Biggeleben, Christof, Das „Bollwerk des Bürgertums“. Die Berliner Kaufmannschaft 1870-1920 (= Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Schriftenreihe 17). Beck, München 2006. 464 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Wer sich mit der preußischen und deutschen Rechts- und Gesetzgebungsgeschichte befasst, wird immer wieder auf Eingaben und Gutachten der Ältesten der Kaufmannschaft zu Berlin stoßen, deren Mitglieder auch regelmäßig in Gesetzgebungsgremien vertreten waren. So nahmen 1845 an den Beratungen der preußischen Wechselrechtskommission der Vorsteher der Ältesten der Kaufmannschaft Berlin Joseph Mendelssohn sowie deren Mitglied Bankier Magnus teil (ferner auch Teilnahme an den Beratungen der Staatsratskommission von 1847 zum preußischen Entwurf zu einer Wechselordnung; vgl. W. Schubert/J. Regge, Gesetzrevision, Abt. II 4, 1983, S. 733ff., 1041ff.). Das Werk Biggelebens behandelt im Zusammenhang mit den beiden wichtigsten Interessenorganisationen der Berliner Wirtschaft – der Korporation der Kaufmannschaft und dem Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) – das Berliner Wirtschaftsbürgertum, das Berlin nach der Reichsgründung zu einem weltweit führenden Finanz- und Industriestandort ausgebaut hat. Die Korporation der Kaufmannschaft wurde 1820 durch ein im Gesetzblatt (1820, S. 46ff.) veröffentlichtes Statut begründet. Der von Bankiers dominierte Vorstand bestand aus 21 „Ältesten“, welche die uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis über alle die Korporation betreffenden Angelegenheiten hatten. Ihre Interessen artikulierten die Ältesten in den Wirtschafts- und Jahresberichten sowie durch Petitionen an das Handelsministerium und durch Mitwirkung an Gesetzesvorhaben. Eine zentrale Aufgabe der Korporation war die Verwaltung der Berliner Börse. Die Ältesten wählten aus ihrer Mitte vier Börsenkommissare, welche für die Einhaltung der Börsenordnung und den ordnungsgemäßen Ablauf der Börsenversammlungen verantwortlich waren. Hinzu kam noch die Oberaufsicht und die Disziplinargewalt über die beeideten Börsenmakler (auch Entscheidung über Aufnahme und Ausschluss von Börsenmitgliedern). Da sich die mittelständische Industrie und der Handel im Ältestenkollegium nicht hinreichend vertreten sahen, gründete die Opposition 1879 einen eigenen Interessenverband, den VBKI, der erst unter der Leitung Ludwig Max Goldbergers (S. 173ff.) in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts über die nötige Schlagkraft gegenüber der Korporation der Kaufmannschaft verfügte. 1902 konnte der Verein die Begründung der Handelskammer Berlin durchsetzen. Diese erhielt alsbald die öffentlich-rechtlichen Befugnisse einschließlich der Börsenaufsicht, die bisher die Korporation innehatte. 1920 fusionierten die Handelskammer und die Korporation. Außer einer detaillierten Verbandsgeschichte der beiden Interessenorganisationen bringt das Werk Biographien der wichtigsten Führungspersönlichkeiten zwischen 1870 und 1920 (S. 141ff.) und einen Überblick über die wirtschaftspolitische Tätigkeit insbesondere der Korporation (Aktien, Börse, Eisenbahn, Handels- und Zollpolitik für die Zeit bis 1870; S. 79ff. – Schutzzollpolitik und Bülow-Tarife zu Beginn des 20. Jahrhunderts, S. 344ff.).

 

Ausführlich befasst sich Biggeleben mit dem Streit um das Börsengesetz von 1896 (S. 234-307), der zu den „heftigsten wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen“ der Kaiserzeit gehörte: Das Gesetz hatte „,eine so leidenschaftliche Kritik erfahren wie kaum ein anderes deutsches Gesetz’ und war zugleich eine der zentralen Bezugspunkte in der Debatte um den deutschen Weg in die Moderne“ (S. 234; Zitat nach H. Göppert, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 2, 1924, S. 999). Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Arbeit der Börsenenquête-Kommission von 1892/93, der auch der Präsident der Ältesten der Korporation angehörte und die mehrere Älteste und Korporationsmitglieder als Sachverständige befragte (S. 242). Im Einzelnen behandelt Biggeleben folgende Themenbereiche: Zulassungsbeschränkungen, Börsenehrengerichte, Termingeschäfte (einschließlich Börsenregister und Registereinwand) sowie Einsetzung eines Staatskommissars. Die Verabschiedung des Börsengesetzes vom 22. 6. 1896 bedeutete eine schwere Niederlage für die Korporation der Kaufmannschaft, die das Börsenregister, den Staatskommissar, und das Terminhandelsverbot für Getreide bzw. Bergwerks- und Hüttenpapiere sowie die Mitwirkung von Landwirtschaftsvertretern im Vorstand der Berliner Produktenbörse bis zuletzt abgelehnt hatte (S. 288ff.). – Breiten Raum nimmt die wirtschaftsethische Frage ein, inwieweit Vorstellungen von „kaufmännischer Ehre“ insbesondere im Alltag der Berliner Börse existent waren. Im Einzelnen arbeitet Biggeleben heraus, dass sich die Berliner Kaufmannschaft weitgehend an die ungeschriebenen Gesetze des Standes gehalten habe, wobei die „doppelte Absicherung durch Moral und Recht“ eine „essentielle Voraussetzung für das Funktionieren der kaufmännischen Ehrauffassungen“ gewesen sei (S. 426). In ihrer Mehrheit waren die Verbandsmitglieder – mehr als 50% von ihnen waren jüdische Wirtschaftsbürger – seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts „treue Anhänger“ der Linksliberalen (vgl. S. 174ff., 421). Von einer „devoten Staatsuntertänigkeit“ (Feudalisierungsthese) kann deshalb keine Rede sein (vgl. S. 405ff., 426). Mit Recht weist Biggeleben in diesem Zusammenhang auf die „tief sitzende Abneigung der deutschen Gesellschaft gegenüber der kaufmännischen Welt“ (S. 361) hin.

 

Insgesamt liegt mit den Untersuchungen Biggelebens ein auch für die Rechtsgeschichte wichtiges Werk vor, das vor allem eine präzise Einschätzung der im Ganzen noch wenig erforschten Beiträge der Ältesten der Kaufmannschaft zu Berlin und für die Zeit von 1879/82 an auch des VBKI zur preußischen und gesamtdeutschen Wirtschaftsgesetzgebung ermöglicht.

 

Kiel

Werner Schubert