Suter, Stefan, Die strafrechtlichen Bedenckhen der Basler Stadtconsulenten (1648-1798). Ein Beitrag zur Basler Strafrechtswirklichkeit. Schulthess, Zürich 2006. XVI, 228 S. Besprochen von Lukas Gschwend.

 

Der in der Schweiz bekannte Basler Rechtsanwalt und Strafverteidiger Stefan Suter legt eine spannende rechtshistorische Untersuchung über 300 strafrechtliche Gutachten der Basler Stadtconsulenten aus den Jahren 1648 bis 1798 vor. Zwar sind solche Rechtsgutachten – nicht zu verwechseln mit den Gutachten der Basler Juristenfakultät – seit dem frühen 16. Jahrhundert überliefert, doch nehmen sie nach 1648 mit der juristischen Loslösung der Schweiz vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zahlenmäßig zu. Innerhalb des Untersuchungszeitraums hatten insgesamt elf Juristen das Amt des Stadtconsulenten inne. In Basel wurden für die strafrechtliche Beurteilung schwererer Delikte (v. a. Diebstahl, Raub, Tötung, Gotteslästerung, Fälschung, Sittlichkeitsdelikte) sowie für die prozessuale Überprüfung, ob die Folter zur Erzwingung eines Geständnisses eingesetzt werden durfte, einheimische Juristen, die fast immer zugleich Professoren an der dortigen Universität waren, als Gutachter beigezogen, die zwar Wert darauf legten, unparteiisch aufzutreten, jedoch nicht immer unabhängig vom Rat als Auftraggeber wirkten. So wurde ein dem Gericht inhaltlich missfallendes Gutachten schon mal zur Überarbeitung zurückgewiesen. Suter bezeichnet die Konsiliarpraxis der Basler Stadtconsulenten zutreffend als „kleine Aktenversendung“.

 

Während das aus sieben Räten bestehende Basler Stadtgericht im Rahmen des bis 1798 geltenden Inquisitionsprozesses zugleich als Untersuchungs- und Anklagebehörde, Verteidigungsinstanz und erkennendes Gericht amtete, war es Aufgabe der Stadtconsulenten, einen juristisch begründeten Urteilsvorschlag zu liefern. In der Regel beurteilten sie die Fälle zu zweit. Das Gericht selbst begründete seine Entscheidungen nicht, weshalb die Gutachten die einzigen historischen Zeugnisse für das damals angewendete Recht darstellen. Suter zeigt auf, dass der Rat meistens den Vorschlägen der Stadtconsulenten, welche ihre Gutachten innerhalb weniger Tage zu erstellen hatten, folgte. Für die schweizerische Strafrechtsgeschichte besonders bedeutsam ist der aus den Gutachten erbrachte Nachweis, dass in Basel auch nach dem Austritt der Eidgenossenschaft aus dem Reich 1648 regelmäßig und explizit auf die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 Bezug genommen wurde, die Carolina in Basel also durchaus geltendes Recht blieb. Andere öfters zitierte normative Quellen sind die Bibel sowie – bei Ehebruch und Sittlichkeitsdelikten – die Reformations- und Ehegerichtsordnung. Der berühmte Strafrechtskommentar Practica nova Saxonica rerum criminalium von 1635 des sächsischen Strafrechtsgelehrten Benedikt Carpzov wird in den meisten Gutachten bis 1798 als zentrale Autorität zitiert. Auch die Werke von Bartolus und Baldus, Johannes Brunnemann, Julius Clarus, Prosper Farinacius, Samuel Stryk sowie anderer Rechtswissenschafter v. a. des 16. bis 18. Jahrhunderts werden regelmäßig aufgeführt. Dagegen fehlen auch im 18. Jahrhundert fast vollständig Hinweise auf Werke des rationalen Naturrechts und der Aufklärung.

 

Die Studie gewährt tiefen Einblick in die von den Stadtconsulenten vertretenen prozessrechtlichen Anschauungen. So finden sich Aussagen über die Zuständigkeit des Gerichts oder die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen (Alter und Leumund des Zeugen, Verhältnis zum Angeschuldigten etc.). In den Gutachten wird nach 1680 öfters die elementare Bedeutung der Unschuldsvermutung unterstrichen. Suter zeigt auf, dass die Stadtconsulenten in der Regel bemüht waren, die Folter unter Beachtung der von der Carolina statuierten Indizienlehre nur restriktiv für zulässig zu erklären. Zentrale Bedeutung kam dem Vorhandensein eines corpus delicti zu. Juristen haben sich hier mit Nachdruck für die Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit im Strafverfahren eingesetzt. Für das späte 18. Jahrhundert müsste freilich ergänzt werden, dass an der juristischen Fakultät der Universität Basel hinsichtlich der Zulässigkeit der Folter sehr konservative Meinungen vertreten wurden. So erlebte das vom Basler Rechtsprofessor Johann Rudolf von Waldkirch 1710 noch ganz dem Geist des Inquisitionsprozesses der Carolina verbundene Handbüchlein „Der gerechte Folter-Bank“ 1773 eine Neuauflage, als anderswo in Europa die Folter bereits abgeschafft war oder jedenfalls deren Abschaffung ernsthaft diskutiert wurde.

