Tomasoni, Francesco, Christian Thomasius. Spirito e identità culturale alle soglie dell'illuminismo europeo. Morcelliana, Brescia 2005. 302 S. 11579 Besprochen von Georg Steinberg.
Der an der Universität Halle wirkende Philosoph und Jurist Christian Thomasius (1655-1728) gilt als der bedeutendste Vertreter der deutschen Frühaufklärung. Von italienischer Seite existieren über ihn mehrere bedeutende Arbeiten aus dem vergangenen Jahrhundert, etwa die Schriften von Mario A. Cattaneo und Luigi Cataldi Madonna. In diese gute Tradition reiht sich Franceso Tomasoni ein, indem er in der vorliegenden Monografie auf der Basis einer sorgfältigen Auswertung der thomasischen Schriften Inhalt, Hintergründe und Verflechtungen der wichtigsten Positionen der thomasischen Philosophie vorstellt.
Die
zwei prinzipiell bestehenden Fußangeln der Thomasius-Interpretation, nämlich
die Schwierigkeiten, die sich einerseits aus der Inhomogenität, ja Brüchigkeit
von Thomasius’ Lehren, andererseits aus den auf verschiedenen Gebieten
feststellbaren Paradigmenwechseln bei Thomasius ergeben, passiert Tomasoni
unbeschadet. Was die letztere Schwierugkeit angeht, so wählt Tomasoni für seine
Arbeit eine an Thomasius’ geistiger Entwicklung orientierte Struktur: So
hebt er für die Zeit bis ca. 1690 zutreffend Thomasius’ eklektizistische
Grundtendenz hervor sowie seine Auseinandersetzung mit und Emazipation von der
scholastischen Philosophie, des Weiteren die journalistisch produktive
Umsetzung des Postulats philosophischer Freiheit in den „Monatsgesprächen“. Gerade indem
Tomasoni von Anfang an Thomasius’ Bekenntnis zum Eklektizismus ernstnimmt und
in weitgespannten Untersuchungen das philosophische Umfeld ausleuchtet - neben
vielen anderen etwa stellt er ausführlich die Bezüge zur Lehre Gottfried
Wilhelm Leibniz’ (1646-1716) her -, werden widerstreitende Züge in Thomasius’
Lehren verständlich. Für die Zeit ab 1688 untersucht Tomasoni vor allem
Thomasius’ Arbeiten zur Vernunftlehre und zur Sittenlehre und bereichert auch
hier die gegenwärtige Forschung um eine ausdifferenzierte Bestimmung der
Wirkungen, die Thomasius’ Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Strömungen,
vor allem mit dem Cartesianismus (Johann Clauberg, 1622-1665) für den Bereich
der Vernunftlehre und mit den Lehren des Mystikers Pierre Poirets (1646-1719)
für die Ethik hat.
Im
Weiteren nähert sich Tomasoni - indem er Thomasius’ Schriften zur
strafrechtlichen Verfolgung der Ketzerei von 1697 interpretiert - bereits dem eigentlichen
Schwerpunkt der Untersuchung an, nämlich dem Verhältnis von Thomasius’
philosophischen Ansätzen zu seinen praktischen Forderungen im Bereich der
strafrechtlichen Ketzer- und Hexenverfolgung sowie zur Folter. Philosophischer
Ausgangspunkt ist dabei Thomasius’ Schrift „Von Wesen des Geistes“, 1699, die Tomasoni im Einzelnen und
wiederum mitsamt dem literarischen Umfeld auswertet, wobei er Verbindungslinien
zum Skeptizismus aufzeigen kann: Thomasius’ Zweifel an der Körperlichkeit des
Teufels folgen direkt aus seinen Thesen zum Wesen des Geistes und bilden
zugleich den Grundstein seiner Kritik an der strafrechtlichen Verfolgung der
Hexerei: Von hier aus interpretiert Tomasoni „De Crimine Magiae“, Thomasius’ wichtige Schrift von 1701, wobei
er deren Rang durch die Kontrastierung mit einer im Einzelnen ausgewerteten
traditionalistischen Schrift (De
Sagis, 1690, Dissertation unter dem Leipziger Theologen Valentin
Alberti) sowie durch die Darstellung der von Thomasius ausgelösten
wissenschaftlichen Kontroverse verdeutlicht. Daneben skizziert Tomasoni auch
die Verbindungslinien von „De Crimine
magiae“ zurück zu Friedrich von Spees „Cautio Criminalis“, 1631, und zu Balthasar Bekkers „Die bezauberte Welt“, 1693.
