Pferr, Ulrich,
Die Verfassungskrise im Memelgebiet 1931/32 insbesondere unter Würdigung der
Memelkonvention und deren Auslegung im Urteil des Ständigen Internationalen
Gerichtshofs in Den Haag vom 11. August 1932 (= Würzburger
rechtswissenschaftliche Schriften 59). Ergon, Würzburg 2005. XXXVIII, 258 S.
Besprochen von Dieter Waibel.
Aufgrund der
Bestimmungen des Versailler Vertrages zunächst unter alliierte Verwaltung
gestellt, wurde das Memelgebiet 1923 von litauischen Freischärlern besetzt und
anschließend mit dem Segen des Völkerbundes als autonomes Gebiet Litauen
eingegliedert. Von 1926 bis 1938 stand die Region unter Ausnahmezustand, wobei
sich die „Memelfrage“, d. h. die endgültige Zugehörigkeit des Memelgebiets,
nicht nur zwischen der überwiegend deutschen Bevölkerung und Litauen, sondern
auch zwischen den Entente-Mächten, Polen und Russland stellte.
Die
deutsch-litauischen Auseinandersetzungen um das Memelgebiet stehen im Mittelpunkt
der Dissertationsschrift Ulrich Pferrs, wobei der Autor mit der „Böttcherkrise“
eine besonders Konflikt beladene Auseinandersetzung in das Zentrum rückt. Otto
Böttcher war als Präsident des aus der Landtagsmehrheit gebildeten
memelländischen Direktoriums im Dezember 1931 ohne Kenntnis der litauischen
Zentralregierung nach Berlin gereist, um mit den zuständigen deutschen Stellen
über Einfuhrerleichterungen für landwirtschaftliche Produkte aus dem
Memelgebiet zu verhandeln. In der bestehenden politischen Großwetterlage barg
die Reise, die nicht geheim blieb, enormen politischen Sprengstoff. Die
litauische Regierung nahm sie zum Anlass, Böttcher, der ihr in ihrem Bestreben,
die litauischen Interessen im Memelgebiet zu stärken, ein Dorn im Auge war, in
Frage zu stellen. Als Böttcher vom litauischen Gouverneur Merkys von seinem Amt
enthoben wurde, er sich jedoch weigerte seine Position zu räumen, wurde er
inhaftiert und der Konflikt eskalierte. Denn mittlerweile hatten sich
insbesondere die deutschen und litauischen Positionen verfestigt, so dass jeder
dem anderen unzulässige Einflussnahme und Rechtsbruch vorwerfen konnte. Die
Böttcherkrise weitete sich somit kurzzeitig zur Kernfrage der Memelkrise aus.
Der Konflikt
wurde der damaligen internationalen Praxis entsprechend vor den Ständigen
Gerichtshof in Den Haag getragen, wo die Rechtsmäßigkeit der Absetzung
Böttchers auf der Grundlage der Memelkonvention zu entscheiden war. Zu diesem
Zweck brachten die Regierungen der Signatarstaaten der Memelkonvention am 11.
April 1932 eine Klage gegen die Regierung Litauens ein, „die sich auf
Meinungsverschiedenheiten betreffend die Vereinbarkeit gewisser Akte der
letztgenannten Regierung mit dem Statut des Memelgebiets (…) bezog“.
Dem Autor
gelingt es, die politischen und rechtlichen Zusammenhänge des skizzierten
Problems herauszuarbeiten und in ein Gesamtbild zu fügen. Ausführlich bespricht
Pferr das Verfahren vor dem Völkerbund und das Urteil des Gerichtshofs.
Deutlich wird im Verlauf der Arbeit auch die Akzentverschiebung weg von der
juristischen Ausgangsfrage des Ständigen Gerichtshofs hin zur allgemeineren
Frage nach der Staatlichkeit des Memelgebiets. An dieser Stelle lässt der Autor
vielfältige und kontroverse Stimmen zu Wort kommen. Anschließend wird das
Urteil des Gerichtshofs mit seinen Einzelheiten kritisch beleuchtet (das
Gericht hatte ein allgemeines Entlassungsrecht des litauischen Gouverneurs
hinsichtlich des Präsidenten des Direktoriums abgelehnt, die Absetzung
Böttchers wegen einer im konkreten Fall angenommenen schwerwiegenden Bedrohung
der litauischen Souveränität als ultima ratio aber bestätigt). Retrospektiv
wirft der Autor den klägerischen Mächten vor, aufgrund ihres nicht ausreichend
substantiierten Vortrags zu den Hintergründen der Reise Böttchers eine befriedigende
Stellungnahme des Gerichts zu dessen Abberufung verhindert zu haben.
Schwäbisch Hall Dieter
Waibel