Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, hg. v. Marxen, Klaus/Werle, Gerhard, Band 4/1, 4/2 Spionage, unter Mitarbeit v. Schäfter, Petra/Thiemrodt, Ivo. De Gruyter, Berlin 2004. LV, 1-617 S., VIII, 621-1109 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.
Die auf 10 Bände angelegte Edition mit den Erträgen des von den
Herausgebern betriebenen Forschungsprojekts „Strafjustiz und DDR-Vergangenheit“
macht stetige Fortschritte. Ging es bei den ersten drei Bänden (Wahlfälschung[1],
Gewalttaten an der innerdeutschen Grenze und Amtsmißbrauch und Korruption[2])
jeweils um Komplexe, bei denen zum einen noch ein Ermittlungs- und
Verfolgungsinteresse der demokratische gewendeten DDR bestand und bei denen die
Verfolgbarkeit durch die bundesdeutsche Justiz von einer wenn auch nicht
einhelligen, so doch überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum
bejaht wurde, so bestand an der Verfolgung von DDR-Spionen naturgemäß bis
zuletzt kein Verfolgungsinteresse seitens der DDR (S. XLIX), weshalb die Verfolgung ausschließlich
durch die bundesdeutsche Justiz erfolgte und damit auch erst später einsetzte.
Eben diese Verfolgung, ja bereits die Verfolgbarkeit begegnete indes
erheblichen Bedenken nicht nur in Teilen des strafrechtlichen Schrifttums,
sondern auch bei einigen Oberlandesgerichte (S. XLV). Als weitere Besonderheit kam hinzu, daß im Komplex „Spionage
zugunsten der DDR“ nicht nur DDR-Bürger, sondern auch Bundesbürger als Täter in
Betracht kamen, deren Strafbarkeit freilich ebenso zweifelsfrei war, wie
diejenige der DDR-Bürger politisch und rechtlich umstritten. Da für
Bundesbürger, die für die DDR spioniert hatten, sich keine relevanten
rechtlichen Sonderprobleme im Vergleich zur Spionage für dritte Staaten stellten,
haben die Herausgeber Fälle aus diesem Bereich zu Recht nicht in ihre
Dokumentation aufgenommen (S. XXXIII, LIV).
Nachdem eine Amnestie für
DDR-Spione, von Politikern aus allen Parteien zeitweise erwogen, letztlich
verworfen worden war, gelangte die Rechtsfrage vor das Bundesverfassungsgericht.
Geltend gemacht wurden Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung (Art. 31)
und gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3). Könnten –
so hieß es – nach der Haager Landkriegsordnung Spione, die „glücklich“ in ihren
Heimatstaat zurückgekehrt seien, nach dem Kriege vom ehemaligen Feindstaat
nicht mehr strafrechtlich belangt werden, so müsse dies erst recht gelten, wenn
der Heimatstaat – wie im Falle der DDR – mit dem ehemals ausspionierten Staat
auf friedlich-demokratischem Wege vereinigt worden sei; denn andernfalls hätten
DDR-Spione sich besser gestanden, wenn die DDR von der Bundesrepublik
kriegerisch erobert worden wäre (S. XLVI). Aus dem Gleichheitssatz wurde
abgeleitet, daß Spionage für das eigene Land DDR-Spionen so wenig vorgeworfen
werden könne wie bundesdeutschen Spionen (S. XLVII); der Unterschied bestehe
nur darin, daß ihr Staat im Kalten Krieg unterlegen sei.
Das Bundesverfassungsgericht hat
sich diesen Argumenten zwar nicht angeschlossen; seine Entscheidung hat jedoch
„in der Tendenz“ (S. XLV) fast zum selben Ergebnis geführt, indem es auf die
besondere Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hingewiesen hat und
diesen als nicht gewahrt ansah bei Anklagen bzw. Verurteilungen gegenüber
DDR-Bürgern, die ausschließlich von der DDR oder von Ländern aus, in denen eine
Auslieferung nicht zu erwarten gewesen sei, gehandelt hätten ( S. XLVII). Diese
Entscheidung hat dazu geführt, daß ein großer Teil der eingeleiteten Verfahren
eingestellt wurde (Zahlen S. L f.); die wenigen Verurteilungen beruhten
teilweise noch auf Begleitdelikten (Nötigung, Erpressung, Freiheitsberaubung,
Körperverletzung), so beispielsweise im Falle des Leiters der Hauptverwaltung A
des Ministeriums für Staatssicherheit Markus Wolf, der im erstinstanzlichen
Verfahren vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu immerhin sechs Jahren Freiheitsstrafe
verurteilt wurde, letztlich jedoch, nachdem der Bundesgerichtshof mit Rücksicht
auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Urteil aufgehoben und
die Sache zurückverwiesen hatte, in erneuter Hauptverhandlung zu einer
Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Bewährung verurteilt wurde. Die
Dokumentation dieses Verfahrens und weiterer Verfahren gegen Angehörige der
Hauptverwaltung A füllt den ersten Teilband. Der zweite Teilband dokumentiert
Verfahren gegen Angehörige anderer Abteilungen des MfS und gegen Angehörige des
militärischen Nachrichtendienstes der DDR sowie zwei „beispielhafte
Spionagefälle“ (Spionage bei der NATO und Spionage beim Bundesnachrichtendienst).
Die Auswahl der dokumentierten Fälle orientiert sich besonders an den vom
Generalbundesanwalt geführten sog. Strukturverfahren, die auf eine möglichst
vollständige Erfassung und Darstellung der kriminogenen Strukturen zielten, in
der die Beschuldigten agiert hatten (S. LIV).
Auch dieser Band ist mit einer
ausführlichen Einführung der Herausgeber versehen, welche die oben knapp
zusammengefaßte Entwicklung mit vielen weiteren rechtstatsächlichen Details
darstellt; sie enthält daneben eine Schilderung der Organisationsstruktur und
der Arbeit des MfS. Der Band bietet ferner neben Namens- und Sachverzeichnis
ein Ortsregister und ein Gesetzesregister sowie Schaubilder zu den
Nachrichtendiensten der DDR. Damit stehen der wissenschaftlichen Behandlung der
Thematik neben dem Quellenmaterial nützliche Erschließungsmittel zur Verfügung.
Das wissenschaftliche Interesse
an der Auseinandersetzung mit der Rechtsgeschichte der DDR und mit ihrer –
ebenfalls inzwischen Rechtsgeschichte bzw. juristische Zeitgeschichte
gewordenen – rechtlichen Aufarbeitung hat, wenn der Eindruck nicht trügt, in
letzter Zeit sowohl bei Historikern wie bei Juristen abgenommen; dies ist
bedauerlich. Zwar kann es einerseits durchaus wissenschaftlich sinnvoll sein, historische
Auseinandersetzung aus einer gewissen zeitlichen Distanz heraus anzugehen. Doch
kann ein zu langes Zuwarten dazu führen, daß – wie man nach 1945 gesehen hat –
die Enkelgeneration dasjenige nachholt, was die Zeitgenossen- und die nächstfolgende
Generation versäumt haben, und daß sie dabei mitunter in einen Übereifer
verfällt, der rechtsstaatliche Schranken nur noch als Hemmnisse bei der
„Aufarbeitung“ begreift und den Hinweis auf sie womöglich als Sympathie mit
Tätern denunziert. Die Herausgeber leisten jedenfalls mit der angezeigten
Edition ihren Beitrag, solchen Tendenzen entgegenzuwirken. Es ist zu hoffen,
daß das von ihnen gebotene Quellenmaterial von der Wissenschaft genutzt wird.
Hagen / Westfalen Thomas
Vormbaum