Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes kam es darauf an, die unter diesem Regime deformierte Justiz wieder aufzubauen und den Wildwuchs, der in den ersten Nachkriegsjahren entstanden war, zu ordnen. Zugleich aber wurde von namhaften Juristen, die den Niedergang der Justiz in der NS-Zeit analysierten, eine Erneuerung der Rechtspflege an Haupt und Gliedern gefordert. Die Stunde erschien günstig. Dennoch konnte der damalige Bundesjustizminister Neumayer erst 1952 die Bildung einer Kommission zur Vorbereitung einer Reform der Zivilgerichtsbarkeit bekannt geben. Die Kommission schloss ihre Beratungen im April 1961 ab. Der von ihr vorgelegte Bericht, der im selben Jahr veröffentlicht wurde, enthielt die Absage an die große Juristenreform, die nur von einer Minderheit der Kommission befürwortet wurde. Die Mehrheit sprach sich für „revolutionäre Schritte" in der Gerichtsverfassung und im Verfahrensrecht aus. Unveröffentlicht blieben damals die 35 Sitzungsprotokolle und die Referate und Koreferate zu den einzelnen Beratungsgegenständen. Nunmehr schließt die Kieler Dissertation André Books diese Lücke. Diese Arbeit gibt eine umfassende Darstellung und Auswertung der Kommissionsberatungen unter Einbeziehung der vorausgegangenen Reformbestrebungen.
Die Arbeit verdient Lob. Der erste Teil liefert den historischen Rahmen durch eine geraffte Darstellung der Reformbestrebungen ab 1906 und die davon beeinflussten Entwicklungen der Zivilgerichtsbarkeit bis 1955.Der zweite Teil gilt der Einsetzung und Zusammensetzung der Reformkommission von 1955 durch den Bundesminister der Justiz.
Dem folgt als dritter Teil eine eingehende Darstellung der Beratungen der Kommission (1955-1961). Hier findet man die Referate der Kommissionsmitglieder, (z. B. von Weinkauff, Coing, Heusinger, Gerner, Hornig, Baur, Bleibtreu, Hans Merkel, Wiecorek). Manche Vorschläge, die damals heftig diskutiert wurden (wie z. B. die Einführung einer Friedensgerichtsbarkeit, von Richtergehilfen und von Rechtspflegeämtern als Vorstufe zu den Gerichten) spielen heute keine Rolle mehr, viele aber sind nach wie vor im Gespräch.
Neben den beschlossenen Leitsätzen und Empfehlungen der Kommission werden - im Anhang - auch die unveröffentlichten Leitsätze zu den einzelnen Arbeitsabschnitten wiedergegeben. Wie sehr die Beratungen vom Bewusstsein des demokratischen Neuanfangs nach den moralischen Verwüstungen der NS-Zeit getragen waren, zeigen die Erörterungen über die angestrebte Gewinnung eindrucksvoller Richterpersönlichkeiten, von denen man sich viel versprach. Dabei wurde z. B. gefordert, dass die juristische Ausbildung stärker auf die ethischen und philosophischen Grundlagen des Rechts ausgerichtet und dass die Massen des Rechtsstoffes eingeschränkt werden sollten. Streitentscheidender Richter sollte man erst mit 35 oder 40 Jahren werden, nachdem man zuvor Erfahrungen im Rechtsleben gesammelt hat, und die Richter sollten entbeamtet (!) werden.
Das Scheitern der Vertreter der großen Justizreform in der Kommission ergab sich aus der Schärfe, mit der die Auffassungen der Befürworter und der Gegner der großen Juristenreform aufeinander prallten. Schließlich verließ Weinkauff, mit der entschiedenste Verfechter einer großen Justizreform die Kommission und sein Mitstreiter Coing nahm nicht mehr an den Sitzungen teil.
Die Mehrheit der Kommission einigte sich auf zurückhaltende Reformvorschläge. Einige der im Oktober 1961 veröffentlichten 140 Thesen (=Empfehlungen) flossen in die alsbald einsetzende Novellengesetzgebung ein, die Schritt für Schritt den Zivilprozess so umgestaltete, dass heute kein Bedarf an einer großen Justizreform mehr besteht. Die Zukunft gehört dem Fortgang der Novellengesetzgebung.
Goslar Rudolf Wassermann