humaner“, wohl aber für wirksamer hielten als den Tod (zumal bei Verbrechern von ganz gemeiner Denkungsart aus dem niederen Volke), waren damals „modern“. Cesare Beccaria und schon vor ihm der Herold der österreichischen Aufklärung, Josef von Sonnenfels, argumentierten ganz auf dieser Linie; ob aus Überzeugung oder nur im Sinne eines vorgeschobenen Arguments gegen die Todesstrafe, ist schwer zu sagen. Auch die kameralistische Bewertung der Sträflingsarbeit als eines für die Allgemeinheit nützlichen opus publicum dürfte eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls wollte Carl August zu dieser Frage die Meinung seiner Räte hören. Dies und nichts anderes, vor allem auch keine Entscheidung im konkreten Fall, stand im Jahre 1783 an. Während das Verfahren gegen Höhn seinen ordentlichen Lauf nahm (Weimarer Regierung – Jenaer Schöppenstuhl – Weimarer Regierung – Herzog), griff Carl August in der Sitzung des Consilium vom 21. oder vom 24. Oktober seine alte Idee wieder auf und beauftragte die Räte Fritsch, Schnauß und Goethe mit Stellungnahmen. Die beiden ersteren legten ausführliche Gutachten schon am 25. und 26. Oktober vor, worin sie dem herzoglichen Vorschlag, die Todesstrafe durch Haftstrafe mit wiederholten demütigenden und peinigenden Prozeduren zu ersetzen, eine (mehr oder weniger) klare Absage erteilten – freilich mit dem deutlichen Hinweis auf die beim Landesfürsten liegende Möglichkeit der Begnadigung. Goethe erbat am 25. Oktober einige Tage Aufschub und kündigte einen entsprechenden Aufsatz (nicht Votum !) an: Da Serenissimus clementissime regens gnädigst befohlen, daß auch ich meine Gesinnungen über die Bestrafung des Kindermords zu den Akten geben solle, so finde ich mich ohngefähr in dem Falle in welchem sich Herr Hofrath Eckardt befunden als diese Sache bey fürstlicher Regierung cirkulirte. Ich getraue mir nämlich nicht meine Gedanken hierüber in Form eines Voti zu fassen, werde aber nicht ermangeln in wenigen Tagen einen kleinen Aufsatz unterthänig einzureichen.

 

3. Dieser Aufsatz wurde tatsächlich geschrieben, ist jedoch nicht erhalten (oder bislang nicht gefunden worden). Was der Geheimrat zur Sache sagte, ist daher nur aus einer Notiz vom 4. November zu erschließen: Da das Resultat meines unterthänigst eingereichten Aufsatzes mit beyden vorliegenden gründlichen Votis völlig übereinstimmt; so kann ich um so weniger zweifeln selbigen in allen Stücken beyzutreten, und zu erklären daß auch nach meiner Meinung räthlicher seyn mögte die Todtesstrafe beyzubehalten. Goethe votierte also ebenfalls für die Beibehaltung der Todesstrafe, genauer: für die Beibehaltung der gesetzlichen Strafdrohung (!), und lag damit im Großen und Ganzen auf der Linie seiner Amtskollegen. Ob er den einen oder anderen Akzent anders setzte, wissen wir nicht; auch nicht den Grund für seine Bitte um Aufschub (Zeitdruck, Unsicherheit, sachliche Bedenken o. Ä.?). Unklar ist ferner, inwieweit diese Stellungnahmen Carl August beeinflussten, als er das Todesurteil gegen Höhn, das von der Regierung in Weimar und vom Halleschen Schöffenstuhl dem geltenden Recht entsprechend verhängt worden war, bestätigte. Die Hinrichtung erfolgte am 28. November 1783 durch das Schwert. Weder das Urteil noch dessen Exekution lösten in Weimar oder im Ausland irgendwelche Reaktionen aus. Es entsprach schlicht und einfach dem Strafrecht der Zeit. Der Herzog mag durch die besondere Grausamkeit der Tat dazu bewogen worden sein, von einer Begnadigung abzusehen. Dass es auch anders ging, zeigen der Fall Altwein: Todesstrafe (Ertränken, alternativ Schwert), umgewandelt in lebenslängliches Zuchthaus, begnadigt nach 17 Jahren Haft außer Landes (Bayreuth); und der Fall Rost: lebenslängliches Zuchthaus (Weimar), begnadigt nach 5 Jahren.

 

