Richterrecht und Rechtsfortbildung in der europäischen
Rechtsgemeinschaft, hg. v. Schulze, Reiner/Seif, Ulrike. Mohr (Siebeck),
Tübingen 2003. VIII, 200 S. Besprochen von Filippo Ranieri.
Der hier anzuzeigende Band enthält die Beiträge, die bei der
von den Herausgebern Ende April 2002 in Münster veranstalteten Tagung
„Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft.
Vorbildfunktion des englischen Richterrechts?“ vorgetragen wurden. Das
Europäische Gemeinschaftsrecht, sowohl das primäre als auch das sekundäre,
wurde und wird bis heute wesentlich von der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs (EuGH) geprägt. Wesentliche Aspekte des Rechts der Grundfreiheiten
sind bekanntlich aus einem Geflecht von Präjudizien des Gerichtshofs
entstanden. Man hat in der Vergangenheit bereits mehrfach und ganz zu Recht behauptet,
dass das heutige Europäische Gemeinschaftsrecht sich eigentlich zu einem System
von „Case Law“ entwickelt hat. Titel und Aufgabenstellung der Tagung betrafen
deshalb eine außerordentlich aktuelle Frage der heutigen europäischen
Rechtsentwicklung. Die Nähe zum englischen Recht die dem Programm der Tagung
zugrunde lag, wird allerdings aus der Zusammenstellung der hier versammelten
und publizierten Beiträge deutlicher als aus dem Titel des Bandes selbst.
Einiges sei zunächst zum Inhalt desselben hier mitgeteilt. In einer Einführung
beschreiben beide Herausgeber Aufgabenstellung und Zielsetzung der Tagung und
fassen deren wesentliche Ergebnisse zusammen. Zugleich wird darin auf die
jeweiligen einzelnen Beiträge zusammenfassend eingegangen. Es folgen elf
Beiträge in deutscher, französischer und englischer Sprache, die in den drei
Abschnitten des Bandes verteilt sind. In einem ersten Teil, „Historische
Grundlagen des Richterrechts“, sind die rechtshistorischen Beiträge versammelt.
Es handelt sich um David J. Ibbetson, Case-Law and Doctrine: a Historical
Perspective on the English Common Law (S. 27-40); Rudolf Meyer-Pritzl, Der
Urteilsspruch in der europäischen Rechtsgeschichte (S. 41-58); Ignacio Czeguhn,
Der Stilwandel in der deutschen und spanischen Rechtspraxis des 18. und 19.
Jahrhunderts (S. 59-71). In einem zweiten Teil „Richterrecht und richterliche
Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft – Bestandsaufnahme und
Analyse“ werden die Beiträge versammelt, die spezifisch auf das Europäische
Gemeinschaftsrecht eingehen. Es handelt sich im Einzelnen um David A. O.
Edward, Richterrecht in Community Law (S. 75-80); Rodolfo Sacco, Concepts
juridiques et création du droit communautaire par le juge (S. 81-88); Paul
Lagarde, Les lois de police devant la Cour de justice des communautés
européennes (S. 89-98); Ricardo Gosalbo Bono, The development of general
principles of law at national and community level: achieving a balance (S. 99-142).
Der dritte Teil schließlich, „Methoden und Resultate richterlicher
Rechtsfortbildung – englisches, kontinentaleuropäisches und Gemeinschaftsrecht
im Vergleich“ ist spezifisch der Funktion des Richters und dem Präjudizienrecht
im heutigen europäischen Recht gewidmet. Die hier versammelten Beiträge
betreffen sowohl das englische Recht als auch Aspekte des kontinentalen Rechts.
Im Einzelnen handelt es sich um die Artikel von Lord Hope of Craighead, Methods
and results – The place of case law in the legal systems of the UK (S. 145-160);
Thomas Lundmark, „Soft“ stare decisis: the common law doctrine retooled for
Europe (S. 161-168); Eltjo J. H. Schrage, Unjust enrichment – Fundamental rules
of national law undermined, if not entirely set aside by European case law (S.
169-188); Sir Konrad Schiemann, Recent German and French influences on the
development of English law (S. 189-195). Der Umfang der Beiträge ist recht
unterschiedlich. Er geht von mehr als 40 Seiten, etwa beim Artikel von Ricardo
Gosalbo Bono bis auf weniger als zehn Seiten, etwa bei den Beiträgen von David Edward und Rodolfo Sacco.
