Ahrens, Martin, Prozessreform und einheitlicher Zivilprozess. Einhundert Jahre legislative Reform des deutschen Zivilprozessrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Verabschiedung der Reichszivilprozessordnung (= Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen 102). Mohr (Siebeck), Tübingen 2007. XIX, 701 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Zivilprozessreform des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts ist –von den Fridericianischen Reformen teilweise abgesehen – bislang nicht umfassend behandelt worden, obwohl es sich hierbei um eines der spannendsten und aufschlussreichsten Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts handelt. Mit dem Werk von Ahrens liegt nunmehr eine breite Darstellung der Prozessreform für diesen Zeitraum vor, die detailliert auf die Entwicklungen in Preußen, Hannover, Bayern und die Vereinheitlichungsarbeiten der 60er und 70er Jahre des 19. Jahrhunderts eingeht. Bei der Analyse, wie die verfahrensrechtlichen Konzepte und Prozessformen umgebildet wurden, hat Ahrens vornehmlich die legislativen Arbeiten herangezogen, ohne die Leistungen der Prozessrechtswissenschaft aus dem Blick zu verlieren: „Als thematischer Schwerpunkt dient, auf welche Weise das im Zentrum der Verfahrensordnung stehende erstinstanzliche Erkenntnisverfahren im streitigen Zivilprozess umgebildet wurde“ (S. 3; Mündlichkeitsprinzip, Verhandlungsgrundsatz, freie Beweiswürdigung). Hierbei ging es vor allem um die Gestaltung des Einbringens des Tatsachenstoffs in das Verfahren. Nur am Rand wird das Rechtsmittelverfahren erörtert, das über das Novenrecht mit der Einbringung des tatsächlichen Prozessstoffs verbunden ist.

 

Das Werk beginnt mit einem Überblick über die strukturierenden Elemente des gemeinen und des französischen Zivilprozesses. Für das gemeinrechtliche Verfahren S. 12ff. arbeitet Ahrens als Grundmuster die Schriftlichkeit, den Verhandlungsgrundsatz, das Eventualprinzip (Verfahrenstrennung) sowie die Besonderheiten des Kontumazialverfahrens und Beweisrechts heraus. Der französische Zivilprozess nach dem Code de procédure civile (S. 50ff.) war bestimmt durch die außergerichtliche Einleitung des Verfahrens, durch den Schriftwechsel unter den Anwälten der Parteien und die mündliche Verhandlung (Audienz), der sich in Ausnahmefällen ein schriftliches Verfahren anschließen konnte. Mit Recht stellt Ahrens die in Deutschland oft wenig beachtete sog. Souveränität des französischen Richters heraus, die umfassende Befugnisse zur Verhandlungsleitung beinhaltete (S. 61, 65). Im Anschluss an den französischen Prozess beschreibt Ahrens das Verfahren nach der Westphälischen Zivilprozessordnung von 1808/09 (S. 68ff.), das einige Elemente des gemeinen Prozesses bewahrte, und die Genfer Zivilprozessordnung von 1819 (S. 75ff.), eine Fortentwicklung des französischen Prozesses, die durch einen frei kombinierten gerichtlichen Schriftenwechsel mit richterlichen Bestimmungsrechten und einer mündlichen Verhandlung gekennzeichnet war. Der unveränderte französische Zivilprozess blieb in der Rheinprovinz, in Rheinhessen und in Rheinbayern bestehen und wurde schon früh als Muster eines staatlich wenig reglementierten liberalen Prozesses interpretiert, wobei den „zentralen Elementen des französischen Verfahrens vielfach eine prinzipielle Bedeutung“ beigemessen wurde, „die sie im Code nicht besaßen“ (S. 82).

