Rau, Kurt, Augsburger Kinderhexenprozesse 1625-1730. Böhlau, Wien 2006. 472 S., 14 Abb. Besprochen von Harald Maihold.

 

Im Vergleich zum Gesamtphänomen der Hexenverfolgungen sind die Hexenprozesse gegen Kinder und Jugendliche bisher wenig erforscht (S. 23ff.). Seit einiger Zeit ist man sich zwar bewusst, dass Prozesse gegen Kinder keinesfalls eine Randerscheinung oder einen „Sonderfall“ darstellen, sondern dass ihnen innerhalb des Gesamtphänomens der Hexenverfolgung ein besonderer Stellenwert zukommt. Doch die Hintergründe dieser Prozesse, insbesondere die Motivationen, die Kinder und Jugendliche zu einer Beteiligung veranlasst haben, sind bisher weitgehend ungeklärt. Das Buch Kurt Raus, eine historische Dissertation aus Zürich, reagiert insofern auf eine „Marktlücke“.

 

Nach einer Einleitung zu methodischen Fragen (11ff.) beginnt das Buch mit einem erfreulich kurzen Bericht über die Entwicklung der Hexenlehre, des Strafprozesses und der Augsburger Gerichtsverfassung (34ff.). Es schließt sich ein Kapitel über die Verfolgung der Kinderhexen an (68ff.), das ausführlich auf die prozessuale Strafmündigkeit und auf die Wahrnehmung des Phänomens in zeitgenössischen Publikationen eingeht und auch bereits statistische Informationen zu den Prozessen in Augsburg liefert. In den beiden umfangreichsten Kapiteln werden sodann die acht Kinderhexenprozesse in Augsburg anhand der überlieferten Quellen in chronologischer Reihenfolge vorgestellt (117ff.), wobei das Ende des 30jährigen Krieges als Zäsur deutlich wird. Die Ergebnisse der ausführlichen Untersuchungen werden jeweils auf wenigen Seiten zusammengefasst. Die anschließenden Kapitel fassen die Erkenntnisse zu einem Profil der Kinderhexen nach Geschlecht, Konfession und sozialem Status zusammen (324ff., 341ff,). Schließlich fragt Rau nach den Beweggründen der Kinder (356ff.). Im Anhang finden sich nicht nur eine umfangreiche Bibliographie und ein Register, sondern auch ein Tabellenverzeichnis, durch welches die statistischen Aufstellungen im Text leicht zugänglich sind (425f.).

 

Das Fazit überrascht: In der Zeit zwischen 1618 und 1730 sind in Augsburg insgesamt acht Verfahren mit Beteiligung von 45 Kindern überliefert. 60 Prozent der überlieferten Hexenprozesse in Augsburg wurden gegen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren geführt (in der Zeit nach dem 30jährigen Krieg waren es sogar 69 %), und zwar überwiegend gegen Jungen (111ff.). Die Verfolgung gipfelt in einem Prozess gegen 33 „Teufelskinder“ in den Jahren 1723 bis 1730 (296ff.). Damit bestätigt sich, dass Kinderhexenprozesse kein Randphänomen waren.

 

Bei der Untersuchung der Gründe für dieses zahlreiche Auftreten von Kindern in den Hexenprozessen berücksichtigt Rau die Erkenntnisse der modernen Kinderpsychologie. Er weist nach, wie abhängig die Kinderhexenprozesse von der Entwicklung des „gelehrten“, kollektiven Hexenbildes waren, insbesondere seiner Elemente des Teufelspaktes, des Hexenfluges und des Hexensabbats. Als sich dieses Hexenbild in der Bevölkerung durchsetzte, griffen es die Kinder in phantasievollen Lügengeschichten auf. Kindlicher Spiel- und Abenteuertrieb, aber auch die in anderen Lebensbereichen verdrängte Sexualität habe dies begünstigt. Die politischen und ökonomischen Bedingungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre, gekennzeichnet durch Agrarkrisen und Hungersnöte, hätten zudem bei den Kindern zu psychischen Störungen geführt, die sich in Endzeitängsten, Schuldgefühlen, Hilflosigkeit und überzogenem Geltungsdrang äußerten, so dass die Kinder ihre „freiwilligen“ Geständnisse ohne eigentlichen Druck oder gar Folter, abgelegt hätten.

 

Im Vordergrund der Darstellung Raus steht die Kinderhexe und ihre Psychologie. Die Reaktionen der Gerichtsorgane werden dagegen in den systematischen Kapiteln nicht zum Thema gemacht. Hier muss sich der Leser an die ausführliche chronologische Darstellung halten. Sie gewährt Einblicke in die Gerichtspraxis Augsburgs, die man nicht als gemäßigt bezeichnen kann. Angesichts der allgemein verbreiteten Hexenlehre konnte der Rat, der mit der Geistlichkeit eine enge Zusammenarbeit pflegte, die Selbstbezichtigungen der kindlichen „Unholde“ kaum als harmlos abtun, ja gerade sie müssen bei den Zeitgenossen, die an das Hexenwesen glaubten, die allergrößte Beunruhigung ausgelöst haben, sah die christlich legitimierte Regierung dadurch doch das Fortbestehen der christlichen Bevölkerung in höchstem Maße bedroht. Die Verfahren endeten zwar nicht in jedem Fall, aber doch häufig mit dem Todesurteil, jedenfalls aber mit einer körperlichen Züchtigung.

 

Insgesamt verbindet das Buch akribische Quellenarbeit mit weiterführenden systematischen Gedanken über die psychologischen Hintergründe der Kinderhexenprozesse und bietet damit einen gelungenen Zugang zu einem interessanten und bisher wenig erforschten Aspekt der Hexenverfolgung. So bleibt der einzige (allerdings nicht vom Autor zu vertretende) Nachteil des Buches, dass sich schon nach kurzer Lektüre Seiten aus dem Leim lösten.

 

Basel                                                                                                  Harald Maihold