Braun,
Alexandra, Giudici e Accademia
nell’esperienza inglese. Storia di un dialogo
(= Istituto Italiano di Scienze
Umane, Studi). Il Muliono, Bologna 2006. 560 S. Besprochen von Filippo Ranieri.
Die Verfasserin dieser Monographie ist eine italienische Juristin, die zugleich auf dem Gebiet der Rechtsvergleichung und der Rechtsgeschichte tätig ist. Sie war zunächst Forscherin im Rahmen eines Postdoktorandenstudiums im italienischen „Istituto di Scienze Umane“ und ist z. Zt. in „Juniorresearch-Fellowship“ am St. John’s College an der Universität Oxford. Die hier präsentierte Untersuchung hat bereits eine sehr positive Aufnahme im anglo-amerikanischen Bereich erfahren (siehe die lobenden Worte von A. Patrick Glenn, in: The American Journal of the Comparative Law, Bd. 55, 2007, S. 197ff., insb. S. 199ff.). Im Zentrum der Darstellung und des wissenschaftlichen Interesses der Verfasserin steht nicht die englische „Doktrin“, sondern vielmehr die akademische Welt der englischen Juristen, und hier insbesondere deren Beziehung und dialogische Auseinandersetzung mit den englischen Gerichten. Das Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste, größere Abschnitt ist der „Dottrina in Inghilterra“ gewidmet. Im Vordergrund steht allerdings, wie bereits erwähnt, vielmehr die Rolle der Universität in der historischen Entstehung des Common law. Ein erstes Kapitel (S. 23ff.) gilt insoweit der Ausbildung des englischen juristischen Personals zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert. Die gesamte Darstellung ist auf das Ende dieser historischen Phase in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ausgerichtet. Insgesamt bestätigt die Verfasserin die relative Universitätsferne des englischen Rechts, geradezu typisch für das historische common law dieser Jahrhunderte. Eine juristische Ausbildung existierte zwar zweifelsfrei, etwa in Cambridge, bereits im Mittelalter, jedoch zentriert um das römische und um das kanonische Recht. Das Personal der Gerichte von common law wurde eigentlich innerhalb der Zunft der Inns of Courts erzogen, wie Lehrlinge in einem Handwerk. Die praktische Ausbildung verband sich hier insoweit mit der Traditionspflege der Zunft. Diese Universitätsferne erklärt auch die relative Armut an Autoren und juristischen Schriftstellern im englischen Recht des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Ausnahmen, die mit den Namen von Bracton, Littleton, Fortescue, St. German, Coke, Hale und schließlich Blackstone verbunden sind, haben gerade wegen dieser relativ armen literarischen Tradition in der Geschichte des englischen Rechts eine kanonisierte Stellung erlangt (S. 150). Die commentaries von Blackstone im Jahre 1765 und die Schaffung dessen Vinerian chair an der Universität Oxford indizierten in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine gewisse Tendenzänderung. Die Nachfolger Blackstones blieben jedoch weitgehend unbekannt und betrachteten diesen Lehrstuhl eher als eine Pfründe (S. 75). Erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden juristische Lehrstühle nach deutschem Vorbild am Londoner University College und am King’s College errichtet. Das zweite Kapitel ist gerade der langsamen Bildung eines juristischen akademischen Milieus in England seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewidmet (S. 91ff.). Die Entwicklung verläuft keinesfalls einheitlich und linear. Der Widerstand des akademischen Körpergeists in Oxford und in Cambridge ist beträchtlich, und die Anfänge gestalten sich im Allgemeinen recht mühsam. Erst nach 1846 und der Stellungnahme des Select Committee on Legal Education beginnt eine akademische Juristenausbildung in England, die diesen Namen im eigentlichen Sinne verdient. Aus universitätshistorischer Sicht ist hier erwähnenswert, dass bei den damaligen Reformvorschlägen als primäres Vorbild die preußische Universität und vor allem die Berliner Neugründung von 1810 dienten (S. 95ff. mit lesenswerten Hinweisen). Die tatsächliche Durchsetzung des Modells einer akademischen universitären Juristenausbildung in der englischen Juristenwelt brauchte allerdings einige Generationen. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts (S. 129ff.) erteilten das University College und das King’s College in London relativ wenige Abschlussdiplome an Juristen. Lord Denning, einer der bekanntesten englischen Richter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat an der Universität immerhin Mathematik und nicht Jura studiert. Erst nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, beobachtet man hier eine wesentliche Veränderung. So wächst die Zahl der Studenten von einigen Hundert in den 20er und 30er Jahren auf ca. 3.000-4.000 in den 60ern bis auf die 12.000 Jurastudenten während der 90er Jahre. Heute sind es etwa 90 Universitäten, die einen „Bachelor of Law“ anbieten, wobei allerdings die Qualität und das Ansehen der Studienorte und der Studienabschlüsse ganz wesentlich divergieren. Auch heute ist allerdings ein Rechtsstudium an einer Universität noch keine formale und unverzichtbare Voraussetzung für die Zulassung zur Aufnahmeprüfung für die unmittelbare Anwaltsausbildung. Eine ähnliche Entwicklung beobachtet man bei der englischen Richterschaft (S. 132ff.). Erst nach dem Ersten und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg beobachtet man eine beträchtliche Anzahl von Richtern, die in ihrer beruflichen Ausbildung ein Law Degree vorzeigen können. Das dritte und das vierte Kapitel des ersten Teils sind gerade dieser literarischen Entwicklung und den damit verbundenen Veränderungen in der englischen Rechtskultur gewidmet. Nach einer kurzen Beschreibung des englischen juristischen Schrifttums am Anfang des 18. Jahrhunderts (S. 147ff.) widmet sich die Verfasserin den commentaries von William Blackstone (S. 152ff.). Mit diesem Werk findet in der Tat im englischen Recht die Literaturgattung des Lehrbuchs und der systematischen Darstellung des Rechtsstoffes Aufnahme. Die Notwendigkeit, die prozessual entwickelten Regeln des historischen Common law in systematischer Weise darzustellen und ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch zu lehren, führt zu einer inneren Strukturveränderung in der Darstellung des englischen Rechts. Die prozessualen Formen werden zunehmend durch eine systematische Präsentation des Stoffes, in der die kontinental-naturrechtliche und die französische und deutsche juristische Lehrbuchliteratur einen nicht unbeträchtlichen Einfluss ausüben, ersetzt. Dieser Aspekt der Modernisierung und der Veränderung des englischen law of contract und law of torts während des 19. Jahrhunderts ist in den vergangenen Jahrzehnten in der englischen Literatur umfassend analysiert und dargestellt worden. Hier konnte sich die Verfasserin deshalb bereits auf ein umfangreiches Schrifttum stützen.
