Braun, Johann, Einführung in die Rechtsphilosophie. Der Gedanke des Rechts. Mohr (Siebeck), Tübingen 2006. XXIII, 408 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Bisweilen, so schreibt der Verfasser, seit 1988 Universitätsprofessor in Passau für Zivilprozessrecht, bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie, in seinem griffigen Vorwort, konnte es im Hinblick auf das, was auf diesem Gebiet publiziert worden ist, scheinen, als habe die Rechtsphilosophie eine solche Richtung genommen, dass es die meisten Juristen gar nicht bemerkt hätten, wenn der philosophische Betrieb über Nacht eingestellt worden wäre. Übertrieben oder nicht, jedenfalls könne ein solches Missverhältnis im Interesse der Sache nicht hingenommen werden, denn die Rechtsphilosophie sei die Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft überhaupt. Den Grund dafür deutlich zu machen, sei sein wichtigstes Motiv für dieses vielen Vorgängern verpflichtete Buch.
Dazu komme, dass sich die meisten Werke des bereits Gedachten durch eine mehr oder weniger ausführliche Geschichte der Rechtsphilosophie zu vergewissern suchten. Dabei sei allzu viel von Vergangenem die Rede und erwecke die Behauptung, diese Vergangenheit sei für die Gegenwart noch bedeutsam, leicht den Eindruck leerer Rhetorik. Deswegen wolle er in Abkehr hiervon den bereits bekannten Stoff mit bisher unbekannten Fragen konfrontieren und dadurch der Geschichte ihren ungeschichtlichen Gehalt vindizieren und so die in verschiedener geschichtlicher Einkleidung regelmäßig wiederkehrenden inneren Strukturen des rechtlichen Denkens sachlich auf den Begriff bringen.
Außerdem habe Rechtsphilosophie nur als Lehrbuch eine Wahrnehmungschance im akademischen Betrieb. Wenn ein Student zusätzlich zu den zahlreichen und mittlerweile meist bereits von Professoren verfassten juristischen Repetitorien, mit denen er sich für die diversen Prüfungen munitioniere, noch ein philosophisches Buch in die Hand nehmen solle, müsse es lehrbuchartig aussehen und bereits äußerlich den Eindruck erwecken, dass es, geordnet nach Kapiteln und Paragraphen, ebenfalls nützlichen Wissens- und Prüfungsstoff enthalte, den man schwarz auf weiß nach Hause tragen könne. Da die Werke vieler rechtsphilosophischer Klassiker – namentlich der deutschen – von solcher Widerspenstigkeit seien, dass sie sich dem Leser erst nach längerem Studium allmählich erschlössen, seien in einem Lehrbuch die behandelten Autoren soweit wie möglich (in ihrer oder trotz Widerspenstigkeit?) unmittelbar selbst zum Sprechen zu bringen.
Leitgedanke des Werkes sei, dass das Recht nicht nur nach äußeren Gesichtspunkten klassifiziert und geordnet werden könne, sondern dass auch sein innerer Gehalt unterschiedliche Sinnmuster erfasse, welche die äußeren Formen auf je eigene Art mit Leben erfüllten. Denke man sich die Lektüre als eine Art Bergwanderung in die Regionen des Rechtsdenkens, so erfolge in diesem Werk im ersten Teil ein steiler Anstieg bis zu der Höhe, die man erreicht haben müsse, um das Folgende zu verstehen. Im zweiten Teil gehe es über das Hochplateau des utopischen Rechtsdenkens und bergwärts in dünnere Luft über das rationalistische Rechtsdenken zur Höhenregion des institutionellen Rechtsdenkens, von wo aus der Blick ungehindert über die Welt unten im Tale schweife und auf Einsichten und Aussichten stoße, von denen die unten nichts wissen noch ahnen, von wo aus man über den Schlussteil dann aber rasch in die juristische Alltagswelt absteigen könne, die danach mancher vielleicht mit ganz anderen Augen wahrnehmen werde.
