Reinhardt, Volker, Der unheimliche Papst. Alexander VI. Borgia 1431-1503. Beck, München 2005. 277 S., 12 Abb. 1 Stammbaum, 1 Karte. Besprochen von Petra Roscheck.
Der zweite Borgia
auf dem Petersthron zählt zu den herausragenden, aber auch umstrittensten
Gestalten nicht nur der Kirchengeschichte. Mit diplomatischem Geschick, unter
Ausschöpfung aller erzielbarer finanzieller Ressourcen und durch militärischen
Einsatz war es ihm während seines elfjährigen Pontifikats gelungen, die
geschwächte Position des Papsttums zu festigen, den Einfluß der römischen
Adelsgeschlechter zurückzudrängen, den Kirchenstaat vor dem inneren Zerfall und
der äußeren Bedrohung durch benachbarte Potentaten und ausländische Mächte zu
bewahren. Er zeichnete sich als kluger Taktiker, weitblickender Mediator bei
der Aufteilung der Neuen Welt in Einflußsphären, kenntnisreicher Administrator,
eifriger Ordensförderer sowie großzügiger Mäzen aus, betrieb eine rege zivile
wie militärische Bautätigkeit und schenkte auch der römischen Universität seine
Aufmerksamkeit. Ohne eigentliche Berufung zum Priesteramt, doch von
unbezweifelbarer persönlicher Frömmigkeit, bekämpfte er erfolgreich die
böhmische Häresie, das Ketzerunwesen in der Lombardei sowie Tendenzen in der
Niederlanden, die kirchlichen Freiheiten zu beschneiden und skizzierte den
Entwurf für eine weitreichende Kirchenreform. Durch seine entschlossene und
oftmals rigorose Handlungsweise hatte sich Alexander VI. viele Feinde gemacht,
sah sich vom Tage seiner Wahl an dem Verdacht der Simonie ausgesetzt,
entfremdete Kirchengut und führte ein Privatleben, das nicht den kanonischen
Regeln entsprach.
So entstand schon zu
seinen Lebzeiten eine schwarze Legende, die jedoch erst Jahrhunderte später, in
der Epoche der Romantik, ihre volle Tragweite erreichte und ungeachtet einer
Reihe korrigierender Forschungsarbeiten immer noch virulent ist. Werk und
Person Alexanders VI. harren folglich weiterhin einer zusammenfassenden Wertung.
Ein breites Publikum anvisierend hat sich Volker Reinhardt dieser Aufgabe
gestellt, und da der Autor dem kleinen Kreis deutschsprachiger Historiker
angehört, die sich in ihrer Tätigkeit der Geschichte Italiens verschrieben
haben, seinen Forschungsschwerpunkt auf das sogenannte Zeitalter der
Renaissance sowie das Phänomen des Nepotismus ausgerichtet hat und dazu in
seinen beiden akademischen Schriften die Fähigkeit demonstriert hat, selbst
spröde Themen in einem angenehmen Schreibstil, wenn auch mit der Neigung zu
überpointierten Formulierungen, zu präsentieren, schienen gute Voraussetzungen
gegeben, eine fundierte Monographie zu liefern. Wer Reinhardts Publikationen
kennt weiß, daß er nicht mit einer klassischen, an der Politik-, Diplomatie-,
Rechts- und Kirchengeschichte orientierten Darstellung rechnen darf. Doch auch
eine gründliche kulturhistorische Aufarbeitung der in Schüller-Pirolis
Vorstudien schon anklingenden, für ein objektives Urteil über Alexander VI.
