Apsner, Burkhard, Vertrag und Konsens im früheren Mittelalter. Studien zur Gesellschaftsprogrammatik und Staatlichkeit im westfränkischen Reich (= Trierer historische Forschungen 58). Kliomedia, Trier 2006. 322 S., graph. Darst. Besprochen von Alois Gerlich.
Darstellungen der Karolingerzeit füllen einen Ozean. Dies gilt beinahe gleichermaßen auch für Westfranken. Die ‚Leitfigur’ dort ist König Karl ‚der Kahle’. Wegweisend für die ältere der Forschung waren Ferdinand Lot, Louis Halphen, Joseph Calmette und Léon Levillain mit jeweils reichem Gefolge und vielen Kontroversen. Auf die Entstehung regionaler Machtgebilde wies Jan Dhondt hin. Als Folge der Regionalisierung ist eine Zuwendung zu territorialen Gebilden mit Rückblick auf deren frühmittelalterliche Vorstufen in jüngerer Zeit unverkennbar. – Wegweisend für deutsche Untersuchungen wurde die Edition der Kapitularien durch Alfred Boretius und Victor Krause sowie die Darstellung von Gerd Seeliger. Entscheidend nachgewirkt hat Francois Louis Ganshof, mit seiner gerafften Übersicht von 1955 und der Fülle seiner Erörterungen aus de Jahren zuvor und danach. Die jüngste Stufe intensivster Darlegungen bringt Hubert Mordek, (Zusammenfassung zunächst im Lexikon des Mittelalters 5, 1991, jetzt besonders die Bibliotheca capitularium, München 1995). Erhebliche Rolle spielten diese Quellen in den Untersuchungen von Karl Ferdinand Werner, Percy Ernst Schramm, Peter Classen, Elisabeth Nortier-Magnou, Janet L. Nelson, Joachim Ehlers und Hans Hubert Anton. Auf die jüngere Regierungszeit Karls konzentriert ist Adelheid Krah (vergleiche ZRG.GA 120, 2003, S. 503-505), deren Arbeitsansatz möglicherweise mit denen von Burkhard Apsner parallel lief.
Apsner beginnt seine Betrachtungen des Geschehens mit der Ordinatio imperii von 817, die jedoch in Frage gestellt wurde infolge der Geburt Karls aus der zweiten Ehe Ludwigs des Frommen mit der Welfin Judith und dem Drängen der Mutter auf entsprechende Ausstattung. Die inneren Zerwürfnisse und vor allem die Gefährdung des Reiches durch Feinde an allen Grenzen, wurden schon oftmals behandelt. Apsner setzt daher seinen Schwerpunkt auf das Jahr 829 mit den Synoden von Germigny und Loiré im September und Oktober, die zur Versammlung in Coulaines im November führten. Das Empfinden für die allgemeine Not führte damals zu Synoden auch in Mainz, Paris und Toulouse. In Coulaines einigte man sich in einem Vertrag der sechs Kapitel umfasst. Im ersten wird auf die Wiederherstellung des honor ecclesiae, die Wiederherstellung des kirchlichen Besitzes und die Wahrung der seit Karl dem Großen gewährten Privilegien gedrungen. Im folgenden gilt dies hinsichtlich des honor und der potestas des Königs, der diesem geschuldeten sinceritas et obtemperentia, consilio et auxilio Die Vereinbarungen werden sogar als pactum bezeichnet. Karl der Kahl verspricht, er werde keinem seiner Getreuen ohne ein Gerichtsurteil dessen Lehen und Ämter entziehen, diesem gebühre die Wahrung seines Rechtsstandes, die so genannte lex competens. Aus den drei anderen Kapiteln sticht die Übereinkunft hervor, dass die Getreuen im Falle einer Verfehlung des Herrschers diesen zu mahnen haben, ihnen also ein Korrektionsrecht zusteht. Sollte umgekehrt einer der Getreuen gegen diesen Vertrag verstoßen, muss er sich einem Sühneverfahren unterziehen (S. 44ff.). Für die Mitwirkung der weltlichen Großen am Vertragswerk, wie schon an dem von Verdun 843, weist der Verfasser als Beispiel für das Engagement des weltlichen Adels auf Warin von Mâcon hin (S. 48-69), den bereits Adelheid Krah würdigte (dort S. 58 Anm. 248). Apsner sieht in ihm einen Adligen, der die Schlacht von Fontonoy 842 entschied, aber nicht zur engeren Entourage Karls des Kahlen zählte (S.79).