Konkret stellt der erste Teil die Frage nach der Gerechtigkeit und erklärt zunächst, was heißt und wozu studiert man Rechtsphilosophie? Der Verfasser sieht dabei den Gegenstand der Rechtsphilosophie im Vordenken und Nachdenken und in der Suche nach einem Maßstab des Maßstabs. Im Rahmen der Geschichte der universitären Rechtsphilosophie beginnt er vielleicht eher unerwartet mit dem Ende der klassischen, dem 16. bis 19. Jahrhundert zugewiesenen Rechtsphilosophie, um dann die Bildungsreformen des 19. Jahrhunderts und die Ausdifferenzierung von Recht und Rechtswissenschaft zu betrachten und sich der Legitimation der Juristenphilosophie zu widmen.
Unter Gewissheitsverlusten der neueren Rechtsphilosophie behandelt er den Siegeszug des Historismus (Rechtsphilosophie als Geschichte der Rechtsphilosophie), die Formalisierung der Rechtsetzung (Gesetzespositivimus, Verfahrensgerechtigkeit, Rechtsrelativismus), den logischen Empirismus (Reduktion auf das von allen Beobachtbare, analytische Philosophie, Rechtstheorie und Rechtslogik) und die Erosion der klassischen Rechtsdogmatik (Textanwendung, Freirechtsschule, Generalklauseln, Wiederkehr des Naturrechts, Positivierung überpositiver Werte in der Verfassung, Wendung zur Methodenlehre). Unter Phänomenologie des Rechtsdenkens geht er auf die innere Struktur des Rechts (Aspekte der Gerechtigkeit, Archetypen des Rechts [gemachtes und gewordenes Recht, kollektive und individualistische Legitimationsmuster, utopisches Rechtsdenken, rationalistisches Rechtsdenken, institutionelles Rechtsdenken, Abstraktion historischer Sinnzusammenhänge, Betonung struktureller Zusammenhänge]) und das Projekt der Moderne (1500 als Zeitenwende, Säkularisierung des Rechts, Entstehung des Staates, Entdeckung des Subjekts) ein. Mit dieser Schulung ist das Ausgangsniveau der eigentlichen Bergwanderung erreicht.
Der zweite Teil (Strukturen des Rechtsdenkens im Wandel) beginnt mit dem utopischen Rechtsdenken und bezieht dazu Thomas Morus (1478-1535), Tommaso Campanella (1568-1639), Gerrard Winstanley 1609-1676), Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), den Marxismus und den Nationalsozialismus ein und legt danach die Wandlungen des utopischen Rechtsdenkens offen. Das rationalistische Rechtsdenken setzt bei Niccolò Machiavelli (1469-1527) ein und schreitet über Thomas Hobbes (1588-1679), John Locke (1632-1704), Jean Jacques Rousseau (1712-1778), Immanuel Kant (1724-1804), Hans Kelsen (1881-1973) bis zu John Rawls (1921-2002) fort. Das institutionelle Rechtsdenken vertreten Hugo Grotius (1583-1654), Samuel Pufendorf (1632-1694), Christian Wolff (1679-1754), (Charles de) Montesquieu (1689-1755), die historische Rechtsschule, Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) und nach einer längeren Pause Niklas Luhmann (1927-1998).
Unter Rechtsidee und Rechtswirklichkeit wendet sich der Verfasser absteigend in die Niederungen der Dialektik des Rechts, der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft zu. Wer alle diesbezüglichen Fragen und Antworten gelernt und verstanden haben wird, wird ein anderer und wahrscheinlich besserer Jurist sein, als derjenige, der sich nie mit dem Gegenstand der Rechtsphilosophie befasst hat. In diesem Sinne verdient das durch ein einfaches, etwa 400 Persönlichkeiten einschließendes Personenregister (von Abälard über Aristoteles, Braun, Dürer, Ebel, Höhn, Hugo, Livius, Orwell, Repgow, Rüthers, Tacitus, Wieacker, Wilhelm I. und Zedong bis Zitelmann) beendete Werk möglichst viele von ihm angesprochene Leser mit Sinn für und Wunsch nach philosophischem Einblick, Überblick und Durchblick.
Innsbruck Gerhard Köbler