Adlberger, Susanne, Wilhelm Kisch – Leben und Wirken (1874-1952). Von der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg bis zur Nationalsozialistischen Akademie für deutsches Recht (= Rechtshistorische Reihe 354). Lang, Frankfurt am Main 2007. 338 S. Besprochen von Werner Schubert.
Wilhelm Kisch gehörte zu den einflussreichsten Mitgliedern und beliebtesten Lehrern der Münchner Rechtswissenschaftlichen Fakultät, insbesondere als Direktor des Juristischen Seminars und wegen der Attraktivität seiner Vorlesungen. Von 1933 bis Mitte 1937 bestimmte er als Vizepräsident der Akademie für Deutsches Recht maßgeblich das wissenschaftliche Programm dieser Institution. Dies allein ist Grund genug, sich mit der Biographie dieses Juristen näher zu befassen. Die Eltern von Kisch waren nach dem Deutsch-Französischen Krieg in den Elsaß ausgewandert, wo der Vater als zweisprachiger Beamter in die Zollverwaltung des Reichslandes übernommen wurde (S. 17). Kisch studierte an der Universität Straßburg Rechtswissenschaft, wo er unter dem Zivilprozessualisten August Siegmund Schultze über Zivilprozessrecht promovierte und sich 1900 für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht – eine damals seltene Fächerkombination – habilitierte. Als er 1903 einen Ruf nach Erlangen erhielt, bemühte sich seine Heimatuniversität erfolgreich um sein Verbleiben in Straßburg als Ordinarius für Bürgerliches Recht (für Zivilprozessrecht, das Kisch allerdings von Anfang an voll vertrat, erst ab 1912). Kisch, der die französische Sprache perfekt beherrschte, war zwar unpolitisch, jedoch gleichzeitig von einem starken deutschen Nationalgefühl und einem überzeugten Patriotismus geprägt. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt lag auf dem Zivilprozessrecht, zu dem er 1912 sein wohl bedeutendstes zivilprozessuales Werk: „Parteiänderung im Zivilprozess“ vorlegte, das auch heute noch zitiert wird (vgl. S. 58ff.). Zeitlebens hielt er trotz der damals aufkommenden Interessenjurisprudenz an der konstruktiven, begrifflich orientierten Darstellung des Rechts fest (S. 98).
1916 erhielt er nach langem Warten einen Ruf an die Münchner Universität, wo er noch im selben Jahr den zivilprozessualen Lehrstuhl von Seuffert übernahm. 1920 gründete er zusammen vor allem mit Mendelssohn-Bartholdy die Vereinigung Deutscher Zivilprozessrechtslehrer, die sich für den Erhalt und den Ausbau der universitären Zivilprozessrechtslehre einsetzte (S. 94ff.). Zugleich wandte er sich dem gewerblichen Rechtsschutz (1923 erschien sein „Handbuch des deutschen Patentrechts“) und dem Privatversicherungsrecht zu. Schon bald galt er als einer der wichtigsten Vertreter des deutschen Versicherungsrechts. Im Auftrag der Münchner Rückversicherungs-Gesellschaft verfasste er 1940 die Jubiläumsschrift: „50 Jahre Allianz. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Privatversicherung“, ein Werk, das auch heute noch als eine der bedeutendsten unternehmensgeschichtlichen Darstellungen gilt (S. 274 nach P. Koch). Sein pädagogisches Engagement zeigte sich in viel gelesenen und benutzten Fallsammlungen und Grundrissen, die zahlreiche Auflagen erlebten.
