Pietschmann, Horst, Mexiko zwischen Reform und Revolution. Vom bourbonischen Zeitalter zur Unabhängigkeit (= Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 80). Steiner, Stuttgart 2000. 299 S. Besprochen von Thomas Gergen.

 

Spätestens seit der jüngsten Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 27. bis 29. März 2006 ist Horst Pietschmann, emeritierter Ordinarius für die Geschichte Lateinamerikas an der Universität Hamburg, den an der Geschichte Lateinamerikas und der Iberischen Halbinsel Interessierten ein Begriff. Der Verfasser hat in den letzten Jahrzehnten der historischen Lateinamerika- und Spanienforschung viele Anstöße gegeben, wovon das hier besprochene Buch, das elf Aufsätze Pietschmanns enthält, ein beredtes Zeugnis ablegt.

 

Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert griffen die bourbonischen und pombalschen Reformen in Spanien und Portugal und nahmen auch in Lateinamerika einen besonderen Stellenwert ein[1]. In diesem „Zeitalter der demokratischen“ bzw. „atlantischen Revolutionen“ drifteten die Mutterländer und ihre überseeischen Besitzungen immer weiter auseinander. Spanien verlor als imperiale Macht im europäisch-atlantischen Vergleich politisch und wirtschaftlich immer mehr an Bedeutung, während sich die Gegensätze zwischen europäischer Kolonialbürokratie und amerikanischen Eliten zugleich immer weiter verschärften. Pietschmann erforscht sehr nuanciert diesen Umbruch der mexikanischen, lateinamerikanischen und europäisch-atlantischen Geschichte. Indem er aktuelle Forschungsdiskussionen aufnimmt und sie am Beispiel Lateinamerikas und Mexikos exemplifiziert, entwickelt er nicht bloß neue Forschungsperspektiven, sondern geht darüber hinaus abweichende Interpretationswege[2].

 

Die Aufsätze werden sowohl der Analyse der kolonialen Bürokratie als auch der Institutionen-, Rechts- und Verfassungsgeschichte gerecht. Außerdem werfen sie ethnohistorische und kultur- bzw. mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen auf. Pietschmann gebührt das Verdienst, Korruption und Schmuggel nicht mehr allein als Zeichen einer vermeintlichen Jahrhunderte alten „lateinamerikanischen Tradition“ zu lesen, sondern auf ihre Bedeutung für die Aufrechterhaltung eines schwierigen kolonialen Gleichgewichtes hinzuweisen[3].

 

Wenn Pietschmann die einzelnen Interessen der lokalen Eliten in Mexiko untersucht, illustriert er damit eine wichtige Facette des unabhängigen Mexikos. Dabei bleibt er nicht bei der Landesgeschichte Mexikos stehen; vielmehr widmet er sich den Interessengemeinschaften zwischen spanischen und amerikanischen Anhängern eines „aufgeklärten Absolutismus“ bzw. ihren konservativen Gegnern, die wiederum der klassischen Vorstellung vom Gegensatz zwischen Imperialmacht und Kolonien entgegenstanden[4]. Diese Kontraste bildeten zugleich den Nährboden für den eigenwilligen lateinamerikanischen „Liberalismus“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der bis weit ins 20. Jahrhundert für politische Ordnungsvorstellungen in weiten Teilen Lateinamerikas lebendig und charakteristisch blieb.

 

Saarbrücken                                                                                                  Thomas Gergen



[1] Aufsatz „Revolución y contrarevolución en el México de las reformas borbónicas. Ideas protoliberales y liberales entre los burócratas ilustrados novohispanos”.

[2] Aufsatz „Alcaldes Mayores, Corregidores und Subdelegados. Zum Problem der Distriktsbeamtenschaft im Vizekönigreich Neuspanien“.

 

[3] Aufsatz „Burocracia y corrupción en Hispanoamérica colonial. Una aproximación tentativa”.

[4] Aufsatz „Conciencia de identidad, legislación y derecho: algunas notas en torno al surgimiento del ‘individuo’ y de la ‘nación’ en el discurso político de la monarquía española durante el siglo XVIII” sowie Actores locales y poder central: la herencia colonial y el caso de México”.