Prozesspraxis im alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken, hg.
v. Baumann, Anette/Oestmann, Peter/Wenderhorst, Stefan/Westphal, Sigrid
(= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 50).
Böhlau, Köln 2005. 211 S. Besprochen von Filippo Ranieri.
Das „Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit“, das seit 1998 eng mit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung in Wetzlar kooperiert, veranstaltet seit 1999 im zweijährigen Abstand interdisziplinäre Tagungen für junge Historiker und Rechtshistoriker. Die Ergebnisse werden regelmäßig publiziert. Der Band „Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ wurde bereits in dieser Zeitschrift angezeigt (ZRG, Germ.Abt., 119. Bd. (2002), S.658-664). Die Ergebnisse der letzten Tagung, welche in Wetzlar im Jahre 2004 unter dem Titel „… zu richten nach des Reichs gemeinen Rechten. Höchstrichterliche Rechtsprechung im Alten Reich“ stattfand, werden jetzt im vorliegenden Band veröffentlicht. In der Einleitung „Höchstrichterliche Rechtsprechung im Alten Reich. Einleitende Überlegungen“ (S. 1-15) schildert Peter Oestmann den Forschungsstand auf diesem Gebiet und stellt zugleich die hier veröffentlichten Beiträge kurz vor. Die Forschungen auf dem Gebiet der ehemaligen Reichsgerichtsbarkeit spiegeln in der Tat während der letzten hundert Jahre auch die Veränderungen in Forschungsrichtung und Forschungsinteresse der Deutschen Rechtsgeschichte wider. Seit den zwei bekannten Monographien von Rudolf Smend im Jahre 1911 und Oswald von Gschließer im Jahre 1942 jeweils zum Reichskammergericht und zum Reichshofrat, die noch die Institutionengeschichte privilegierten, ist eine fast unübersehbare Literatur auf diesem Gebiet erschienen. Die Erschließung der Archivbestände von Prozessakten des ehemaligen Reichskammergerichts seit den 70er Jahren hat diesen Forschungen eine neue Arbeitsgrundlage verschafft. Peter Oestmann schildert hier die wesentlichen Schwerpunkte der bisherigen Literatur. Er betont zugleich, dass bestimmte neue Fragestellungen bis heute noch nicht angemessen angegangen worden sind. Zu erwähnen wären hier insbesondere wirtschaftshistorische Untersuchungen anhand der Prozessakten, insbesondere in Zusammenhang mit den heutigen wirtschaftshistorischen Forschungen auf dem Gebiet der Währungsgeschichte und der institutionsökonomischen Analyse von Gerichtsverfahren (so S. 14). Die in diesem Band veröffentlichten Beiträge spiegeln in der Tat die Vielfalt der Forschungsinteressen wider, welche die heutigen Studien auf dem Gebiet der Reichsgerichtsbarkeit charakterisieren.
Zwei Beiträge erforschen in allen Einzelheiten und in ihrem lokalhistorischen Kontext einzelne kammergerichtliche Verfahren. Es handelt sich um zwei Kriminalprozesse. So untersucht Stefan Breit in „Das peinliche Verhör der Katharina Widmann“ (S. 137-180) einen Ehebruchsprozess aus der Stadt Weiden. Die Angeschuldigte war von den Stadtrichtern mit dem Vorwurf konfrontiert worden, sie habe einen anrüchigen Goldschmied finanziell unterstützt und vor allem mit ihm auch ein ehebrecherisches Verhältnis angefangen. Sie war deshalb vom Stadtrichter inhaftiert und später „peinlich“ befragt worden. Ehebruch war nicht das einzige Delikt, welches er ihr zur Last legte. Sie wurde im Laufe des Verfahrens auch der Anwendung magischer Praktiken bezichtigt. Katharina wandte sich nun in ihrer Verzweiflung an die Pfalzgräfin Elisabeth, Gemahlin von Pfalzgraf Ludwig. In ihrer Supplik inszenierte sie sich offenbar glaubwürdig als Opfer einer unrechtmäßigen Behandlung. Der Pfalzgraf ließ sich schließlich von den Bitten seiner Frau erweichen. Am 14. Dezember 1573 befahl er den beiden Amtsleuten des Gemeinschaftsamtes Parkstein-Weiden, Katharina straflos gegen Ausstellung einer Urfehde freizulassen. Die Angeschuldigte war nach 21 Wochen aus der Haft ohne Strafe entlassen worden. Doch der Verdacht des Ehebruchs blieb an ihr haften. Sie war deshalb nach den damaligen Vorstellungen als entehrt anzusehen. Hier setzt die Schadenersatzklage ihres Ehemanns an, eines relativ wohlhabenden Fuhrmanns aus der Stadt Weiden. Die Beschwerden wurden vom Pfalzgraf allerdings zunächst barsch verworfen. Die Angelegenheit führte deshalb im Jahre 1577 zur Anrufung des Kaisers und nach einer längeren