 

Bevor es jedoch dazu kam, hatte sich in Preußen die richterliche Prozessinstruktion durchgesetzt. Diese war als richterliche Untersuchungspflicht im Corpus Juris Fridericianum von 1781 voll ausgebildet und wurde, unter Verdrängung der Advokaten, von Assistenzräten und von einem Deputierten wahrgenommen, welcher nach der Instruktionsverhandlung den status causae et controversiae erstellte, der für weiteres Vorbringen Präklusionswirkung hatte. Das anschließende Verfahren wurde schriftlich weitergeführt. Die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793/95 vollendete die vernunftrechtliche Gestaltung des Zivilprozesses, nachdem bereits seit 1782/83 den Parteien gestattet worden war, sich durch sog. Justizkommissare vertreten zu lassen, die an die Stelle der Advokaten getreten waren. Die Instruktion lag nunmehr in den Händen der Justizkommissare und des Deputierten. In einem weiteren Abschnitt behandelt Ahrens die Verordnung über die Justizverwaltung im Großherzogtum Posen von 1817, die vom französischen Zivilprozess beeinflusst war, und das Separatgutachten Simons, das dieser 1818 als Mitglied der Rheinischen Immediatjustizkommission erstattete und in dem er ein gegenüber der AGO abweichendes schriftlich-mündliches Verfahren vorschlug. Im Rahmen der Gesetzrevision entwickelte Wilhelm Reinhardt, dem von seiner Tätigkeit als Richter im ehemaligen Königreich Westphalen und als Advokat am Rheinischen Revisions- und Kassationshof in Berlin der französische Zivilprozess bekannt war, eine neue Verfahrenskonzeption (außergerichtliches schriftliches Verfahren mit evtl. richterlicher Instruktion unter Geltung der Eventualmaxime und anschließender mündlicher Verhandlung; S. 163ff.). Mit dieser Konzeption konnten sich jedoch die Revisoren in den Beratungen der Gesetzrevisionskommission nicht voll durchsetzen, die einen außergerichtlichen Schriftwechsel unter Anwaltszwang verwarf. Der daraufhin von Reinhardt aufgestellte Revisionsentwurf von 1831/32 baute auf den Beschlüssen dieser Kommission auf. Die Prozessrechtsnovelle von 1833 brachte für die wichtigsten Prozesse des täglichen Lebens (ohne Streitwertbegrenzung) ein summarisches, auch für die Kollegialgerichte geltendes Verfahren. Diese auf den Vorschriften der Gesetzrevision aufbauende Novelle führte zur Abschaffung des status causae et controversiae und zur Einführung der Eventualmaxime und einer mündlichen (Schluss-)Verhandlung. Nach einer knappen Kennzeichnung des Revidierten Entwurfs von Kamptz aus dem Jahre 1842 geht Ahrens ausführlich auf die Arbeiten im Ministerium Savigny (ab 1842) ein (S. 209ff.), die zu dem „Neuen Entwurf einer Verordnung über den Civil-Prozeß“ von 1845 führten, welcher jedoch am Widerstand des Justizverwaltungsministers Uhden scheiterte. Die aus dessen Ministerium stammende knappe Verordnung über den Zivilprozess vom 21. 7. 1846 verallgemeinerte das Verfahren der Novelle von 1833 mit geringfügigen Modifikationen (weitere Annäherung an die gemeinrechtlichen Prozessvorstellungen). Im Anschluss an die Novelle von 1846 behandelt Ahrens die CPO-Entwürfe von Koch (1848) und den Justizministerialentwurf von 1864 (S. 293ff.), der sich für das ordentliche kollegialgerichtliche Verfahren im Wesentlichen dem französischen Recht anschloss. Der rechtsdogmatisch nicht konsequent durchgearbeitete Entwurf scheiterte u. a. an der Ablehnung durch fast alle altpreußischen Obergerichte und die Ministerkollegen.

