Vec, Miloš, Recht und Normierung in der industriellen Revolution. Neue Strukturen der Normsetzung in Völkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung (= Recht in der industriellen Revolution 1 = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 200). Klostermann, Frankfurt am Main 2006. X, 492 S. Besprochen von Werner Schubert.
Zwischen 1999 und 1904 beschäftigte sich eine von Vec geleitete selbstständige wissenschaftliche Nachwuchsgruppe mit dem „Recht in der Industriellen Revolution“ am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte. Mit dem Werk von Vec, einer Frankfurter Habilitationsschrift, wird die Reihe „Recht in der Industriellen Revolution“ innerhalb der Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte eröffnet. Bei der Titelwahl ging es Vec darum, einen möglichst anschaulichen Prozess eines umfassenden Wandels innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu bezeichnen (S. 4), und zwar nicht primär die Durchbruchsphase der Industrialisierung von 1845/50 bis 1873, sondern die sog. zweite Industrielle Revolution, die gekennzeichnet ist durch Massenproduktion, Kartell- und Verbandsbildungen, die produktive Ordnungspolitik des Staates und die vier Leitindustrien (Chemie, Maschinenbau, Optik und Elektrotechnik). Vec geht davon aus, dass etwa ab 1880 „neue, auf Technik und Wirtschaft bezogene Normen, Verfahren und Institutionen des Rechts in solcher Dichte auf den Plan“, getreten seien, so dass „sinnvoll von einer neuen Disziplin, einem neuen Rechtsgebiet gesprochen werden kann“ (S. 10). Die tiefgreifende Umgestaltung des Normierungsprozesses findet nach Vec auf drei Ebenen statt: „Im Bereich des Völkerrechts führen Verträge zu einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen; im Zuge der Regulierung neuer Techniken vollzieht sich im Rahmen des Nationalstaats eine umfassende Vergesetzlichung, die von weiteren Verrechtlichungen unterhalb der Gesetzesebene flankiert wird; als Folge der technisch-wissenschaftlichen Gemeinschaftsarbeit entsteht jenseits staatlicher Normproduktion eine Fülle technischer Normen sowie weitere Normierungen für die betriebliche und überbetriebliche Ebene“ (S. 384). Vec untersucht diesen neuartigen Normbildungsprozess anhand dreier Referenzgebiete. Aus den normativen Verträgen des Völkerrechts greift er die Pariser Meterkonvention vom 20. 5. 1875 heraus, die noch im 19. Jahrhundert ergänzt wurde durch Abkommen zur Herstellung einer weltweiten Standardzeit (1884/85; S. 39; vgl. auch S. 45ff.). Diese und andere Verwaltungsunionen beruhten auf den neuen Lehren der „Internationalen Gemeinschaft“ (Mohl, 1860) und des „Internationalen Verwaltungsrechts“ (Schmoller, 1882; S. 147ff.). Zentrales Regelungsmodell war der mehrseitige, rechtsetzende, beitrittsoffene Vertrag, dem Gesetzescharakter zugesprochen wurde. Die Verträge betrafen naturwissenschaftlich-technische, humanitäre, medizinalpolizeiliche und ökonomische Anliegen. Vec spricht hier von einem Wandel des Völkerrechts von einem Koexistenz- hin zu einem Kooperationsrecht, das durch dauerhafte Büros, Kongresse und Konferenzen verwaltet werde.
Im zweiten Teil seines Werkes „Technikermöglichung durch staatliche Normen“ (S. 165ff.) behandelt Vec als Beispiel für die nationale Vereinheitlichung im Staat der Industriegesellschaft das Gesetz über die elektrischen Maßeinheiten vom 1. 6. 1898, das flankiert wurde durch weitere Gesetze (Reichstelegrafengesetz von 1899; Reichsgesetz über die Bestrafung der Entziehung der elektrischen Arbeit von 1900) sowie durch Bundesratsverordnungen. Hierbei handelte es sich weitgehend um Expertengesetzgebung, da den Ministerialjuristen und den Parlamentariern die technischen Kenntnisse weitgehend fehlten. Eine reichsgesetzliche Regelung der Elektrizität in einem Starkstromgesetz scheiterte vor dem ersten Weltkrieg insbesondere an föderalen Wiederständen (S. 209ff.). Zum Erlass von speziellen Haftungsnormen für die Elektrizitätswirtschaft kam es nicht; diese schuf vielmehr durch den „Verband Deutscher Elektrotechniker“ zahlreiche technische Regelwerke (Überblick S. 228f.), die der Staat auch anerkannte, da sie bestimmte Aufgaben der Sicherheitstechnik erfüllten. Diese Verbandsnormen galten im Vergleich zum staatlichen Recht als schmiegsam und elastisch (S. 280ff.) und ersetzten weitgehend eine Vergesetzlichung der Gefahrenabwehr im Bereich der elektrischen Anlagen. Man kann insoweit von Rechtsabwehr bzw. seitens des wirtschaftsliberalen Staates