Zeit im Jahre 1583 zur Einschaltung des Reichskammergerichts. Sowohl der Kläger als auch seine Frau starben während des Verfahrens. Der Beitrag zeigt allerdings, dass die Anrufung der Reichsgerichtsbarkeit sich im Ergebnis für die Kläger lohnte. Das der Klage stattgebende Urteil des Reichskammergerichts und aufgrund desselben einen im Jahre 1635 abgeschlossenen Vergleich konnten die Erben in der Tat erfolgreich durchsetzen und vollstrecken. Manfred Hörner, „Brudermord und Ehezwist. Die Reichskammergerichtsprozesse der Brüder Gregor und Augustin Einkürn“ (S. 181-211), schildert dagegen einen Mordfall, an welchen sich mehr als ein Dutzend Prozesse anschlossen. Bei der überstürzten Flucht des Täters aus Nördlingen war seine Ehefrau, eine Tochter des verstorbenen Münzmeisters der Stadt, zunächst zurückgeblieben. Ende September 1534 hatte auch sie ihre Heimatstadt verlassen und war mit ihrem Ehemann bei ihrem Schwager in Augsburg untergekommen. An diese Familientragödie knüpften die, vom Verfasser sorgfältig beschriebenen, über Jahrzehnte dauernden gerichtlichen Auseinandersetzungen an, welche zum Teil die kriminalrechtlichen Zuständigkeiten der verfolgenden Behörden und zum Teil die eherechtlichen und ehegüterrechtlichen Auseinandersetzungen der Beteiligten betrafen. Die untersuchte Gerichtsakte informiert hier umfassend über diese Familienaffäre, die über Jahrzehnte Gerichte bis ins Brabantische beschäftigte.
Zwei weitere Beiträge betreffen verfassungsrechtliche Aspekte der ständischen Gerichtsbarkeit im Alten Reich: Nils Meurer, „Die Entwicklung der Austrägalgerichtsbarkeit bis zur Reichskammergerichtsordnung von 1495“ (S. 17-52), und Bernd Marquardt, „Zur reichsgerichtlichen Aberkennung der Herrschergewalt wegen Missbrauchs: Tyrannenprozesse vor dem Reichshofrat am Beispiel des südöstlichen schwäbischen Reichskreises“ (S. 53-89). Beide Reichsgerichte stellen, vor allem im 18. Jahrhundert, ein Instrument des Rechtsschutzes im absolutistischen Fürstenstaat dar. Dies haben die damaligen Reichspublizisten, wie etwa Johann Stephan Pütter im Jahre 1786, bereits durchaus zutreffend erkannt. Gerade diese Form neuzeitlicher Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Fürsten und Reichsuntertanen stellt ein besonderes Strukturmerkmal der Verfassung im Alten Reich dar. Dieser Problematik ist der Beitrag Bernd Marquardts gewidmet. Drei Verfahren werden dabei im Einzelnen analysiert: das Reichshofratsverfahren gegen den Reichsgrafen Ferdinand Karl Franz von Hohenems-Vaduz (1683/84) (S. 62 ff.); das Verfahren gegen den Reichsgrafen Franz Karl Anton von Hohenems-Hohenems (1688-1692) (S. 74ff.) und schließlich die Entmachtung des Reichsgrafen Jakob Hannibal III. von Hohenems-Vaduz (1691-1718) (S. 79ff.). Der Beitrag zeigt deutlich, dass im damaligen System der Reichsverfassung für einen absoluten und schrankenlosen Despotismus kein Raum mehr bestand. Die oberste Reichsgerichtsbarkeit, vor allem des Reichshofrats, stellte einen wirksamen Rechtsschutz der Untertanen dar. Dies relativiert auch die These, dass die Reichsstände durch den Westfälischen Frieden von 1648 ihre volle Souveränität erlangt hätten. Solche Auseinandersetzungen, stellt der Verfasser heraus, waren keinesfalls ausschließlich vom alten Gegensatz zwischen feudalen Strukturen und kommunalen Autonomien geprägt. Gegen die fürstlichen Despoten stellten sich auch Angehörige der Grafenhäuser und benachbarte Fürsten. Im Anhang (S. 85ff.) wird eine vollständige Liste sämtlicher Reichsexekutionen gegen Reichsfürsten zwischen den Jahren 1495-1806 wiedergegeben. Der Verfasser greift hier auf seine umfassende Monographie zurück, die er der Problematik gewidmet hat (vgl. B. Marquardt, Das Römisch-Deutsche Reich als Segmentäres Verfassungssystem (1348-1806/48). Versuch einer neuen Verfassungstheorie auf der Grundlage der Lokalen Herrschaften, Zürich 1999 und neuerdings B. Marquardt, Die „Europäische Union“ des vorindustriellen Zeitalters: Vom Universalreich zum Staatskörper des Ius Publicum Europaeum (800-1800), Zürich 2005). Die Thesen des Verfassers, die hier nur skizzenhaft angedeutet werden konnten, verdienen unbedingt im Rahmen einer neuen Bewertung der verfassungshistorischen Funktion der Reichsgerichtsbarkeit im Alten Reich eine eingehende Würdigung.