 

Im umfangreichen Abschnitt über den „Bürgerlichen Prozess in Hannover“ (S. 324-487) arbeitet Ahrens zunächst heraus, dass Hannover bis Anfang des 19. Jahrhunderts über kein einheitliches Zivilprozessrecht verfügte (unterschiedliche Gerichtsordnungen für das Oberappellationsgericht Celle, die Mittel- und die Untergerichte, oft mit jeweils regionalen Unterschieden). Nach dem Außerkraftsetzen des westfälischen Code de procédure civile erhielt das Königreich erst 1827 eine Untergerichtsordnung (S. 363ff.). 1847 bekam Hannover eine „Allgemeine bürgerliche Prozess-Ordnung“, die noch ganz dem gemeinrechtlichen Verfahren mit nur geringen Anklängen an die preußische Verordnung von 1833 verhaftet war. Entsprechend den Forderungen der Revolution kündigte die Regierung am 22. 3. 1848 ein öffentliches und mündliches Verfahren in bürgerlichen Rechtsangelegenheiten an und suspendierte das Inkrafttreten der Prozessordnung von 1847. Sie wurde ersetzt durch die Bürgerliche Prozess-Ordnung von 1850 (in Kraft getreten erst am 1. 10. 1852), deren Entstehung Ahrens erstmals anhand der archivalischen Quellen nachgeht. In welchem Umfang Leonhardt, der spätere hannoversche und preußische Justizminister, an den Entwurfsarbeiten beteiligt war, lässt sich nicht mehr feststellen (vgl. S. 444). Der neue hannoversche Prozess, der auch außerhalb Hannovers allgemein Anerkennung fand, verband ein „verbessertes französisches Verfahren“ zweckmäßig mit „deutschen Einrichtungen“: „In einer eigenständigen Gestaltung wurde auf diese Weise dem mündlichen Verfahren in Deutschland endgültig zum Durchbruch verholfen“ (S. 483). Die mündliche Verhandlung hatte einen umfassenden Einfluss auf die Prozesshandlungen und führte somit zu einer unmittelbaren Verfahrensgestaltung (Herausbildung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes). Gleichzeitig behielt die BPO die mit einer Präklusionswirkung verbundene Zweiteilung des gemeinen Prozesses bei; das Beweisinterlokut sollte nicht mehr selbstständig anfechtbar sein, jedoch den Richter binden. – Der Abschnitt über die Entwicklung des bayerischen Zivilverfahrens (S. 488-556) befasst sich detailliert mit dem Codex Juris Bavarici Judiciarii von 1753, den Prozessrechtsnovellen von 1819 und 1827, mit den Entwürfen von 1825, 1827 und 1831 sowie mit dem Entwurf zu einer Prozessordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten von 1861/63 und der Prozessordnung von 1869. Nachdem sich die Entwürfe von 1825 und 1827 zu einem mündlichen Schlusstermin bekannt hatten, vollzog bereits der Entwurf von 1831 eine stärkere Annäherung an das französische Recht, dem dann die CPO von 1869 in allen wesentlichen Teilen folgte, allerdings angepasst an die deutschen Verhältnisse. – Der Abschnitt „Rechtsangleichung durch Prozesskonferenzen“ (S. 557-599) behandelt die Arbeiten der Hannoverschen CPO-Kommission des Deutschen Bundes (1863-1866) und der CPO-Kommission des Norddeutschen Bundes. In der Hannoverschen Kommission spielte Leonhardt als Referent eine wichtige Rolle, konnte jedoch nicht verhindern, dass die Bindung an das Beweisinterlocut, jedoch unter Beibehaltung der Eventualmaxime, aufgegeben wurde. Der CPO-Entwurf für den Norddeutschen Bund baute den vom Bundesstaatenentwurf beschrittenen Weg aus, ohne dass ihm mit einer freieren Ausgestaltung der Eventualregel eine überzeugende Lösung gelang. – Im Abschnitt über die Civilprozessordnung von 1877 stellt Ahrens zunächst den preußischen, von Leonhardt bestimmten Justizministerialentwurf von 1871 heraus, der auf jede Eventualregel verzichtete und das Beweisverfahren als bloßes Zwischenverfahren ausgestaltete. Gleichzeitig wollte Leonhardt für die Berufung vor den Oberlandesgerichten das Novenrecht versagen und als Revision ausgestalten, ein Vorschlag, dem zwar noch die CPO-Kommission des Bundesrates von 1871/72, nicht aber mehr der Bundesrat 1874 folgte. Mit dem Modell der ungetrennten mündlichen Verhandlung hatte die Prozessreform ihr Ziel erreicht. Das Werk wird abgeschlossen mit einer präzisen Zusammenfassung der „Wege zum einheitlichen Zivilprozess“ (S. 635-650). Zu Recht stellt Ahrens heraus, dass der Code de procédure civile einen „maßgebenden Einfluss auf die deutsche Kodifikation ausgeübt“ habe (S. 639), eine These, die einer eigenen Untersuchung unter Einbeziehung weiterer Elemente des Zivilprozesses, insbesondere auch des Rechtsmittelrechts, wert wäre. Nach Ahrens regelte die CPO einen „eigenständigen Prozesstyp“: „Anstelle der vielgestaltigen Prozessmuster bestand eine klare durchgebildete Ordnung. Ihre systematische Gestaltung bot dabei mehr als nur einen reformierten französischen Prozess“.

