Althochdeutscher
und altsächsischer Glossenwortschatz, bearb. unter Mitwirkung von zahlreichen
Wissenschaftlern des Inlandes und des Auslandes, hg. v. Schützeichel, Rudolf,
Bd. 1-12. Niemeyer, Tübingen 2004. VIII, 484, 488, 488, 488, 488, 488, 488,
488, 488, 488, 488, 487 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Als
die Franken, Alemannen, Bayern und Sachsen im Frühmittelalter schreiben
lernten, schrieben sie vor allem lateinische Vorlagen des Altertums ab. In
ihnen konnten neben vielen gängigen und allgemein bekannten Wörtern schon auch
hin und wieder so seltene und unbekannte Wörter wie mucia vorkommen. Deswegen vermerkte der eine oder andere Mönch an
einem geeigneten Platz über, unter oder neben dem lateinischen mucia in einer ihm einleuchtenden Form
das einheimische amblaza, damit der
eine oder andere Mönche fortan das lateinische mucia leichter verstehen konnte.
Solche
volkssprachigen Glossen lateinischer Wörter in mittelalterlichen Handschriften
sind seit Jahrhunderten bekannt. Vor allem seit dem 19. Jahrhundert wurden sie
eifrig gesammelt. Seitdem sind immer neue Handschriften mit althochdeutschen
wie altsächsischen Einzelwörtern aufgefunden und ganz überwiegend auch bereits
veröffentlicht worden.
Schon
Eberhard Gottlieb Graff hatte die wichtigsten dieser Glossen zwischen 1834 und
1842 in seinen sechsbändigen Althochdeutschen Sprachschatz oder Wörterbuch der
althochdeutschen Sprache etymologisch und grammatisch bearbeitet eingefügt. Auf
Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen hatten im Auftrag
der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig auch Elisabeth
Karg-Gasterstädt und Theodor Frings aus Texten und Glossen ein neues großes
Althochdeutsches Wörterbuch begonnen, dessen erste Lieferung bereits 1952
erschienen war. Damit war diese germanistische Schatzgrube aber zugleich für
Spätergeborene eigentlich vergeben, weil wer immer zu spät kommt, meist von der
Geschichte oder dem Leben bestraft wird.
Weil
dem Projekt der sächsischen Akademie aber das Klima des Arbeiter- und
Bauernstaates nicht recht zuträglich war, gedieh es nur langsam, so dass doch
ein wenig Raum für Alternativen entstand, die beispielsweise Rudolf
Schützeichel 1969 für ein auf die inzwischen etwa 80 althochdeutschen Texte
beschränktes Kleinwörterbuch ohne Belege nutzte. Da ein kleines Wörterbuch
einen großen Meister jedoch nicht wirklich zu befriedigen vermag, gewann Rudolf
Schützeichel in den Jahren der deutschen Spaltung die Göttinger Akademie der
Wissenschaften für wenigstens einen großen Glossenwortschatz, dem in den
Vereinigten Staaten von Amerika bereits grundlegend vorgearbeitet worden war.
Das gewichtige Ergebnis dieses westdeutschen Teilprojekts liegt in 12 Bänden
seit 2004 vor.
Im
ersten Band skizziert der Herausgeber die Erfassung des Glossenwortschatzes, erläutert
die Darstellung, listet die mehr als 170 Bibliotheken glossenführender
Handschriften in alphabetischer Reihenfolge mit Siglen und zugehörigen
Signaturen auf, nennt viele verwendete Hilfsmittel (nicht wirklich korrekt z.
B. das konkurrierende Althochdeutsche Wörterbuch, überhaupt nicht verschiedene
andere Werke) und Editionen und verschlüsselt schließlich die glossierten
lateinischen Texte. Warum in diesem Zusammenhang entgegen bibliographischer
Vernunft die Vornamen den alphabetisch geordneten Familiennamen vorangestellt
werden müssen, wird eines der manchen persönlichen Geheimnisse des Herausgebers
sein und vermutlich auch bleiben. Die Verfügungsgewalt über öffentliche Mittel
mag den scheinbaren König Kunden schließlich deutlich lehren, was manch hoher
Priester eigentlich von ihm hält.
Die
bei der Überprüfung des bereits bekannten umfangreichen Glossenbestands von
Rudolf Schützeichel und seinen zahlreichen Mitarbeitern verwendeten Methoden
führten – vom Herausgeber leicht unterkühlt formuliert - in beachtlich vielen
Fällen zu einer Bestätigung der Lesungen Steinmeyers, (aber in einer nicht
näher konkretisierten Zahl von Fällen) auch zur Feststellung von Fehlern, meist
der Gewährsleute Steinmeyers, dann zur Entdeckung von bislang übersehenen Einträgen,
deren Zahl unbestimmt mit in die Tausende (von etwa 250000) gehend beschrieben
wird, schließlich zu einem Gesamtbild der jeweiligen Handschrift mit den
genauen Positionen der Glossen, der besseren Erkenntnis ihrer Funktionen,
Traditionen, Motivierungen, Kontexte und anderem. Die auf dieser Grundlage
gewonnenen Belege sind mehr als 27000 Wortartikeln zugeteilt, die
erfreulicherweise erstmals (bei Schützeichel) mit einer offen gelegten
Normalform beginnen, so sehr sich Rudolf Schützeichel früher gegen diese
einfache, nutzerfreundliche Offenlegung auch gesträubt hat. Es folgen, unter
der Zielsetzung, dass die Darstellung des Glossenwortschatzes allem Rechnung
tragen muss, dem sie Rechnung tragen kann, und in der Überzeugung, dass auch
eine flektierte Wortform das gesamte jeweilige (unerwartet doch nicht des
handschriftlichen Nachweises bedürftige) Paradigma repräsentiert, die einzelnen
Belege jedes Artikels in der von Schützeichel gewählten (alphabetischen)
Reihenfolge (der neuhochdeutschen, durch Schützeichel und seine Mannschaft
vergebenen Bedeutungen) und unter Verzicht auf manche, dem Leser hilfreiche,
vom Althochdeutschen Wörterbuch der altsächsischen Akademie und anderen Werken
gebotene Angaben. Am Ende werden rund 300 eingestreute altenglische Wörter, ungefähr
1000 unidentifizierbare Einträge und die zahlreichen lateinischen Bezugswörter
(schätzungsweise deutlich aufgebläht rund 40000 [von möglicherweise rund 100000
bekannten Wörtern des lateinischen Wortschatzes]) geboten.
Insgesamt
stellt das Werk eine in vielen Hinsichten beeindruckende Leistung dar. Als eine
Art althochdeutsches und altsächsisches Teilwörterbuch der Glossen wird es für
viele Einzelfragen wie etwa der Geschichte des Jochriemens (lateinisch mucia, althochdeutsch amblāza, st. F.) eine neue
Grundlage sein und die Fertigstellung des großen althochdeutschen Wörterbuchs
der sächsischen Akademie deutlich beschleunigen können. Wenn man dem
freundlichen Abdruck auf der letzten Seite Glauben schenken darf, umgibt Rudolf
Schützeichel in der Mitte einer kleinen Gefolgschaft fortan ein Hauch von
Seligkeit oder Glückseligkeit, auch wenn ihm sein ganz großes Ziel eines
vollständigen, einheitlichen althochdeutschen Wörterbuchs in einer Welt
letztlich doch noch begrenzter öffentlicher Mittel wohl durch des von niemandem
auch mit noch so großer Anstrengung umfassend beherrschbaren Geschickes Mächte
auf Dauer verwehrt bleiben mag.
Innsbruck Gerhard
Köbler