Vertreibung
und Minderheitenschutz in Europa, hg. v. Kroll, Frank-Lothar/Niedobitek,
Matthias (= Chemnitzer Europastudien 1). Duncker & Humblot, Berlin
2005. VIII, 331 S. Besprochen von Ilse Reiter-Zatloukal.
Die vorliegende Publikation
ist der erste Band der neuen Schriftenreihe „Chemnitzer Europastudien“, das als
Forum zur Präsentation von Forschungsergebnissen und Aktivitäten der
Europaforschung an der Technischen Universität Chemnitz konzipiert ist. In
dieser Reihe sollen nach der Intention der Herausgeber alle Fragen des
europäischen Integrationsprozesses thematisiert werden, wobei ein besonderes
Augenmerk auf der Interdisziplinarität sowie den „west-, mittel- und
osteuropäischen Nachbarländern“ liegen soll. Entsprechend den
Forschungsschwerpunkten der Herausgeber werden die inhaltlich primär historisch
und juristisch orientierten Publikationen dieser Reihe neben Sammelbänden zu
Tagungsergebnissen auch Monographien, vor allem Dissertationen und
Habilitationsschriften, umfassen.
Dementsprechend präsentiert
der erste Band der Reihe die Ergebnisse einer von den Herausgebern im Februar
2004 in Plauen veranstalteten Tagung zu „Vertreibung und Minderheitenschutz“,
an welcher insbesondere Wissenschafter und Wissenschafterinnen aus Chemnitz,
aber auch aus Leipzig, Prag und Dresden als Vortragende teilnahmen. Wenngleich
dies dem Titel des Buches nicht entnommen werden kann, liegt der Schwerpunkt
des Tagungsbandes auf der Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen
Mitteleuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, deren historischen Ursachen
und politischen Hintergründen, der konkreten Durchführung und den
Folgewirkungen sowie damit zusammenhängenden rechtlichen Aspekten. Eine
Klarstellung dieser Fokussierung durch einen Banduntertitel wäre hier
allerdings angezeigt gewesen, wecken die mangelnden räumlichen und zeitlichen
Einschränkungen doch zunächst gänzlich andere Erwartungen hinsichtlich der
inhaltlichen Ausrichtung des Bandes.
Im Sinne dieser
Schwerpunktsetzung gibt Winfrid Halder (Dresden) einen Überblick über die
Genese und den Ablauf der Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen
Ostgebieten des Deutschen Reiches sowie dem Sudentenland zwischen 1945 und 1947
und skizziert den historiographischen und öffentlichen Diskurs zu diesem Thema
bis in die jüngste Vergangenheit. Aus tschechischer Sicht greift Miloš Havelka
(Prag) in seinem Beitrag diesen Diskurs über die tschechisch-deutschen
Beziehungen auf, dessen Pole bis in die Gegenwart von einer scharfen Ablehnung
bzw. einer Verteidigung der tschechischen Nachkriegspolitik gebildet werden.
Adrian von Arburg (Prag)
beschäftigt sich unter dem Titel „Zwangsumsiedlung als Patentrezept“ mit der
tschechoslowakischen Bevölkerungspolitik in den Jahren von 1945 bis 1954 im
mitteleuropäischen Vergleich. Nach einem größeren begriffstheoretischen Teil,
dessen Typologisierungen teilweise durchaus noch weiter diskussionsbedürftig
erscheinen, und einer bis in das 19. Jahrhundert zurückgreifenden Darstellung
der Vorgeschichte zeigt Arburg dann anhand der einzelnen betroffenen Gruppen
den „Primat des Nationalen“ in den unmittelbaren Nachkriegsjahren sowie dessen
Ablöse ab Ende 1948 durch andere Repressionsmotive bzw. -strategien und
analysiert regimeübergreifende Kontinuitäten sowie Parallelen.
Der Aufnahme und Integration
der deutschen Flüchtlinge aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches, Polens und
der Tschechoslowakei in Sachsen 1945–1950 widmet sich Andreas Thüsing (Leipzig)
und stellt resümierend fest, dass die Flüchtlinge aufgrund der einschlägigen
DDR-Politik dort nicht bloß integriert, sondern vielmehr assimiliert wurden und
im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland weder als eigenständige Gruppe
auftraten noch auch von einem „Heimischwerden“ derselben in der „neuen Heimat“
gesprochen werden könne.
Zu historischen
Vergleichszwecken werden in weiteren Beiträgen Minderheitenschutzprobleme der
Nachbarländer Frankreich und Polen thematisiert. So widmet sich Miloš
Řezník (Chemnitz) den Kaschuben in Polen, die im Lauf der Geschichte
entweder von Polen für die polnische Nation (wenngleich mit eigener Sprache)
vereinnahmt oder aber von Deutschland als eigenes Volk qualifiziert wurden. Mit
Bevölkerungsverschiebungen im westlichen Nachbarland Frankreich nach 1918, also
konkret mit den Vertreibungen der Deutschen im Elsaß und in Lothringen, einer
„der ersten ethnischen Säuberungen auf dem europäischen Kontinent“, setzt sich
Hendrik Thoß (Chemnitz) auseinander.
Den Minderheitenschutz im
Völkerrecht behandelt Liv Jaekel (Leipzig), wobei sie nach der Erörterung der
Völkerbundära zunächst den modernen Minderheitenschutz sowohl auf universeller
als auch regionaler und bilateraler Ebene darstellt, um sodann einzelnen
dogmatischen Fragen, wie dem konkret geschützten Personenkreis und den
konkreten Pflichten gegenüber den geschützten Minderheiten, nachzugehen.
Mathias Niedobitek (Chemnitz) widmet
sich dem „Minderheitenschutz im europäischen Mehrebenensystem“, während Ludwig
Gramlich (Chemnitz) einen Blick auf wirtschafts- und finanzrechtliche Perspektiven des aktuellen
Minderheitenschutzes unter besonderer Berücksichtigung des Braunkohleabbaus im
Gebiet der sorbischen Minderheit in Sachsen und Brandenburg wirft.
Insgesamt betrachtet bietet
die Publikation nicht nur eine wertvolle, zusammenfassende Darstellung des
Forschungsstandes zur Vertreibung der Deutschen aus dem östlichen Mitteleuropa
und zahlreiche interessante regionalgeschichtliche Erkenntnisse, sondern auch
einen kompakten, gut dokumentierten Überblick zum Minderheitenschutz auf
völkerrechtlicher und europäischer Ebene.
Wien Ilse
Reiter