 

Ahrens hat erstmals in voller Breite die Fülle der „von den legislativen Reformarbeiten projektierten oder verwirklichten Gesetzgebungen“ (S. 5) in dem von ihm gewählten Rahmen miteinander verglichen und gegeneinander konturiert. Neben der Herausbildung des Grundsatzes der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit behandelt Ahrens auch das richterliche Aufklärungs- und Fragerecht sowie das Kontumazial- bzw. Versäumnisverfahren. Nicht näher eingegangen ist Ahrens auf die württembergischen, badischen und sächsischen Prozessreformen, die entweder dem hannoverschen Modell oder, wie Sachsen, dem Bundesstaatenentwurf folgten. Dass Ahrens auf eine detailliertere kritische Beurteilung der CPO im Hinblick auf die weitere Entwicklung verzichtet hat, liegt in der Zielsetzung des Werkes begründet, die Herausbildung der der CPO zugrunde liegenden und erstmals konsequent durchgeführten Verfahrensprinzipien herauszuarbeiten. Insgesamt hätte vielleicht der Genfer Zivilprozess etwas breiter konturiert werden können. Nützlich wären auch Hinweise zur rheinischen Gerichtspraxis gewesen, die Gegenstand persönlicher Enqueten hannoverscher und preußischer Juristen waren. Letztere hatten auch Gelegenheit, sich in den Verhandlungen des Rheinischen Revisions- und Kassationshofs über das französische Verfahren in Berlin zu informieren (vgl. Gudrun Seynsche, Der Rheinische Revisions- und Kassationshof in Berlin [1819-1852], Berlin 2003, S. 309ff.). Dagegen dürfte die spärliche französische zivilprozessuale Reformdiskussion des 19. Jahrhunderts (hierzu, allerdings zu knapp, Dahlmanns, in: H. Coing, Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/2, München 1982, S. 2550ff.) keine nennenswerte Rolle in Deutschland gespielt haben. Insgesamt hat Ahrens mit der Systematisierung der prozessrechtlichen Entwicklung des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts für den untersuchten Zeitraum nicht nur eine detaillierte Geschichte des Zivilprozessrechts Preußens, Hannovers und Bayerns, sondern gleichzeitig auch unter Einbeziehung des gemeinen und französischen Zivilprozesses, der Rechtsangleichungskonferenzen und der Entstehung der Zivilprozessordnung von 1877 ein Grundlagenwerk zur deutschen Rechts- und Rechtsvereinheitlichungsgeschichte vorgelegt. Es ist zu wünschen, dass mit dem wichtigen Werk von Ahrens die Geschichte des Zivilprozessrechts der letzten beiden Jahrhunderte wieder stärker in das Blickfeld der Rechtsgeschichte kommt.

 

Kiel

Werner Schubert