Das Werk Apsners steht zu dem Adelheid Krahs nicht im Gegensatz, bedarf indessen eines Vergleichs. Adelheid Krah legt eher Wert auf politische Vorgänge. Sie behandelt beispielsweise Ablauf und militärische Nachwirkungen der Schlacht von Fontenoy 841 breiter (dort S. 87-110) als Burkhard Apsner, der mit seinen Anliegen eher philologisch engagiert ist. Die Übereinstimmungen überwiegen oft. Es gehört zu den Misshelligkeiten der Organisation von Forschungen, dass Gleiches an verschiedenen Orten betrieben wird. Etwa auf die terminologischen Überlegungen Apsners zum Begriff conventientia sei verwiesen (S. 73-88) wo er fordert, man müsse diesen ausloten, um sich ihm beim Gebrauch in Coulaines anzunähern. Er diskutiert dabei nun die Auffassung Elisabeth Magnon-Nortiers, die das Wort in Verbindung sieht mit in Aquitanien überlieferten römisch-rechtlichen Traditionen, speziell der Institution des Patronats. Aspner beobachtet aber eine weite Verbreitung des Wortes in wechselnder Anwendung etwa bei Fredegar, bei der Mainzer Synode 813, als gehandelt wurde über die Kompetenz der Bischöfe in geistlichen Angelegenheiten ac de conventientia episcoporum cum laicis. Damals tagten neben Mainz vier Synoden in Reims, Chalon, Arles und Tours, die allerdings diesen Begriff nicht anwenden. Der Verfasser sieht hier eine Art Gesellschaftsspiegel „wobei sich der von Mainz am ausführlichsten präsentiert“(S. 85). Gerade diese Stadt lag jedoch am weitesten von Aquitanien entfernt. Die dort gebrauchte Anwendung von conventientia sieht Apsner in einem institutionell nicht gebundenen „Bedeutungsspektrum“ von pax et concordia et unanimitas, man könnte also von einer nicht auf eine Region bezogenen Allgemeingültigkeit sprechen. Den Gebrauch in Coulaines schreibt Apsner einem genossenschaftlichen Zusammenschluss des Adels als auslösendem Moment zu. Karl der Kahle habe also nicht die conventientia aus einem privatrechtlichen Bereich auf den politischen Sektor übertragen, um seine Herrschaft zu festigen. Diese Akzentsetzung ergänzt er mit Erörterungen über die Konsensterminologie und kommt jetzt in Diskussionen mit Jürgen Hannig, Janet L. Nelson, und Dieter Hägermann. Er unterbaut seine Ausführungen mit statistischen Schaubildern und Zitaten aus Kapitularien Karls des Großen, Ludwigs des Frommen und Karls des Kahlen, in denen die Übereinstimmung mit Bischöfen, Äbten, Grafen vel maiorum natu Francorum oder allgemein cum universo coetu populi genannt wird. In graphischer Umsetzung statistischer Erhebungen zeigt er, dass von 780 bis 800 in Kapitularien Konsensvermerke gleichgewichtig sind mit dem Inhalt von Anordnungen, dann aber bis zum Ableben Karls des Großen derartige Hinweise überhand nehmen, nach 808 sogar das Bild ganz bestimmen, während unter Ludwig dem Frommen alles unregelmäßig ist, in den Anfangsjahren sich der Anteil an Eigeninitiativen auswächst, das Jahr 826 nur Konsense kennt, diese zwischen 828 und 831 überhand nehmen, dann jedoch bis zum Ableben keine Überlieferungen mehr greifbar sind. Bei Karl dem Kahlen gab es Konsens am Anfang, also genau in der Zeit um Coulaines, einen Höhepunkt brachten die späteren fünfziger Jahre. Von 860 an sind die Anteile fast ausgeglichen, indizieren also die Festigung der Königsherrschaft. Zum Gesamtbild tragen die oft nicht näher mit Namen genannten consiliarii bei, deren Einfluss nicht unterschätztwerden darf (vgl. S. 121). Dem Verfasser diskutiert Befunde Johannes Frieds, der die karolingische Herrschaftsauffassung in Karls des Großen Zeit mit dem personalen Bezug auf den Kaiser charakterisiert, und erkennt dem gegenüber während der Regierungsjahre des Nachfolgers den Beginn eines Abstraktionsvermögens mit der Auffassung des Herrscheramts als ministerium mit Bezug nicht mehr auf den Kronträger, sondern auf die res publica. Er zieht daraus den Schluss, im westfränkischen Bereich habe es in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts „eine institutionell gefestigte Beschränkung der Königsgewalt auf der Basis des Vertragsgedankens gegeben (S. 122) Die Einbeziehung auch des weltlichen Adels neben den Bischöfen in dieses neue System war die Folge. Dem geht Apsner recht detailliert nach. Von Coulaines an kam dem Episkopat ein hohes Maß an politischer Initiative auf allen Feldern des Gesellschaftslebens zu, doch fortan nicht mehr ihm allein. In den Frankentagen von Diedenhofen, Yütz, Meersen, bei den Herrschertreffen und vielen späteren Gelegenheiten, den Versammlungen in Lüttich, St. Quentin, Koblenz, Savonnières und Tusey zwischen 854 und 865 geht dem der Verfasser nach und zeigt, wie die in Coulaines gegebenen Anstöße nachwirkten.