Zwei weitere Beiträge greifen wiederum auf die zwischenzeitlich in großer Anzahl publizierten Verzeichnisse von Prozessakten im Rahmen der Neuverzeichnung der vorhandenen und verteilten kammergerichtlichen Archivbestände zurück. Christian Wieland, „Bayerischer Adel und Reichskammergericht im 16. Jahrhundert. Quantifizierende Bemerkungen“ (S. 91-118) analysiert die bayerischen Archivbestände. Im Vordergrund stehen hier die Verfahren am Reichskammergericht, in welche bayerische Landesadlige verwickelt waren. Der Verfasser greift hier auf die Reichskammergerichtsakten als Quellen für sozialgeschichtliche Befunde zurück und bezieht sich dabei auf die inzwischen alten Untersuchungen des Rezensenten (S. 92). Die Gerichtsakten seien „sowohl gelenkte und uniformierte als auch leicht quantifizier- und vergleichbare Quellen, die als eine Art von seriellen Ego-Dokumenten fungieren können“. (So der Verfasser mit Bezug auf Winfried Schulze auf S. 94.) Es folgt eine präzise Umschreibung dessen, was man bei der Aktenauswertung unter Landesadligen zu verstehen habe; anschließend eine Vielzahl von Tabellen, in denen der Verfasser seine quantifizierenden Befunde analysiert und aufstellt. Die für den bayerischen Adel relevanten Prozesse fallen nach Feststellung des Verfassers „auch im Vergleich mit dem allgemeinen Geschäftsanfall am Reichskammergericht nicht aus dem Rahmen. Auch hier gilt die quantitative Steigerung ab 1550, die allerdings einen kontinuierlichen Anstieg bis 1600 einleitete, der den der ersten Jahrhunderthälfte auf höherem Niveau fortsetzte“ (So der Verfasser auf S. 104). Das tabellarische Material stellt allerdings nach Meinung des Rezensenten nur eine Vorstufe von historisch quantitativen Analysen dar. Die Untersuchung ist ferner nur auf die Archivbestände des Bayerischen Haupt- und Staatsarchivs München beschränkt.