An diesem Punkt zeigen sich allerdings auch die Defizite von Tomasonis Ansatz. Sein Versuch, Thomasius’ Argumentationsfiguren zu den bezeichneten strafprozessualen Fragen fast ausschließlich aus dessen philosophischen Überlegungen heraus verständlich zu machen, trägt nicht der Tatsache Rechnung, dass Thomasius diesen Weg (also die Veränderung der Praxis aufgrund philosophischer Erkenntnisse) zwar selbst zu gehen vorgibt, dass sich sein literarisches und praktisches Handeln aber in erster Linie aus der kritischen Betrachtung der (Gerichts-)Praxis und der sich für Thomasius hiernach aufdrängenden Notwendigkeit praktischer Verbesserungen ergibt, die er - erst im Nachhinein - philosophisch zu legitimieren sucht. Tomasoni überbewertet hier die Bedeutung der philosophischen Argumentation und trägt dem gegenüber der juristisch-praktischen Seite zu wenig Rechnung. Gerade aus dem Vergleich mit den genannten Schriften ergibt sich aber, dass die Schubkraft von „De Crimine magiae“ weniger auf philosophischem als vielmehr auf juristischem Innovationspotential beruht, indem nämlich Thomasius der in der „Cautio Criminalis“ unternommenen strafprozessualen Kritik an der Hexenverfolgung die materiell-rechtliche Kritik an die Seite stellt, dass der Tatbestand der Hexerei mangels Körperlichkeit des Teufels von vornherein unerfüllbar sei.
Was die folgenden Ausführungen zur dritten großen strafprozessualen Frage der Aufklärung, zur Folter, angeht, so kann dem Autor nicht zugestimmt werden, wenn er Thomasius auch hier eine progressive Haltung bescheinigt: Dass die Dissertation Martin Bernhardts unter Thomasius’ Vorsitz, „De tortura“, 1705, welche sich gegen den Missbrauch, letztlich für die grundsätzliche Abschaffung der Folter ausspricht, nicht Thomasius’ eigene Auffassung wiedergibt, sondern sich dieser in einem Begleitschreiben und auch sonst ablehnend gegenüber Reformvorschlägen in dieser Beziehung zeigt, dürfte als gesichert gelten (grundlegend Ebner, Christian Thomasius und die Abschaffung der Folter, in: Ius Commune 4, 1972, 73 ff.).
Wenn im Titel des vorliegenden Werkes die thematische Beschränkung auf Thomasius’ philosophisch-kulturelles Wirken als Frühaufklärer zum Ausdruck kommt, so erübrigt sich die Kritik, dass Thomasius’ Wirken als Jurist, insbesondere als Rechtslehrer, bei Tomasoni kaum Beachtung findet, zwar weitgehend, aber doch nicht gänzlich: Tomasoni unterschlägt einen wichtigen Aspekt aufklärerischen Denkens, allgemein und bei Thomasius, indem er das Bemühen um praktische Veränderungen als movens und Ausgangspunkt jeglicher philosophischer Bemühung ausblendet. Abgesehen davon und abschließend muss aber betont werden, dass Tomasoni mittels seiner weitgespannten und zugleich profunden Aufarbeitung des philosophisch-literarischen Umfeldes wichtige neue Aspekte der thomasischen Philosophie zu erhellen vermag.
Hannover Georg
Steinberg