Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters, hg. v. Arlinghaus, Franz-Josef/Baumgärtner, Ingrid/Colli, Vincenzo/Lepsius, Susanne/Wetzstein, Thomas (= Rechtsprechung – Materialien und Studien 23). Klostermann, Frankfurt am Main 2006. VII, 492 S. Besprochen von Peter Oestmann.
Denkt man an Gerichtsbarkeit in spätmittelalterlichen Städten, kommen einem zahlreiche Anknüpfungspunkte in den Sinn. In der traditionellen deutschen Rechtsgeschichte boten die vorbildlichen Editionen von Schöffensprüchen und Oberhofurteilen schon vor vielen Jahrzehnten reichhaltiges Material zur Erforschung der Gerichtspraxis. Außerdem hat die historische Kriminaliltätsforschung im Gegensatz zur älteren Strafrechtsgeschichte gezielt die Rechtspraxis und nicht die Normengeschichte zum Untersuchungsgegenstand erhoben. Zahlreiche neuere Arbeiten thematisieren Kriminalität und Strafe an der Wende vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit. Der vorliegende Sammelband, der auf eine Tagung vom April 2004 im Max Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte zurückgeht, grenzt sich von beiden Themenfeldern bewusst ab. Es geht weder um Strafrechtsgeschichte noch um Laiengerichtsbarkeit. Vielmehr stellen die Herausgeber das gelehrte Recht ins Zentrum ihres Interesses. Diese Hinwendung zum gelehrten Recht in Städten zwingt zum Blick nach Süden. Nicht zufällig behandeln fünf der zwölf Beiträge italienische Städte. Einmal geht es um England, einmal um Frankreich, fünfmal um den deutschsprachigen Raum. Die Herausgeber verfolgen mit der Fokussierung auf Städte einen doppelten Zweck. Zum einen wollen sie Konkurrenz und Kooperation mehrerer Gerichte untersuchen, zum anderen Mechanismen zur Herstellung von Akzeptanz hinsichtlich des Verfahrens und der Entscheidungen aufzeigen. In ihrer Einleitung nennt Ingrid Baumgärtner sechs Gesichtspunkte, die den Herausgebern ein besonderes Anliegen sind. Von langen und kontroversen Diskussionen ist die Rede. Autoren und Herausgeber haben offenbar darum gerungen, sich auf möglichst einheitliche Schwerpunktsetzungen zu verständigen. Die sechs Aspekte sind folgende: Zunächst soll (1.) die Einbindung des Gerichts in die Stadt beleuchtet werden, um Wechselwirkungen zwischen Recht und Gesellschaft aufzuspüren; (2.) geht es um Konkurrenz und Kooperation verschiedener Gerichte, die man nur durch scharfe Abgrenzung einzelner Gerichte voneinander genau erfassen kann. Sodann soll das Augenmerk (3.) auf die Kommunikation vor Gericht und durch das Gericht gelenkt werden. An nächster Stelle steht (4.) die Eigenständigkeit des Gerichts und des Rechtswesens überhaupt. Bei einer Betrachtung des gelehrten Rechts ist das zweifellos ein wichtiger Gesichtspunkt, denn die Professionalisierung hat nach verbreiteter Auffassung gerade zu einer Entfremdung des Rechts von der Bevölkerung beigetragen. Eher handfest, dafür aber zentral prozessrechtshistorisch geht es (5.) um Verfahrensfragen, Formstrenge und Schriftlichkeit. Dieser Aspekt ist rechtshistorisch vielleicht der spannendste, weil man hier das gelehrte Recht in seiner praktischen Anwendung erleben kann. Ebenfalls zentral ist die Frage nach der Zwangsgewalt (6.). Sie betrifft zum einen den Übergang zum hoheitlichen Gewaltmonopol, zugleich aber die Ergänzung der ordentlichen Gerichte durch Schiedsverfahren und private Streitbeilegungen. Dem theoretischen Ausgangspunkt, dass die Verfahrensdurchführung als solche bereits einen Schritt zur Akzeptanz des Gerichtswesens insgesamt darstellt und die Monopolisierung der gerichtlichen Streitbeilegung besonders darauf beruht, dass die Parteien freiwillig diese Institution anriefen, stimmt man voll und gern zu. Die Konzeption des Tagungsbandes überzeugt also.