Kathrin Dirr und Torsten Joecker, „Die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch die Reichsstädte. Vorstellung eines Datenbankprojekts zur statistischen und inhaltlichen Erfassung der Reichskammergerichtsakten“ (S. 119-136), berichten über ein langfristiges Forschungsprojekt an der Ruhr-Universität Bochum, in dessen Rahmen die in den Archivinventaren verzeichneten Reichskammergerichtsprozesse in einer computergestützten Datenbank nach bestimmten inhaltlichen und formalen Kriterien vollständig erfasst werden sollen. Das Projekt ist bereits von Bernd Schildt, Inhaltliche Erschließung und ideelle Zusammenführung der Prozessakten des Reichskammergerichts mittels einer computergestützten Datenbank, in: ZNR 2003, S. 269–290, insbes. S. 276ff, vorgestellt worden; zuletzt Bernd Schildt, Reichskammergericht. Geschichte, Verfassung und Überlieferung, in: Jura 2006, S. 493ff., insbes. S. 501. Das Vorhaben knüpft ganz offenkundig an die Forschungen des Rezensenten aus den 70er und 80er Jahren sowie an dessen damalige Habilitationsschrift und ebenso an die Monographie Anette Baumanns von 2001 an (hierzu in dieser Zeitschrift ZRG, Germ. Abt., Bd. 119 [2002], S. 658-664). Das Forschungsanliegen ist insoweit nicht gerade ausgesprochen originell, auch wenn diese Zusammenhänge keinesfalls offen in dem Beitrag mitgeteilt werden, was in der Tat schon erstaunlich ist. Bereits die Verteilung der vielen deutschen und außerdeutschen Archivbestände von Reichskammergerichtsprozessakten, die aufgrund der Auflösung des Wetzlarer Bestandes Mitte des 19. Jahrhunderts, und des Preußischen Bestandes in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind, war schon mehr oder minder vollständig in der Einleitung der Habilitationsschrift des Rezensenten beschrieben. Neu sind in der Tat die zwischenzeitlich erfolgten Neuverzeichnungen vieler Bestände und deren Veröffentlichung. Was aus dem Beitrag übrigens auch nicht hervorgeht, ist, dass der Rezensent seinerzeit bei seiner historisch-quantitativen Analyse der Überlieferung von reichskammergerichtlichen Prozessakten des 16. Jahrhunderts sich keinesfalls ausschließlich auf das Wetzlarer Repertorium stützte, sondern bereits auch eine Vielzahl von damals zwar noch nicht publizierten und deshalb noch nicht allgemein zugänglichen, modernen Archivverzeichnungen heranzog. Der Beitrag bemüht sich in der Tat, das Projekt ganz offenkundig von den damaligen Untersuchungen des Rezensenten und von Frau Baumann abzusetzen (S. 126-127). Der Rezensent habe sich auf eine allzu schmale Aktenstichprobe gestützt (S. 126 Anm. 30; ebenso unrichtig, erstaunlicherweise, auch B. Schildt, Reichskammergericht, S. 500–501: „Die einzig räumlich umfassende Untersuchung dieser Frage von Ranieri basiert lediglich auf einer Buchstabenstichprobe“). Auch dies ist allerdings nicht zutreffend, weil die damalige Untersuchung des Rezensenten die Stichprobe mit einer vollständigen Auswertung aller damals zugänglichen Akten für einige kleine Jahresgruppen kombinierte und damit die Trendaussagen aus der Auswertung der Stichprobe im Einzelnen durchaus bestätigte. Die Absicht des Bochumer Projekts ist, nach Abschluss der Erfassung sämtlicher Reichskammergerichtsverfahren die Möglichkeit zu erlangen, umfassend aufzuzeigen, wie oft Reichsstädte als Prozessparteien vor dem Reichskammergericht aufgetreten sind. „Umfassend meint dabei“ – so die Autoren – „dass es möglich sein wird, nach allen Reichsstädten von A–Z aus allen Reichskreisen abzufragen. Dadurch wird das von Baumann und Ranieri auf Stichproben begrenzte Forschungsergebnis wesentlich verbessert und ein Gesamtüberblick geliefert werden können. Derzeit können jedoch noch keine repräsentativen Aussagen zu diesem Themenkomplex getroffen werden.“ Es folgt anschließend die Beschreibung und Darstellung der Ergebnisse der bisherigen statistischen Auswertung hinsichtlich des zeitlichen Verlaufs des Geschäftsanfalls am Reichskammergericht (S. 128ff.). Auch hier kann der Rezensent keine wesentlich neuen Ergebnisse im Vergleich zu seiner damaligen Untersuchung feststellen. Ausführlich wird die Kategorisierung der jeweiligen Verfahren besprochen (S. 130ff.). Die Kategoriebildung ist im Großen und Ganzen an den seinerzeit vom Rezensenten entwickelten und später von Frau Baumann übernommenen Kriterien orientiert (siehe im Einzelnen für die Abgrenzung und die Unterscheidungen S. 130, Anm.36 und 37). In einem Ausblick wird die Hoffnung formuliert (S. 135ff.), dass „mittels der Datenbank durch beliebige Abfragekombinationen bestimmte Ergebnisse zur Tätigkeit des Reichskammergerichts ermittelt werden [können].