Seckelmann, Margrit, Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich, 1871-1914 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 201 = Recht in der industriellen Revolution 2). Klostermann, Frankfurt am Main 2006. XII, 527 S. Besprochen von Elmar Wadle.

 

Die in einer neuen Reihe des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte erschienene Arbeit geht auf eine 2004 angenommene Frankfurter Dissertation (Erstgutachter: Michael Stolleis) zurück. Das Werk schildert vor allem die Vor- und Entstehungsgeschichte des Reichspatentgesetzes von 1877, aber auch dessen Wirkung und Fortentwicklung bis zum Jahre 1913. Die Autorin wählt eine weite Perspektive, die mit den in den Titel eingegangenen Stichworten „Industrialisierung“ und „Internationalisierung“ angedeutet ist. Die fünf umfänglichen Kapitel, die der Geschichte des deutschen Patentrechts vor dem Ersten Weltkrieg gewidmet sind, werden umrahmt von einer Einleitung und einer „Schlussbetrachtung“, die beide einen eher ungewöhnlichen Zuschnitt aufweisen.

 

Die Einleitung präsentiert zunächst einige um die Jahrhundertwende geäußerte Urteile zu den „segensreichen Wirkungen des Gesetzes“ (S. 2) von 1877. Der Patentschutz sei geradezu euphorisch gefeiert, der technologische Fortschritt zum „Kulturfaktor erster Ordnung“ (Felix Damme) erklärt worden. Es folgen – etwas unvermittelt – sechs Thesen über die tragenden Gründe für Entstehung und Entwicklung des Patentgesetzes: Seine Rolle als „Reaktionsbeschleuniger“ des Innovationsprozesses (1), als Projekt der wechselseitigen Beeinflussung von Recht und Technik, von Recht und Wirtschaft (2), als Zeichen des Sieges der Verrechtlichung und Verstaatlichung über die Verbändeautonomie (3); als Produkt der internationalen Verflechtung (4); als Mischform zwischen staatlicher und gesellschaftlicher Steuerung (5). Alle diese Thesen werden im Kontext industrie- und technikhistorischer („Erfindung der Methode des Erfindens“) sowie wirtschaftstheoretischer Aspekte vorgestellt sowie mit verbands- und wirtschaftspolitischen Ansätzen sowie mit Prozessen der Professionalisierung und Internationalisierung verbunden. Es schließt sich – wiederum etwas unvermittelt – eine Bestandsaufnahme zu „Quellen und Forschungen“ und zur „Vorgehensweise“ der Arbeit an: Ein unternehmenstheoretischer und akteurs- und netzwerkorientierter Ansatz soll für die Beschreibung der Kodifikationsgeschichte und internationale Bewegung (Kap. I/II) gelten, ebenso für die „Steuervorstellungen“ des Gesetzgebers und der Gesetzesanwender (Kap. III), für einzelne Aspekte bei der Anwendung des Patentgesetzes in formeller (Kap. IV) sowie in materieller Hinsicht (Kap. V).

 

Bei der Realisierung dieses Programms entscheidet sich die Verfasserin für eher klassisch wirkende Erörterungen zur Legitimation des Privilegienwesens („Der lange Abschied vom Privileg“) angesichts der Freihandelsidee, wobei britische, amerikanische und französische Entwicklungslinien mit jenen der wichtigsten Staaten des Deutschen Bundes verknüpft werden – und zwar im Wesentlichen unter Beschränkung auf die vorhandene Literatur. Gleiches gilt für die eigentliche Vorgeschichte des Reichspatentgesetzes (Kap. II): Zu erwähnen sind die Beiträge des Zollvereins, der Paulskirchenverfassung und des Deutschen Bundes, die Unsicherheit der Rechts- und Staatswissenschaftler, der Patentstreit und die Neulegitimierung des Schutzes, die Wirkung der rechtsvergleichenden Literatur und der Weltausstellungen und schließlich das Streben nach „innerer Reichsgründung“ nach der „großen Depression“. Kapitel III („Steuerung im Verbändestaat“) beschreibt als Ziel der Kodifikation des Patentrechts die Bekämpfung des Betriebsgeheimnisses. Nachdem die bald sichtbar werdenden Steuerdefizite in der Novelle von 1891 beseitigt waren, öffnete sich das nationale Patentsystem stärker den Ansprüchen der internationalen Harmonisierung und ermöglichte den Beitritt zur Pariser Verbandsübereinkunft. Die Fortentwicklung der formellen Seite des Patentrechts wird anhand des inneren Strukturwandels des Patentamts und seiner Vorgehensweise verfolgt (Kap. IV). Das Entstehen von „Patentbürokraten“ und der restriktiven Praxis bei der Patentvergabe werden ebenso gut belegt wie die Schaffung des Patentgerichts, die Debatte zwischen Technikern und Juristen ebenso wie die Anfänge der Patentanwaltschaft. Kapitel V begreift die Diskussion um das 1873 kodifizierte Anmelderprinzip als Ausdruck von „Verteilungskämpfen um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt“. Die Zunahme der Gegensätze von forschenden Angestellten und Unternehmungsleitung („Managerelite“) entzündete sich am Anmelderprinzip, das – wie die Autorin zu Recht belegen kann – gar nicht geschaffen worden war, um die Interessen der angestellten Erfinder zurückzudrängen; im Laufe der Entwicklung geriet diese Entscheidung aber just deshalb immer stärker in die Kritik und löste den Reformentwurf von 1913 aus.