unverzichtbaren Frage nach dem allgemeinen geistigen Klima dieser so
kontrastreichen Ära, wäre hochwillkommen gewesen. Aber die vom Autor selbst im
einleitenden Kapitel noch zusätzlich erhöhten Erwartungen des Lesers erfüllen
sich mitnichten:
Nicht nur der Bezug
auf die zeitgenössischen Mentalitäten, auch die Einbettung der Geschehnisse in
den politischen Gesamtkontext fehlt nahezu vollkommen. Weder die europäische
Mächtekonstellation, noch die diplomatischen Aktivitäten, nicht einmal die
prekäre Lage des Kirchenstaates werden ausführlich vorgestellt, geschweige denn
analysiert. Das Wirken Alexanders VI. findet gleichsam im luftleeren Raum statt
(auch die beigegebene Zeittafel vermittelt keine Orientierung), so daß sich
einem Leser, der nicht bereits gut informiert ist, Sinn und Zweck der päpstlichen
Aktionen nicht erschließen können. Rodrigo de Borgias Werdegang, die
Konsolidierung seiner Position als Papst innerhalb der Kurie, im Kirchenstaat,
gegenüber den italienischen Potentaten sowie Neapel, Spanien und Frankreich,
die Konfrontation mit Savonarola und seine geschmeidige Orientdiplomatie werden
nur angerissen, seine Tätigkeit als oberster Kirchenfürst bis auf eine
unbefriedigend knapp und keinerlei Auswertung unterzogene Erwähnung des
Reformplans von 1497 ebenso vollkommen ausgeblendet wie sein beeindruckendes
Mäzenatentum, das eine Flut zeitgenössischer enkomiastischer Schriften nach
sich gezogen hatte. Der Simonievorwurf wird keiner kirchenrechtlichen
Begutachtung unterzogen, die Erscheinung des Nepotismus nicht erklärt,
keinerlei Vergleich mit vorangegangenen und späteren Entwicklungen angestellt,
keine historische Einordnung vorgenommen. Die Ereignisse um die päpstliche
Dispens für Ludwig XII. schildernd und zu Lasten Alexanders VI. auslegend,
durchschaut der Autor gar die Zusammenhänge - die unerwartete Weigerung der
Johanna von Frankreich, in die Ehescheidung einzuwilligen, sowie die vor ihren
Rechtsbeiständen praktizierte Verzögerungstaktik - nicht.
Eingangs betont
Volker Reinhardt die Wichtigkeit, „sämtliche [!] überlieferten Zeugnisse [...]
einer erneuten Befragung zu unterziehen“ (S. 12), wertet jedoch nicht einmal
alle im Schrifttumsverzeichnis aufgeführten Quellen aus, läßt die umfangreiche
Korrespondenz Alexanders VI. gänzlich unberücksichtigt und begnügt sich mit
neununddreißig Anmerkungen, die lediglich den Fundort dazu noch kaum
aussagekräftiger Zitate aus memoirenähnlichen Narrationen und einigen wenigen
Gesandtschaftsberichten angeben. Ein ganzes Unterkapitel verwendet der Autor
darauf, die Zuverlässigkeit von Zeitzeugenaussagen in Frage zu stellen und
unterzieht sie (vor allem Johannes Burchards Liber notarum) dann doch
keiner kritischen Analyse, erteilt vollmundig „affektgeladene[n]
Vorvereinnahmungen“ eine Absage und bewegt sich dennoch in den Bahnen der schwarzen
Legende, deren Hintergründe er weder detailliert untersucht, noch einem
historischen und literarischen Vergleich unterzieht. Er verspricht seinem Leser, sich eines
„jeglichen moralischen Urteils“ zu enthalten (S. 12) und tut nichts anderes,
als sich permanent zu entrüsten. Davon zeugt die Abqualifizierung von
Neubewertungen Alexanders VI. und seiner Politik als „nur durch vielfältige
Vertuschungs- und Verfälschungsmanöver zu bewerkstelligen[de]“
„Reinwaschungen,“ ohne daß Reinhardt zwischen Konterlegende und wissenschaftlich
fundierter Korrektur unterscheidet oder überhaupt Autoren und Werke nennt und
sich mit ihnen quellenkritisch auseinandersetzt.
Ebenso deutlich
tritt diese Einstellung in seinen Erläuterungen zu den eine schlechte
Druckqualität aufweisenden Abbildungen sowie in seinen Kurzkommentaren - auf
die sich der Leser besser nicht verläßt - zu der in der Bibliographie
verzeichneten Forschungsliteratur zutage. Demgemäß lautet das vom Autor bereits
im Prolog vorweggenommene Fazit: „Die Regierungszeit Alexanders VI. läßt sich
[...] als ein negatives Lehrstück auffassen. Es handelt davon, wie man Macht so
ausübt, daß daraus am Ende Machtverlust hervorgeht. Und es zeigt auf, wie man
reiches finanzielles und politisches Kapital so einsetzt, daß man am Ende ohne soziales
Kapital dasteht. Von der Vernichtung fremder Systeme wie von unfreiwilliger
Selbstzerstörung ist somit die Rede“ (S. 12). Und ergänzend heißt es am Schluß:
„Es handelt von der Verführung und Verblendung durch unbeschränkte Macht. Als
solches ist es bis heute nicht zu Ende geschrieben.“ Doch angesichts einer in
keiner Weise überzeugenden Darstellung der Geschichte des Borgia-Pontifikats
kann der Leser auch keine schlüssige Endbewertung dieser Ära und Einschätzung
ihrer Wirkung auf die weitere Entwicklung des Kirchenstaates, dem die Politik
Alexanders VI. eine jahrhundertelange Unabhängigkeit gesichert hat, erwarten.