III. 1. Was an diesem Vorgang verwerflich oder gar menschenverachtend gewesen sein soll, ist schwer einzusehen. Weder die den Fall Höhn in concreto entscheidenden Räte der Weimarer Regierung noch die drei die Frage der Todesstrafe bei Kindsmord im Allgemeinen kriminalpolitisch (!) erörternden Geheimen Räte (noch der die letzte Entscheidung treffende Landesherr) haben es sich leicht gemacht. Ein unbefangenes Studium der Akten lässt erkennen, dass sie die Pros und Kontras reiflich erwogen, zeitgenössische Literatur und ausländische Gesetzgebungen ausgiebig zu Vergleichszwecken heranzogen und sich der Problematik in all ihren Facetten durchaus bewusst waren. Vor allem: die Ideen der Aufklärung hatten auch vor Weimar nicht Halt gemacht (wobei dem Herzog in mancherlei Hinsicht Impulsfunktion zukam): Die strafprozessuale Folter wurde zwar nicht formell aufgehoben (was etwa in Bayern erst 1804 geschah), aber de facto nach entsprechenden Reskripten Carl Augusts nicht mehr angewandt. Die Kirchenbuße fiel gegen den hartnäckigen Widerstand der Konsistorien. Für einen radikalen kriminalpolitischen Kurswechsel in der Frage des Kindsmordes hingegen war die Zeit noch nicht reif. Andere deutsche und ausländische Staaten bildeten darin keine Ausnahme; in Preußen etwa stand auf Kindsmord ebenfalls weiterhin die Todesstrafe. Man muss sich eben vor Augen halten, dass die Tötung eines Neugeborenen damals quasi ein „ganz anderes“ Delikt war als heute: Sie galt als todeswürdiges Kapitalverbrechen, als crimen qualificatum, und nicht etwa als privilegierte Straftat. Zwar waren sich alle darin einig, dass eine Reform wünschenswert, ja notwendig wäre; doch käme eine solche erst nach (oder mit) einer entsprechenden Umgestaltung der sozialen Verhältnisse in Betracht. Ähnlich argumentierte Goethe, wenn er sinngemäß in einem Votum von 1792 meinte, dass sich die Todesstrafe von selbst abschaffen würde, wenn es gelänge, die Ursachen und Voraussetzungen von Verbrechen zu beseitigen.

 

2. Es ist das unbestreitbare Verdienst Baerlochers, dass er all dies in extenso ausbreitet, Quellen und Literatur nicht nur heranzieht, sondern auch (in Auszügen) abdruckt – kurz: alle relevanten Fakten und Meinungen zu Wort kommen lässt. Gewiss wird man auch in Hinkunft weiterhin trefflich über die eine oder andere Frage streiten können: Warum Goethe Aufschub erbat; wieso sein Gutachten nicht erhalten/überliefert ist; ob und, wenn ja, in welchem Umfange es des Herzogs Entscheidung im Fall Höhn beeinflusste; ob der Geheimrat damit rechnen konnte oder musste; usw. Aber im Grunde ändert das an der Sache nichts. Eine wahrhaft historische Betrachtungsweise, die Phänomene der Vergangenheit aus ihrer Zeit heraus erklärt (und nicht heutige Vorstellungen tel quel in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückblendet), wird an Goethes amtlichem Wirken nichts entdecken, was ihn als „moralisches Individuum diskreditieren“ und seine Integrität als Mensch und Beamter (!) in Frage stellen würde.

 

3. Wer also lesen will, kann dies in dem vorliegenden Band ausgiebig und mit Gewinn tun. Eine ganz andere Frage allerdings ist es, ob Publikum oder gewisse Goethe-Experten sich dadurch überzeugen lassen. Denn eine leichte Lektüre stellt dieses Nachwort nicht dar. Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätte der Autor in seinem Bestreben, die ewige Krankheit der Auch ich-Legende zu kurieren, des Guten ein wenig zu viel getan. Es kommt zu Wiederholungen, Doppelgleisigkeiten, Verweisungen; sie ergeben sich zwangsläufig aus der Konzeption des Epilogs, setzen aber beim Leser die feste Absicht voraus, sich mit dem Problem ernsthaft, intensiv und vorurteilsfrei zu beschäftigen. Vielleicht wäre daher eine selbständige Publikation zweckmäßiger, wäre weniger mehr gewesen. Vielleicht auch hätte man einzelne Gesichtspunkte stärker unterstreichen sollen –  wie etwa die Tatsache, dass es in dem ganzen Fragenkomplex um Rechtsanwendung und Rechtspolitik durch Beamte (!) geht, die sich ihre Aufgaben (meist) nicht aussuchen konnten (und können), die von Berufs wegen mancherlei Grenzen zu beachten hatten (und haben); und nicht um Dichter, Hochschullehrer (heutigen Zuschnitts) oder Journalisten, die ohne Rücksicht auf geltendes Recht frisch von der Leber weg ihrer Feder freien Lauf lassen können. Doch noch einmal: Wer der Sache um Goethe – Kindsmord – Todesstrafe – Fall Höhn auf den Grund gehen will, hat Akteure, Quellen und Meinungsäußerungen der letzten sieben oder acht Jahrzehnte mit einem Griff zu Hand.

 

4. Zuletzt ein Wort zum Dichterjuristen Goethe. In der Diskussion taucht immer wieder das Argument, eher der Vorwurf auf: Wie könne der Autor der Gretchentragödie als Beamter etwas anderes aussprechen als ein sie ist gerettet? Ich sehe darin keinen Widerspruch, schon gar keine Spaltung der Persönlichkeit oder Ähnliches. Meiner Überzeugung nach ist dieser scheinbare Antagonismus ohne jede Schwierigkeit im Sinne eines Et-et aufzulösen: Der Dichterjurist (wie z. B. auch E. T. A. Hoffmann oder Franz Grillparzer) reitet eben untertags den Amtsschimmel und sattelt des Abends das Dichterross, den Pegasus.

 

Wien                                                                                                  Werner Ogris