von Rechtsvermeidung sprechen. – Im dritten Abschnitt „Rationalisierung durch Selbstorganisation“ (S. 293ff.) behandelt Vec die überbetriebliche technische Normierung anhand der Bestrebungen zur Standardisierung der Schrauben und Schraubengewinde, die erst 1922 einen vorläufigen Abschluss erreichte (S. 374). Technische Regeln stellen weder eine „juristische Normalität“ dar, noch ist der Staat als Normsetzer aktiv. Vielmehr beruht die Vereinheitlichung technischer Normierung auf gesellschaftlicher Selbstorganisation vor allem durch die technisch-wissenschaftlichen Vereine und die Ingenieure, die zunehmend eine Gleichstellung mit den Juristen insbesondere im Staatsdienst verlangten (S. 352ff.). Maßgebend für die Standardisierung (Überblick mit dem Stand von 1920 S. 331ff.) waren die Hoffnungen auf ökonomische Vorteile und Rationalisierungsgewinne. Über die Selbstnormierung und „Selbstgesetzgebung“ hinaus arbeitet Vec die „technokratischen Steuerungsansprüche“ der Ingenieure heraus, die dahingehende Ordnungsmodelle verfolgten (S. 369f.). Der Erste Weltkrieg erwies sich als „Normungsbeschleuniger“ (S. 371ff.) und führte im Dezember 1917 zum Normenausschuss der Deutschen Industrie, der die später sog. „Deutsche Industrie-Norm“ (DIN) herausgab. Wenn Vec die drei Regelungsbereiche (internationale Beziehungen, parlamentarische Gesetzgebung und industrielle Selbstnormierung) getrennt untersucht hat, so sollten damit die neuen Strukturen der Normgesetzgebung herausgearbeitet werden. In Wirklichkeit sind, worauf Vec wiederholt hinweist, die Regelungsebenen vielfach miteinander verknüpft und führen „in ihrem Zusammenwirken“ zu einem Rechtsquellen- und Normquellenpluralismus (S. 384). Es bestehe, so Vec, nicht nur ein juristischer Rechtspluralismus, sondern ein über Recht und Gesetz hinausgehender Normpluralismus (S. 385). In der Zusammenfassung stellt Vec fest, dass im Zuge der Industriellen Revolution eine umfassende Verrechtlichung, Vergesetzlichung und Vernormierung stattgefunden habe: „Juristische und außerjuristische Normierung nehmen in Umfang und Qualität dermaßen zu, dass angesichts der schieren Masse von einer Regelungsflut gesprochen werden darf“ (S. 384). Insoweit kann man von der „Geburt neuer Rechtsgebiete“ sprechen, wofür beispielhaft Neologismen zu nennen sind wie Industrierecht, Wirtschaftsrecht, Technikrecht und Energierecht. Das Werk wird abgeschlossen mit einem umfassenden Literaturverzeichnis und vor allem mit einem ausführlichen Personenregister sowie einem aussagekräftigen Sach- und Ortsregister, das dem Leser einen gezielten Zugriff auf den reichhaltigen Inhalt des Werkes ermöglicht.
Mit seinem Werk hat Vec die im Zuge der Technikentwicklung des späten 19. Jahrhunderts entstandenen neuen Normierungsprozesse und Normierungsebenen anhand konkreter Beispiele (Referenzgebiete) erstmals systematisch herausgearbeitet (dazu vor allem die auch in englischer Sprache abgefasste Zusammenfassung S. 388ff). Allerdings sind über die drei Referenzgebiete hinaus noch weitere Regelungsbereiche zu erschließen, bei denen die staatliche Gesetzgebung eine größere Rolle spielte (vgl. den Hinweis auf das Eisenbahn- und Automobilrecht S. 239ff.). Auch wäre die rechtshistorische Bedeutung der technischen Normung bzw. der Technischen Regeln, die in der Europäischen Union immer noch zu nicht unerheblichen Handelserschwernissen führen, noch zu präziser herauszuarbeiten. Insgesamt sind die Bezüge zu den ausländischen Entwicklungen insbesondere zu Frankreich noch zu wenig thematisiert. Neugierig macht hier ein von Vec gebrachtes Zitat aus dem Jahre 1900: „Wenn es gelungen ist“, so Wengler, Electrizität und Recht im Deutschen Reiche (1900, S. 139f.), „das Eingreifen der Gesetzgebung auf diesem Gebiete zu verhindern oder hinauszuschieben, wenigstens in Deutschland, – in andern Ländern, so in Frankreich und England, wurde es schon vor einer Reihe von Jahren für nötig erachtet, die Ausführung elektrischer Anlagen auf dem Wege der Gesetzgebung zu regeln – um nicht im ersten Ausbau der jungen Technik durch starre Formen beengt zu sein“, so sei dies auf die Bemühungen der Vertreter der deutschen Elektrotechnik zurückzuführen (Vec, S. 272). Insgesamt zeigt die umfassende, anschaulich geschriebene Pionierstudie Vecs, dass die Erschließung der Rechtsgeschichte des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts noch keineswegs abgeschlossen ist und immer noch „Entdeckungen“ zu machen sind.
Kiel |
Werner Schubert |