Im Gegensatz dazu nahm man im ostfränkisch-frühdeutschen Reich an dieser Entwicklung nicht teil. „Es gab im Osten nichts mit dem Vertrag von Coulaines Vergleichbares“ (S. 181). Das ist eine entscheidende Erkenntnis. Hier trifft man mehr als ein Problem der Überlieferung von Quellen. Der Verfasser schließt seine Überlegungen mit dem Hinweis, dass die Vertragskonzeption hier nur rudimentäre Strukturen aufwies, man von einer Beeinflussung durch westfränkische Vorbilder nicht auszugehen habe. In nuce deutet sich damit der wesentliche Unterschied von Verfassungen in Deutschland und Frankreich an, die in diesem Buch hätten ein wenig deutlicher gemacht werden dürfen.
Auf der Grundlage seiner Ergebnisse wendet sich der Verfasser den Geschehnissen bis zum Ableben Karls des Kahlen 877 zu. Sein Reichsteil aus der karolingischen Erbschaft geriet in eine Krise nach 853. Man hat sie in Zusammenhang gebracht mit einem aquitanischen Sonderbewusstsein, das unterstellt wird von Jan Dhondt, dem aber auch in der deutsche Forschung, genannt seien die Studien Walther Kienasts und Bernd Schneidmüllers, anklingend auch bei Otto Gerhard Oexle, gelegentlich fassbar in den umfänglichen terminologischen Aufzählungen Carlrichard Brühls, Rechnung getragen wird. Es kann wahrlich nicht bestritten werden, dass es ein derartiges Eigenbewusstsein in Aquitanien und im Midi gab und gibt. Die Geschichte bietet dafür viele Belege, man denke beispielsweise an die Katharer und die gegen sie geführten Kreuzzüge, den Hundertjährigen Krieg mit dem Vertrag von Troyes, Spekulationen am Hof von Westminster in Richtung Bordeaux, an die Hugenottenzeit, den Aufstand in der Vendée, noch in der Gegenwart an Regungen gegen den Pariser Zentralismus. Ist da der Zusammenschluss in Coulaines mit seinen über den Einfall Ludwigs des Deutschen 858 hinaus bestehenden Folgen etwas Besonderes? Der Verfasser bringt eine ansehnliche Schilderung der Konsolidierung der Herrschaft Karl des Kahlen bis zum Ende seines Lebens und der planvoll gestalteten Politik. Hier misst er zutreffend große Bedeutung den drei Hoftagen in Pîtres in den sechziger Jahren bei. In diesen trägt der Konsens zwischen König, Geistlichkeit und Adel zur Abwehr der Normannen das Geschehen. Der westfränkische Episkopat war in Pîtres fast vollzählig anwesend, er handelt zusammen mit den weltlichen Großen und dem König. Die Dreieinigkeit von König, Geistlichkeit und Adel seit Coulaines lebt. Der Übergang zu einer Politik beginnt, die jetzt die Entstehung von Gesetzen als lex consensu populi et constitutione regis charakterisiert. Die nach den Plünderungen durch die Normannen entstandenen coniurationes in Küstenbereichen werden zerschlagen, weil von ihnen Gefahr für die Einheit drohte. Apsner verfolgt schließlich noch Nachwirkungen der Übereinkunft von Coulaines bis hin zu den Ordines der Krönungen, bei denen sich in den drei Erfordernissen der Designation durch den Vater, dann des Konsenses der Großen und schließlich der Sorge um das Wohl der Gemeinschaft „der Vertragsgedanke in seiner kirchlich-rechtlichen Ausrichtung verfestigen konnte“(S. 254). Coulaines war nicht eine Gründungsurkunde des westfränkischen Reiches nach der Ansicht Peter Classens. Apsners wohlbegründetes Urteil erweist jene Versammlung als den Beginn eines Gruppenbewusstseins mit gemeinschaftsstiftender Wirkung. In der „Langen Dauer“ der „Persistenz der Coulaineser conventientia-Programmatik“ ist auf von Katastrophen nicht unbelastetem Wege ein großer Staat geworden.
Wiesbaden Alois
Gerlich