Netzer, Katinka, Wissenschaft aus nationaler Sehnsucht. Verhandlungen der Germanisten 1846 und 1847. Winter, Heidelberg 1806. 291 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die Arbeit ist die 2005 an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum angenommene, von Wilhelm Bleek betreute Dissertation der Verfasserin. Sie ist am Lehrstuhl Politikwissenschaft I entstanden. Die Hans-Böckler-Stiftung hat das Vorhaben finanziell unterstützt.
Das mit der erhalten gebliebenen Teilnahmekarte Prof. Dr. Reyschers geschmückte Werk ist einleuchtend gegliedert. Einer klaren Einleitung folgen die Organisation, die Teilnehmer, die Debatten über die fünf wichtigen Fragen, Einzelreden und die Verhandlungen in den drei Sektionen. Am Ende zieht die Verfasserin ein überzeugendes Fazit.
In der Einleitung geht sie mit Adalbert Erler davon aus, dass Hermann Conring 1643 den Germanisten als den mit germanischem bzw. deutschem Recht befassten Juristen geprägt hat, dieser nach seltener zwischenzeitlicher Verwendung seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts den die deutsche Sprache betrachtenden Philologen eingeschlossen habe und dass diese Germanisten vor dem März 1848 an die deutsche Nation glaubten und sich mit den Mitteln der Wissenschaft für die Verwirklichung ihres Traumes einsetzten. 1846 lud der Tübinger Jurist August Ludwig Reyscher öffentlich Männer, die sich der Pflege des deutschen Rechts, deutscher Geschichte und Sprache widmeten, zu einer Versammlung ein. Rund 200 Wissenschaftler folgten der Einladung nach Frankfurt am Main.
Diese Versammlung und ihre Wiederholung im anschließenden Jahr sind berühmt. Sie sind auch in der bisherigen Literatur immer wieder einmal angesprochen. Eine umfassende Darstellung fehlt jedoch bisher, so dass die Verfasserin eine auffällige Lücke schließen kann.
Für die Vorgeschichte weist die Verfasserin dabei darauf hin, dass Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte unter der Führung Lorenz Okens bereits seit 1822, Versammlungen deutscher Land- und Forstwirte seit 1837 und Versammlungen des Vereins deutscher Philologen und Schulmänner seit 1838 (1844 436 Teilnehmer) abgehalten wurden. 1845 folgten auch die Historiker mit einer gesamtdeutschen Tagung ihres Faches. Der Leipziger Historiker Heinrich Wuttke plante eine Versammlung von Historikern, Geographen und Statistikern gemeinsam mit Philologen, bat im April 1845 Friedrich Christoph Dahlmann von den Göttinger Sieben, sich an die Spitze einer solchen Verbindung zu stellen, und August Ludwig Reyscher, Dahlmanns Schwiegersohn, setzte den Vorschlag um.
Unterzeichnet ist die daraus folgende Einladung von Arndt, Beseler, Dahlmann, Falk, Gervinus, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Haupt, Lachmann, Lappenberg, Mittermaier, Pertz, Ranke, Reyscher, Runde, A. Schmidt, Uhland, Wilda sowie Souchay und Euler. Ziele sollten wissenschaftliches Anregen, persönliches Kennenlernen und Ausgleichen der Gegensätze sein. Im Einzelnen waren viele detaillierte Fragen abzuklären, für welche die Verfasserin die klare chronologische Reihenfolge immer wieder verlässt.
An der Versammlung in Frankfurt 1846 nahmen 195 Männer teil, darunter 62 Professoren. Die Beteiligung an der zweiten Versammlung in Lübeck war mit 171 (darunter 48 Professoren) etwas geringer, wobei die Kontinuität mit knapp 20 Prozent recht bescheiden erscheint. Die dritte 1848 in Nürnberg geplante Versammlung wurde durch die Nationalversammlung des Revolutionsjahrs überholt.
Bei den Teilnehmern bietet die Verfasserin kurze Porträts Beselers, Böhmers, Dahlmanns, Jacob Grimms, Lappenbergs, Francis Liebers, Reyschers und Uhlands. Die Debatten betreffen die Schleswig-Holstein-Frage, das deutsche Recht, die Geschworenengerichte, die Auslandsdeutschen und die deutsche Kolonisation. In Einzelreden treten Jacob Grimm. Ernst Theodor Gaupp, Christian Friedrich Wurm, Andreas Ludwig Jacob Michelsen und Karl Müllenhoff besonders hervor.
Als Ergebnis weist die Verfasserin zutreffend auf die nachhaltige wissenschaftshistorische und ideengeschichtliche Wirkung der beiden Versammlungen hin. Politisches Ziel war die Einheit der Nation, auch wenn Abstimmungen abgelehnt wurden. Die Gemeinsamkeiten in Verhaltensweisen, Sprache, Literatur und Kunst dienten als Begründung für die nationale Einheit, wobei der Rückgriff auf die Geschichte den unbefriedigenden Zustand der Gegenwart auszugleichen hatte und die Herstellung von Öffentlichkeit als gewichtiger Erfolg einzustufen ist.
Ein Quellen- und Literaturverzeichnis dokumentiert die Arbeitsgrundlage der Verfasserin. Sieben Abbildungen veranschaulichen wenige Details. Ein Namensverzeichnis fehlt leider und kann auch durch die Übersichten über die örtliche Herkunft der Teilnehmer und ihre Berufe nicht wirklich ersetzt werden.
Innsbruck Gerhard Köbler