Der Band selbst wird durch ein Verzeichnis der Autoren und ein Register der
Stichworte abgeschlossen.
Wie bereits oben bemerkt, sind die Problematik des
Richterrechts und die Frage der Bedeutung von judiziellen Präjudizien nicht nur
für das Europäischen Gemeinschaftsrecht, sondern auch für das Recht einzelner
Mitgliedstaaten, heute außerordentlich aktuell. Ebenso aktuell ist die bei
einigen Beiträgen angesprochene Frage des Urteilsstils und der richterlichen
Entscheidungstechnik. Der Band erscheint insoweit zum richtigen Zeitpunkt und
gesellt sich zu vielen anderen aktuellen internationalen Veröffentlichungen zu
dieser Thematik. Hier seien etwa aus den letzten zwei Jahren erwähnt: Stefan
Vogenauer, Zur Geschichte des Präjudizienrechts in England, in: ZNR 2006, S.
48ff.; Philippe Malaurie, Les précédents et le droit, in: Revue internationale
de droit comparé 2006, S. 319ff. und vor allem Mitchel de S.-O.-l’E. Lasser,
Judicial Deliberations. A Comparative Analysis of Transparency and Legitimacy
(Oxford Studies in European Law), Oxford 2004. Weitere aktuelle Literatur
zitieren die Herausgeber in ihrer Einführung. Die Leser dieser Zeitschrift werden
vor allem die rechtshistorischen Beiträge im ersten Teil des Bandes
interessieren. Der englische Rechtshistoriker David J. Ibbetson geht in seinem
Beitrag auf die Geschichte des Präjudizienrechts im Common Law ein. Auf relativ
wenigen Seiten fasst er in prägnanter und meisterhafter Weise die Ergebnisse
der rechtshistorischen Forschung zum historischen Common Law zusammen.
Beachtenswert für den kontinentalen Leser ist insbesondere die Beobachtung, dass
das Common Law des 17. und 18. Jahrhunderts keinesfalls eine strenge Bindung an
die Präjudizien kannte und dass das heutige strenge Verständnis der Regeln der
„stare decisis“ erst seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts sich bei den
englischen Gerichten wirklich durchgesetzt hat. Ein solches Verständnis der
Präjudizien korreliert also mit der gleichzeitigen Reform der englischen
Gerichtsverfassung und des Publikationswesens bei den englischen Reports seit
der Mitte des 19. Jahrhunderts. Rudolf Meyer-Pritzl beschreibt die Technik der
Aktenrelation und der Urteilstechnik in der europäischen Rechtsgeschichte. Er
eröffnet seinen Beitrag mit einem Hinweis auf die Feststellung des Zweiten
Senats des Deutschen Bundesverfassungsgerichts in einem Beschluss vom 8. April
1987 zur Zulässigkeit der richterlichen Rechtsfortbildung (BVerfGE 75, 223ff.,
insbes. 244), die ihre Rechtsfertigung in der gesamten europäischen
Rechtstradition fände. Der Beitrag beginnt in der Tat mit dem prätorischen
Recht im klassischen Römischen Recht (S. 42-49) und setzt sich später mit den
Grundlagen der Urteilstechnik im Zeitalter des Ius Commune fort (S. 50ff.).
Hier werden die Decisiones der Rota Romana, die Rechtsprechung des Parlament de
Paris, die Technik der Aktenrelation am Reichskammergericht (S. 52ff.)
angesprochen. In einem vierten Teil (S. 54ff.) geht der Beitrag auf die
Entwicklung „der einzelnen Urteilsstile im Europa des 18. und zu Beginn des 19.
Jahrhunderts“ ein. Der Rezensent hegt hier allerdings gewisse Zweifel, ob es sinnvoll
ist, das klassische römische Recht und die Entwicklung des ius honorarium des prätorischen Edictum in diesen
gesamteuropäischen Überblick miteinzubeziehen. Die heutige kontinentale
Rechtstradition setzt eigentlich mit der Wiederentdeckung der Rechtsstudiums im
10. Jahrhundert an den norditalienischen Universitäten an. Verbindungslinien
des heutigen kontinentalen Rechts, auch historische, zu den genannten Aspekten
des klassischen römischen Rechts, sind m. E. kaum konstruierbar. Die
Darstellung ist notgedrungen sehr kursorisch, auch was die Literaturhinweise
angeht. Gerade auf dem Gebiet der Geschichte der Urteilstechnik im deutschen
Usus modernus und im französischen Ancien droit hatte der Rezensent in den
vergangenen Jahren eine Vielzahl von Veröffentlichungen vorgelegt (vgl. etwa F.