Wie kaum anders
zu erwarten, lassen sich zahlreiche Teilnehmer einer Fachtagung bzw. Autoren
eines Sammelbandes nur schlecht auf die Marschroute der Veranstalter festlegen.
Neithart Bulst untersucht das Richten nach Gnade im ausgehenden
Mittelalter und beschäftigt sich damit dezidiert mit der Strafrechtsgeschichte
und nicht mit der Zivilgerichtsbarkeit. Seine These, dass das Gnadenbitten viel
weniger eine Ausnahme als vielmehr regelmäßiger Bestandteil eines gerichtlichen
Verfahrens war, ist plausibel dargelegt, trotzdem fällt der Beitrag aus der
Konzeption der Herausgeber etwas heraus. Dasselbe gilt für Frank Rexroths
Studie über Londoner Gerichte. Die verschiedenen Zuständigkeiten bis hin zur differenzierten
Wahrnehmung der unterschiedlichen Räumlichkeiten treten zwar klar hervor. Die
Frage, wie das rezipierte römisch-kanonische Recht in der Praxis angewandt
wurde, lässt sich an einem englischen Beispiel aber nun einmal nicht
beantworten. – Die thematisch enger an die Leitfragen angelehnten Aufsätze
knüpfen an verschiedenen Ansatzpunkten an. Giuliano Milani beschäftigt
sich aus verfassungsgeschichtlicher Perspektive mit den Rahmenbedingungen,
unter denen die kommunale Gerichtsbarkeit in Italien seit dem Konstanzer
Frieden von 1183 entstand. Er zeigt, wie sehr die Entstehung stabiler
Gerichtsstrukturen mit der Festigung städtischer Territorialherrschaft
verbunden war. – Ein sehr wichtiger Beitrag Thomas Wetzsteins behandelt
die geistliche Gerichtsbarkeit. Am Beispiel des Konstanzer Gerichts gelingt der
Nachweis, dass der früher oft betonte Konflikt zwischen weltlicher und
kirchlicher Jurisdiktion in der Praxis offenbar längst nicht so scharf
ausgeprägt war, wie die ideologisch aufgeladene ältere Literatur es glauben
machte. Die akribisch-quellenkundliche Studie zeigt überdies, wie schwer es
ist, aufgrund der verschieden überlieferten Quellengattungen die
Verfahrensabläufe an den geistlichen Gerichten zu rekonstruieren. – Neuland
betritt auch Sara Menzinger mit ihrem Blick auf die italienische Schiedsgerichtsbarkeit.
Sie verdeutlicht nämlich, dass im Schiedsverfahren viel weniger Freiwilligkeit
herrschte, als man bisher vermutet hatte. Konsens musste nur über das Verfahren
als solches, keineswegs über das Ergebnis bestehen. So war es möglich, auch
streitige Entscheidungen zu fällen und durchzusetzen. Wenn die städtische
Obrigkeit selbst zum Arbiter berufen war, stärkte diese Art von
Schiedsverfahren zugleich die hoheitliche Gerichtsgewalt. – Massimo
Vallerani zeigt demgegenüber die Tätigkeit der gelehrten Juristen in
ausgewählten italienischen Prozessen des 12. Jahrhunderts. Die Berufung auf
gelehrtes Recht führte zur Rationalisierung der Auseinandersetzung, zur
Formalisierung des Verfahrens und auch zu höherer Rechtssicherheit. Diese
juristische Professionalisierung ging einher mit der immer stärkeren
Konzentration der Prozessführung bei den Stadtobrigkeiten. Besonders die
Zurückdrängung des traditionellen Eides und die Kontrolle über die Beweismittel
(z. B. Präjudizien) kennzeichnen den öffentlichen Prozess, den der Autor in
voller Ausprägung im frühen 13. Jahrhundert in Savona ausmacht und der daher
nicht nur ein Produkt der gelehrten Literatur sein kann. –
Insgesamt ist die Lektüre des dreisprachigen Bandes äußerst lehrreich, wenn auch leider ein Register fehlt. Die Prozessrechtsgeschichte wird in reichem Maße von den Abhandlungen profitieren. Die sog. praktische Rezeption des römisch-kanonischen Rechts zeichnet sich jedenfalls jetzt wesentlich deutlicher ab als noch vor wenigen Jahren. Auf den kommenden Sammelband der Kassel-Frankfurter Arbeitsgruppe zum Thema „Prozessschriftgut“ darf man bereits gespannt sein.
Münster Peter