“ Das Ganze hat den Rezensenten nicht überzeugt. Zutreffend stellt Peter Oestmann in seiner Einleitung fest (S. 12): „Die Datenbank kann in keinem Fall besser sein als die Repertorienbände und darf den Gang ins Archiv nicht ersetzen. Vielmehr sollte das Projekt zum Gang ins Archiv ermuntern, weil der Weg zur einzelnen Akten erheblich erleichtert wird und auch thematisch begrenzte Arbeiten mit überregionalem Quellenmaterial in Zukunft besser durchführbar sind.“ Dieser Feststellung stimmt der Rezensent voll zu. Die Heranziehung von quantitativ-statistischen Methoden bei der Auswertung von historisch seriellen Quellen, wie Prozessakten auch sind, sollte nicht zum Missverständnis führen, dass die Erzielung noch präziserer numerisch-statistischer Werte hier als primäres sinnvolles Ziel anzusehen ist, als ob es sich hier um die Bestimmung des numerischen Wertes von physikalischen Grundkonstanten handeln würde. Statistische und quantifizierende Methoden stellten vor drei Jahrzehnten eine neue Richtung der französischen und angloamerikanischen Sozialgeschichte dar. Inzwischen haben die Sozialhistoriker allerdings auch die Leistungsgrenzen solcher Fragenstellungen erkannt. Die Rechtshistoriker begegneten damals in ihrer überwiegenden Mehrheit, nicht nur in Deutschland, den diesbezüglichen Forschungen des Rezensenten mit Skepsis und Ablehnung. Heute erst werden solche Methoden – mit provinzieller Verspätung – wieder entdeckt und zugleich missverstanden. Die Qualität von statistischen Aussagen hängt nämlich wesentlich von der Qualität des untersuchten historischen Materials ab. Untersucht werden hier nicht Prozessakten, sondern Aktenregesten aus den im Rahmen der Neuverzeichung publizierten Archivverzeichnissen. Die darin enthaltenen Informationen, welche die Daten aus den Akten vereinfachen und zusammenfassen, werden deshalb wiederum standardisiert und so erst in einer Datenbank formalisiert aufgenommen. Darin liegt ein doppelter Informationsverlust. Die Aussagekraft der statistischen Zahlenwerte findet darin ihre wesentliche Grenze. Eine gut ausgesuchte und repräsentative Stichprobe würde hier, trotz ihrer Unschärfe, mit weit weniger Arbeitsaufwand zu ebenso sinnvollen und guten historisch-statistischen Aussagen führen. Seinerzeit übrigens hat der Rezensent für die Zeiten zwischen 1494 und 1529 die besondere Bedeutung der reichsstädtischen Provenienz von Prozessparteien deutlich herausgestellt. Es handelt sich um etwas Anderes, als dass an solchen kammergerichtlichen Prozessen die Reichsstädte selbst beteiligt waren (- so aber die Autoren, S. 129). Sinnvoll wäre es in der Tat, die seit fast zwei Jahrzehnten deutschlandweit erzielten Ergebnisse der Neuverzeichnung, welche inzwischen in gedruckter Form vorliegen, in einem elektronischen Informationssystem zusammenzuführen. Die Leistungsfähigkeit von heutigen Datenbanksystemen erfordert allerdings weder eine Kodierung noch eine Formalisierung der in den Aktenregesten enthaltenen Informationen. Dies war am Ende der 70er und am Anfang der 80er Jahre bei normalen Computern noch erforderlich. Heute kann man eine solche Arbeitsweise freilich unter der oben bereits erwähnten provinziellen Verspätung verbuchen. Es wäre deshalb wünschenswert, wenn das hier beschriebene Bochumer Projekt die Gelegenheit ergreifen würde, die Archivverwaltungen von Bund und Ländern dazu zu bewegen, die bereits vorhandenen Neuverzeichnisse von kammergerichtlichen Prozessakten in elektronischer Form in einem Datenbanksystem zusammenzuführen. Die seinerzeit formulierten Grundsätze für die Neuverzeichnung strebten gerade eine formale Gleichförmigkeit der anzufertigenden Regesten der Prozessakten an. Die in Buchform publizierten Aktenverzeichnisse bieten in der Tat eine solche strukturelle Gleichförmigkeit, dass deren Einträge sich nach Ansicht des Rezensenten problemlos in ein modernes elektronisches Informationssystem überführen ließen. Die heutige elektronische Datenverarbeitung bietet übrigens ebenso problemlos die Möglichkeit, solche Informationsmassen noch zu bewältigen. Vielleicht gelingt dann auf diese (virtuelle) Weise eine wirkliche ideelle Wiedervereinigung des Archivs des ehemaligen Reichskammergerichts.
Saarbrücken Filippo Ranieri