Ranieri, Das Reichskammergericht und der gemeinrechtliche Ursprung der
deutschen zivilrechtlichen Argumentationstechnik, in: Zeitschrift für
Europäisches Privatrecht 1997, S. 718-734), die der Verfasser leider überhaupt nicht
zu kennen scheint. Dies ist umso erstaunlicher, als gerade dieselben Studien
wenige Seiten später im Beitrag Ignacio Czeguhns umfassend zitiert und
verwertet werden. Hier beschreibt der Autor die Entwicklung der Urteilstechnik
auf der spanischen Halbinsel. Besonders erwähnenswert ist die Bedeutung der
Präjudizien als Rechtsquelle im spanischen Zivilrecht. Bereits im 19.
Jahrhundert kennt das spanische Zivilprozessrecht die Möglichkeit, wegen
Verletzung einer ständigen Rechtsprechung des Tribunal Supremo Kassationsrekurs
einzulegen. Im spanischen Recht spricht man hier von der „doctrina legal“. Eine
solche offene Anerkennung der Präzedenzwirkung der ständigen Rechtsprechung des
höchsten spanischen Gerichtshofs hat übrigens kürzlich bei der Reform des spanischen
Zivilprozessrechts Aufnahme im Gesetz gefunden. Zur Bedeutung der
Rechtsprechung im Europäischen Gemeinschaftsrecht besonders lesenswert ist
ferner der Beitrag David A. O. Edwards. Hier wird im Einzelnen die
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs historisch analysiert. Es ist
keinesfalls überraschend, dass gerade die britischen Autoren diese besondere
Bedeutung der Rechtsprechung des EuGH herausstellen. Besonders überlegenswert
und interessant wäre es gewesen, der Frage nachzugehen, ob es Unterschiede in
der Wahrnehmung des Präjudiziencharakters und der richterrechtlichen
Fortbildungsfunktion der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei den
Autoren aus dem Kontinent und denjenigen aus Großbritannien gibt. Gerade die
Vorbildfunktion des englischen Common Law für die Entwicklung des Europäischen
Gemeinschaftsrechts stellte eines der Ziele und der Absichten bei der Planung
der erwähnten Münsteraner Tagung dar. Ob es einen „europäischen Richter“
wirklich gibt oder ob die richterlichen Persönlichkeiten am Europäischen
Gerichtshof doch ihre juristische und nationale Prägung behalten, ist bei der
Tagung und insoweit auch bei den Beiträgen nicht immer offen angesprochen
worden. Rodolfo Sacco hegt sogar Zweifel, ob eine gemeinsame Verständigungsmöglichkeit
zwischen den europäischen Richtern existieren kann oder ob diese vielmehr
wesentlich von ihrer nationalen und juristischen Vorbildung geprägt bleiben.
Das heutige europäische Recht ist wesentlich durch die Rechtsprechung der
Gerichtshöfe geprägt und fortgebildet worden. Insoweit gehen die Beiträge über
das Europäische Gemeinschaftsrecht hinaus und beschreiben einen strukturellen
Aspekt von zentraler Bedeutung bei der heutigen europäischen Rechtsentwicklung.
Besonders erwähnenswert ist die offene und rechtsvergleichende
Argumentationsweise, die insbesondere die englischen Gerichtshöfe heute
charakterisiert. Das House of Lords hatte in den letzten Jahren mehrfach
Gelegenheit, bei zentralen Entscheidungen Präjudizien und Lösungen aus der
deutschen und aus der französischen Rechtsprechung als „persuasive authority“
heranzuziehen. Ob eine solche europäische Offenheit, die wir übrigens ebenso in
der österreichischen, schweizerischen und niederländischen Rechtsprechung
beobachten können, auch in der Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs
und der französischen Cour de cassation existiert, ist bis heute allerdings
mehr als zweifelhaft. Der Band verbindet bei den vielen hier versammelten
Beiträgen Juristen unterschiedlicher nationaler Prägung und liefert einen
schönen aktuellen Beitrag zu einem zentralen Aspekt des heutigen europäischen
Rechts. Auch der Rechtshistoriker wird aus der Lektüre viel lernen und
wertvolle Anregungen gewinnen können.
Saarbrücken Filippo
Ranieri