Noch weiteres wäre
zu monieren: Unter den aufgeführten Titeln sucht man vergeblich die
grundlegenden Werke von Miquel Batllori, Susanne Schüller-Piroli, Giovanni
Battista Picotti, Giovanni Soranzo, Romeo de Maio oder die von Marion
Herrmann-Röttgen herausgegebene Sammlung von Kongreßvorträgen. Die 2004
erschienene Dissertation von Álvaro Fernández de Cordóva mag allerdings für die
Drucklegung vorliegender Biographie noch nicht zur Verfügung gestanden haben.
Wenig informativ sind die als Überblicksdarstellungen empfohlenen sechs Werke,
von denen vier aus Reinhardts eigener Feder stammen. In der Stammtafel wird die
Nachkommenschaft Cesare Borgias unpräzise mit „verschiedene französische
Hochadelsfamilien“ angegeben, während die von seiner Schwester Lucrezia
abstammenden Herzöge von Guise keine Erwähnung finden.
Neben den
angeführten methodologischen Schwächen weist Volker Reinhardts Buch (wie übrigens
alle seine jüngeren Publikationen) auch terminologische Mängel auf. So ist
wiederholt, wo es sich schlicht um eine innerkuriale Opposition handelt, von
„Gegenkirche,“ unverbindlich von „nützlichen Netzwerken“ und „sozialem Kapital“
oder ohne Erläuterung gar von „religiösen Halbwahrheiten“ (S. 39) die Rede. Der
allem Anschein nach ohne Sorgfalt und häufig unreflektiert heruntergeschriebene
Text ist durchsetzt von Anachronismen – „Schlagzeile“ (S.26) „causes célèbres“
(S. 30), „Husarenstück“ (S. 115), „Koffer packen“ (S. 135), „Terrorangst“ (S.
145, auch grammatikalisch bedenklich), „Terminkalender“ (S. 207) -,
unangebrachter Aktualisierung des Vokabulars unter Rückgriff auf schlechte
Gegenwartssprache – „Lebensabschnittspartner“ (S. 54), „Politshow“ (S. 67),
„Image,“ „Publicity“ (S. 74), „Insider“ (S. 79) -, stilistischen Platitüden wie
„rauschende Ballnächte“ (S. 15) und „sorglose Sommertage“ (S. 45), Kuriositäten
(S. 187: „Hier nämlich kommandierte mit Caterina Sforza eine Soldatin vom
Format ihrer Vorväter.“ S. 193: „Nicht Strafe, sondern Erwählung wäre dann des
Sturmes Kern.“ S. 198: „Spätestens hier mußte die Zuhörerschaft des
Ex-Gesandten eigentlich skeptisch mit den Füßen scharren.“ S. 235: „Die
plausibelste Antwort lautet: nein und ja.“), durchweg reißerischen
Überschriften und unpassenden Metaphern. Beispielsweise bemüht Volker Reinhardt
da, wo in der stummen Auseinandersetzung zwischen Alexander VI. und Kardinal
Ascanio Sforza allenfalls der Vergleich mit einem Duell angebracht gewesen
wäre, in sieben Zeilen das Bild des Pas de deux. Wollte man es aufgreifen,
müßte man nun schreiben, daß der Autor beim Entrechat gestürzt ist.
Angesichts der
chronologisch hohen Publikationsdichte von Reinhardts Schriften kann darüber
hinweggesehen werden, daß für eine Veröffentlichung (hier allerdings ohne die
zeitliche Festlegung auf das Jahr 1559) eine Karte zum dritten Mal Verwendung
findet oder sich auch einmal eine Unachtsamkeit einschleicht wie auf S. 188,
auf der Gaius Iulius Caesar als „antiker Imperator“ bezeichnet wird. Man wird
jedoch den Verdacht nicht los, daß mit diesem bedauerlicherweise nicht anders
als unausgegoren zu nennenden Werk ein durch das aktuelle Zeitgeschehen und
angelsächsische Kolportageromane gewecktes Interesse kommerziell ausgebeutet
werden sollte. Weit davon entfernt nämlich, ein Meilenstein „auf dem langen,
gewundenen Weg zu einem fernen Ziel: der historischen Wahrheit“ (S. 12) zu
sein, stellt dieses Buch realiter einen gravierenden Rückschritt dar.
Muß man es also als
überflüssig ansehen? Mit Hinblick auf den anvisierten Leserkreis wie auf das
Fachpublikum ist diese Frage leider zu bejahen.
Saarbrücken Petra
Roscheck