 

Suter zeigt mittels nach Deliktstypen geordneter deskriptiver Fallanalysen auf, wie die Stadtconsulenten im Lauf der Jahrzehnte verschiedene Straftatbestände ausdifferenzierten und rationale Argumente für die Qualität und Quantität der Strafe entwickelten, wonach diese proportional zu Unrecht, Gefährdung von Rechtsgütern und krimineller Energie des Straftäters zu bemessen war. Die Strafe sollte gerechte Vergeltung für das Verbrechen sein und zugleich generalpräventiv wirken. Sodann belegt die Untersuchung, dass auch spezialpräventive Aspekte, wie Besserung und Sicherung, den Stadtconsulenten wichtige Anliegen waren. Obschon diesbezüglich kaum eine straftheoretische Auseinandersetzung mit der aufgeklärten Literatur feststellbar ist, findet eine solche gleichsam auf pragmatischer Ebene statt.

 

Zahlreiche Gutachten enthalten Erwägungen, welche neben der Bewertung des deliktischen Erfolgs die Schuldfrage betreffen. So berücksichtigen die Stadtconsulenten in Einklang mit der damaligen Strafrechtsdogmatik, wie sie insbesondere Carpzov aus der Carolina und der norditalienischen Strafrechtswissenschaft fortentwickelt hat, neben der Abgrenzung von Versuch und Vollendung, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Haupttäterschaft und Teilnahme auch die Motive, die psychische Verfassung des Täters zur Tatzeit (Wahnsinn, Melancholie, Trunkenheit, Affekt) sowie allfällige Reue oder andere Milderungsgründe (Alter, geringe Intelligenz etc.). Die von der damaligen Strafrechtsdogmatik entwickelten Figuren und Differenzierungen werden nach ihrer Relevanz, Eindeutigkeit und Praktikabilität rezipiert. Die Gutachten der Stadtconsulenten finden auch bei überaus schwerwiegenden Tötungsdelikten – Suter zeigt dies anhand zweier Fälle von Verwandtenmord auf – fast immer Gründe, nicht die für solche Verbrechen damals üblichen qualifizierten Todesstrafen auszusprechen, sondern die Enthauptung durch das Schwert als adäquate Sanktion zu fordern. Soweit Strafmilderungsgründe ersichtlich sind, schlagen die Stadtconsulenten regelmäßig eine poena extraordinaria vor. Eine Qualifizierung der Todesstrafe durch Schleifen zur Richtstatt wird im Untersuchungszeitraum nur zweimal, die Räderung in keinem einzigen Gutachten, für angemessen erachtet. Auch zu Verstümmelungsstrafen wird kaum je geraten. Vor 1701 findet sich kein Vorschlag zur Versendung auf die Galeeren. Seit 1666 empfehlen die Gutachten öfters Freiheitsstrafen im Schellenwerk, Zuchthaus oder Waisenhaus (!). Die Analyse belegt am Basler Beispiel konkret, wie die akademische Jurisprudenz maßgeblich zur Humanisierung des Strafrechts und damit zum zivilisatorischen Fortschritt beitrug. Allerdings ist zu beachten, dass die poena extraordinaria sehr oft mit einer ewigen Verweisung aus der Stadt verbunden wurde. Heimatlosigkeit war in der damaligen Statusgesellschaft mit enormen Einschränkungen der Lebenschancen für die Betroffenen verbunden. In mehreren Gutachten kommt jedoch zum Ausdruck, dass einzelne Stadtconsulenten sich über die besondere Problematik der Landesverweisung durchaus im Klaren waren und diese auch kritisierten.

 

Die zahlreichen Fallanalysen liefern neben den vielfältigen strafrechtshistorischen Informationen einen aussagekräftigen Beitrag zur Basler Kriminalitätsgeschichte im Ancien Régime, da der Autor sorgfältig viele Fallgeschichten rekonstruiert und jedenfalls teilweise in ihrem sozialgeschichtlichen Umfeld kontextualisiert.

Angesichts der erheblichen wissenschaftlichen Bedeutung, welche der vorliegenden Studie ihr inhaltlich innovativer Charakter verleiht, mag man es bedauern, dass der Autor auf den formalen Finish nicht mehr Mühe verwendet hat. Auch die wissenschaftliche Einbettung mag nicht immer zu befriedigen. Soweit die Sekundärliteratur eingearbeitet wird, finden nicht selten alte Auflagen Verwendung. Über die Frage, ob die wenig moderne Methode und Systematik der Studie dem historischen Stoff adäquat wird, kann man geteilter Meinung sein. Im Vergleich mit manchen aktuellen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, die viel an Methodologie, aber vergleichsweise wenig an Inhalt bieten, imponiert diese aus den Quellen geschöpfte Untersuchung durch ihren dichten und klar strukturierten Informationsgehalt.

 

Sankt Gallen                                                                                                  Lukas Gschwend