Der zweite, große Teil der Untersuchung ist der Kommunikation und den kulturellen Verbindungen zwischen englischer Richterschaft und akademischen Juristen, besonders heute, gewidmet (S. 235ff.). Ausgangspunkt der Analyse ist hier die Literaturgattung der „books of authority“ und ihre Handhabung in den richterlichen „opinions“. So ist ein ganzes Kapitel (Kap. 6, S. 269ff.) der „convention against the citation of living authors“ gewidmet. Ob diese Regel heute eingehalten wird, scheint allerdings mehr als fraglich zu sein. Im 19. Jahrhundert blieben die Verweise auf juristische Werke noch sehr formal, und sie waren im Wesentlichen auf die klassischen „Books of authority“ beschränkt. Die Freiheit des englischen Richters war allerdings schon damals mehr als beträchtlich. Ich erwähne hier nur die Persönlichkeit von Lord Blackbourne, welche die englische Rechtsprechung Mitte des 19. Jahrhunderts dominiert hat. Leider geht die Verfasserin auf diese Richterpersönlichkeit, die das englische common law in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich geprägt hat, nicht im Einzelnen ein. In einer Vielzahl berühmter Entscheidungen zeigt Lord Blackbourne nämlich durch Zitate von Poitiers oder aus den Römischen Quellen seine wissenschaftliche Kultur, die auch das civil law im Wesentlichen miterfasste. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich nach den Beobachtungen der Verfasserin die Haltung der englischen Richter der akademischen Welt gegenüber wesentlich verändert. Man beobachtet einen wachsenden Respekt des Richters der akademischen Literatur gegenüber und eine wachsende Bereitschaft, auch lebende Autoren, die universitätsverankert sind, zu zitieren. Auch Zitiertechnik und Zitierstil scheinen sich verändert zu haben. Der Universitätsjurist und der Universitätslehrer haben heute zugleich ein größeres Selbstbewusstsein der Praxis gegenüber entwickelt (S. 357ff.). Die akademische Universitätsliteratur begleitet heute selbstbewusst die Rechtsprechung, kommentiert diese und liefert Deutungsmuster und Ordnungsmodelle für das aktuelle case law. Der Universitätsjurist entdeckt zugleich zunehmend seinen Einfluss auch und vor allem bei der Entwicklung von neuen Lösungen und bei der Entdeckung von noch ungelösten Problemstellungen. Der Rezensent möchte hier hinzufügen, dass das heutige englische Rechtssystem sich dem kontinentalen wesentlich angenähert hat und insbesondere an bestimmte strukturelle Charakterzüge des französischen Rechts erinnert. Dieses ist, trotz der legalistischen Gesinnung der französischen Juristen bis heute, inzwischen nämlich zu einem System von Präjudizien des Kassationsgerichts mutiert. Am Ende der Untersuchung bietet die Verfasserin einige Beispiele zur Konkretisierung der bisherigen Analyse. So wird das Recht des „law of restitution“ (S. 395ff.), und hier insbesondere die Entwicklung der unterschiedlichen restitutorischen Ansprüche im heutigen englischen common law, als Beispiel einer gelungenen Verbindung zwischen Praxis und wissenschaftlichem Einfluss präsentiert. Ausführungen werden auch dem Strafrecht, und hier insbesondere der wachsenden Bedeutung kriminologischer Studien im englischen Straf- und Strafverfahrensrecht, gemacht (S. 426ff.). Der letzte, dritte Teil fasst die wesentlichen Ergebnisse der ganzen Untersuchung zusammen.
Das Buch bietet eine Fundgrube interessanter und beachtenswerter Beobachtungen zum englischen common law in Geschichte und Gegenwart. Der Rezensent hat aus der Lektüre sehr viel gelernt und in vielfacher Hinsicht manche Vorurteile zu gewissen Aspekten des englischen Rechts revidieren müssen. Die Dokumentation und die Zitierkultur der Verfasserin sind vorbildlich. Eine präzise und vollständige Bibliographie ermöglicht es, problemlos alle Zitate nachzuschlagen und gegebenenfalls zu kontrollieren. Ein Register sämtlicher zitierten Entscheidungen ist nach anglo-amerikanischem Vorbild dem Buch als Annex angeschlossen, ebenso ein sorgfältig redigiertes Personen- und Sachregister. Auch in äußerer Hinsicht ist die vorliegende Monographie insoweit vorbildlich. Das Werk verdient zudem auf jeden Fall eine englische Übersetzung. Der Rezensent ist überzeugt, dass dadurch die wissenschaftshistorische Leistung der Verfasserin auch im anglo-amerikanischen Bereich noch mehr Beachtung finden würde.
Saarbrücken Filippo Ranieri