 

Die „Schlussbetrachtung“ – mit einem weit ausholenden Titel („Zum Verhältnis von Recht, Wirtschaft und Technik im Zusammenhang mit dem Reichspatentgesetz von 1877“) – erfüllt zwei Funktionen: Zum einen fasst sie die wichtigsten Ergebnisse mit einem „Rückbezug“ auf die sechs einleitenden Thesen zusammen; zum andern versucht sie, die gewonnenen Einsichten mit zentralen Fragen der aktuellen Diskussion (Schutz von Genen und Gensequenzen, Schutz von Computersoftware und deren Quellcodes) unter dem allgemeinen Aspekt der Verteilung von Ausschluss- und Nutzungsrechten in Verbindung zu bringen. In abschließenden „Perspektiven“ wird die Ambivalenz des Patentschutzes und der von ihm gesetzten Steuerungsimpulse betont. Die Autorin kommt dabei zu dem lapidaren Ergebnis, dass auch heute in einem ganz anders geordneten Staatswesen eine feste Rahmenordnung erforderlich ist („Der kommunikative Staat sollte als Staatsform des Informationszeitalters die widerstreitenden Interessen moderieren und die Rahmenbedingungen für einen fairen Interessenausgleich sicherstellen“, S. 424).

 

Die Arbeit bietet viel Neues, indem sie sich zum Ziel gesetzt hat, die Entwicklung des deutschen Patentrechts bis 1913 in einem wirtschafts-, sozial- und technikhistorischen Bezugsfeld darzustellen. Die Suche nach der richtigen Gestalt des Patentrechts erscheint als vielschichtiges Phänomen; bisweilen droht die Suche nach dem Bezugsfeld die Beschreibung der eigentlichen Rechtsentwicklung zu überlagern. Gleichwohl verdient das Werk breite Beachtung. Dies gilt insbesondere für die intensiv recherchierten Kapitel IV und V.

 

Für die Vorgeschichte (Kapitel I und II) gilt dies nicht in gleicher Weise. Hier wird manche Linie sehr großzügig gezogen. So wird z.B. die übergroße Vielfalt des Privilegienwesens allzu pauschal behandelt. Bei der Betrachtung der frühen deutschen Patentgesetze wird kaum reflektiert, dass wir – von wenigen Ausnahmen, wie Preußen (Man vgl. die von Seckelmann zitierte Arbeit von Alfred Heggen.) und Württemberg (Dazu vgl. man jetzt: Matthias Gehm, Das württembergische Patentrecht im 19. Jahrhundert, iur. Diss. Saarbrücken 2001.) abgesehen – nur wenig über die Praxis der Patenterteilung wissen. Ein anderes Beispiel bietet die Darstellung zu Savigny und seinen Umgang mit dem schillernden Begriff „Geistiges Eigentum“. Seckelmann bewertet diese Haltung allein nach der Perspektive des Theoretikers; dass Savigny als Staatsrat und Minister auch eine praktisch orientierte Rechtspolitik betrieben hat (Dazu siehe auch meinen Aufsatz: Savignys Beitrag zum Urheberrecht, in: Gerhard Lüke (Hg.), Grundfragen des Privatrechts, Köln 1989, S. 95-145; auch in: Elmar Wadle, Geistiges Eigentum, Bausteine zur Rechtsgeschichte I, Weinheim 1996, S. 257-307), wird übergangen. Derartige Defizite mögen einer mehr als deutlichen Vorliebe für theoretische Erklärungsansätze geschuldet sein; sie mindern indes den Wert der anregenden und genauen Recherchen in den späteren Kapiteln keineswegs.

 

Saarbrücken                                                                                                              Elmar Wadle