Auf die „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten reagierte er als Dekan des Studienjahres 1932/33 mit Vorsicht, Zurückhaltung und strenger Sachlichkeit; sein Verhalten war auf „Selbstbehauptung durch Traditionswahrung“ gerichtet (S. 145). Sein Einsatz für die jüdischen und politisch verfolgten Kollegen hatte jedoch nur geringen Erfolg. Im Juli 1933 nahm er an der konstituierenden Sitzung der vom damaligen bayerischen Justizminister Hans Frank begründeten Akademie für Deutsches Recht teil, deren Vizepräsident er alsbald wurde und beteiligte sich in der Folgezeit am Aufbau und an der konkreten Ausgestaltung der Akademie (S. 172ff.). An der Proklamation der Akademie auf dem Deutschen Juristentag in Leipzig am 2. 10. 1933 beteiligte er sich mit einer Rede. Kisch veranlasste nicht nur den Beitritt der Münchner Juristischen Fakultät zur Akademie, sondern mobilisierte alle deutschen juristischen Fakultäten für diese Institution. Die Zusammensetzung der zivilrechtlichen Ausschüsse dürfte er zumindest mitbestimmt haben, ebenso die spätere Einrichtung der Abteilung für Rechtsforschung. Mitbeteiligt war er auch an der Planung des 1939 eingeweihten „Hauses des Deutschen Rechts“, zu dem das neue juristische Seminar auf dem Gelände des ehemaligen Max-Josef-Stifts in enger räumlicher Beziehung stehen sollte (S. 232ff.) Kisch war bis zu seinem Rücktritt von den Akademieämtern Mitte 1937 „Aushängeschild“ und aktiver Propagandist dieser Institution (so Adlberger, S. 199ff.). Nach seinen eigenen Aussagen (1947) hat er mit seiner Tätigkeit eine gemäßigte Richtung der Rechtserneuerung unterstützen und zu radikale Reformen (entsprechend den Vorschlägen der Kieler Schule) verhindern wollen. Dieses Ziel hat er vor allem mit den drei gesellschaftsrechtlichen Ausschüssen erreicht, welche die nationalsozialistischen Reformpläne für die Aktiengesellschaft, die GmbH und die Genossenschaft zurückwiesen. Kisch selbst leitete bis April 1934 den zivilprozessualen Ausschuss der Akademie, der an der bisherigen Justizorganisation festhielt und vor allem das Führerprinzip sowie den Einzelrichter in der landgerichtlichen ersten Instanz ablehnte. 1935 ließ sich Kisch im Alter von 60 Jahren freiwillig pensionieren und Mitte 1937 von seinen Ämtern in der Akademie aus gesundheitlichen Gründen – Kisch litt seit dem 14. Lebensjahr an einer schweren Deformierung des Hüftgelenkes – entbinden. Nach Adlberger dürfte die Wahrheit über die Pensionierungs- und Rücktrittsgründe „irgendwo zwischen seinen eigenen Aussagen, dass er sich distanzieren wollte, persönlicher Frustration und den gesundheitlichen Beschwerden liegen“: „Ähnlich wie das mäßigende Eingreifen nur ein Motiv von vielen für seine Betätigung in der Akademie war neben der Hoffnung auf eine Rechtserneuerung, nationaler Euphorie, beruflichen oder auch persönlichen Eitelkeiten, Obrigkeitsloyalität, Förderung der Rechtswissenschaft und Hoffnung auf Vorteile für die Juristische Fakultät München, waren auch für seinen Rücktritt mehrere Beweggründe verantwortlich. Nicht am leichtesten wogen die offiziell angegebenen gesundheitlichen Probleme“ (S. 257). Allerdings ist nach 1937 die Beziehung zwischen Kisch und Frank nicht ganz abgebrochen (S. 269). Auch eine Distanzierung vom Nationalsozialismus erfolgte nicht, wie seine Beteiligung an der Hitler-Festschrift von 1939 (S. 268f.) und insbesondere seine Schrift von 1939: „Der Deutsche Rechtslehrer“ (S. 26 ff.) zeigen. Im Entnazifizierungsverfahren wurde Kisch 1947/48 als „nicht betroffen“ (d.h. „nicht belastet“; vgl. S. 282) eingestuft.
Adlberger hat mit Recht den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf das zwischen „Anpassung und Ablehnung“ (S. 243) liegende Engagement von Kisch im Nationalsozialismus gelegt. Vor allem belegt die Studie, dass hauptsächlich wohl Kisch die Weichen dafür gestellt hat, dass zumindest in den zivilrechtlichen Akademieausschüssen bei allen ideologischen Zugeständnissen und Zwängen auch heute noch beachtenswerte Diskussionen stattgefunden haben. Insoweit ist das Werk Adlbergers, die eine Vielzahl bisher nicht bekannter oder unausgewertet gebliebener ungedruckter Quellen (so insbesondere die zahlreichen Briefe von Kisch an H. Gerland in Jena) herangezogen hat, ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Akademie für Deutsches Recht. Zu bedauern ist, dass Adlberger die von ihr wiederholt zitierte Verteidigungsschrift Kischs aus dem Jahre 1947 nicht im Anhang vollständig wiedergegeben hat. Wie weit das wissenschaftliche Werk Kischs zum Versicherungsrecht und zum gewerblichen Rechtsschutz auch heute noch von Bedeutung ist, werden wohl nur die unmittelbaren Fachvertreter zuverlässig sagen können. Allerdings vermisst der Leser einen Abschnitt über die nicht wenigen Schüler Kischs, insbesondere über Würdinger, den Versicherungsrechtler Hans Möller und den Versicherungskaufmann Emil Frey. Auch über die Doktoranden – zu ihnen gehörte der französische Politiker Robert Schuman – fehlen ausführlichere Informationen. Insgesamt liegt mit der detailreichen und sehr einfühlsam geschriebenen Biographie über Wilhelm Kisch ein beachtenswertes Werk zur deutschen Rechts- und Universitätsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor.
Kiel |
Werner Schubert |