Lyles, Max, A Call for Scientific Purity - Axel Hägerström’s Critique of Legal Science (= Rättshistorikt bibliotek 65). Institutet för rättshistorisk forskning/Rönnells Antikvariat AB, Stockholm 2006. 701 S. Besprochen von Stephan Meder.

 

Der schwedische Philosoph Axel Hägerström (1868-1939) gilt als Begründer und wichtiger Vertreter der „Uppsala-Schule“, die auf die moderne Rechtstheorie beträchtlichen Einfluß ausgeübt hat. So sind etwa die „Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts“ Theodor Geigers (1891-1952) in Auseinandersetzung mit dieser skandinavischen Ausprägung positivistischer Philosophie entstanden. Hägerström, der in Uppsala einen Lehrstuhl für praktische Philosophie innehatte (S. 170), sah seine Aufgabe darin, die Unmöglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft aufzuzeigen. Praeterea censeo metaphysicam esse delendam, heißt das viel zitierte Motto, das sich wie ein roter Faden durch seine Schriften zieht (S. 160ff.). Die Metaphysik sei „nichts anderes als eine Reihe von Wortverbindungen, über deren Charakter der Metaphysiker nichts weiß“.[1] Mit der Ablehnung jeder Form von Metaphysik und Transzendentalismus unterscheidet sich Hägerström im Grunde weder von früheren Positivisten wie John Stuart Mill oder Auguste Comte noch von dem zeitgenössischen Empirismus des Wiener Kreises. Eine Besonderheit der Uppsala-Schule besteht in der Forderung, den Gegenstand der Wissenschaft als Wirklichkeitszusammenhang zu erforschen. Ihre Anhänger gelten daher auch als Protagonisten des „skandinavischen Realismus“ (S. 149, 188ff.). Das besondere Merkmal dieser philosophischen Richtung, der etwa auch Vilhelm Lundsted (1882-1955) oder Alf Ross (1899-1979) angehören, liegt in ihrem „theoretischen Wertnihilismus“. Werte als solche haben danach keine Existenz oder existieren nur als subjektive Gefühlsregungen, worüber sich keine wissenschaftlichen Aussagen treffen lassen.

 

Max Lyles untersucht in den acht Teilen seines Werkes Hägerströms philosophische Lehre und die Konsequenzen, die sich für die Rechtswissenschaft daraus ergeben. Die ersten Teile sind im wesentlichen der Erkenntnistheorie (S. 35-240) und Moralphilosophie (S. 241-291) gewidmet. Geschildert wird Hägerströms Auseinandersetzung mit dem rationalen Idealismus der sogenannten „Alten Uppsala-Schule“ (S. 40ff.) und Kants „Kritik der reinen Vernunft“, die zur allmählichen Abwendung von Idealismus und jeder Form des Transzendentalismus führt (S. 35-110, 200ff.). Schon frühzeitig sucht Hägerström eine rein erfahrungswissenschaftlich begründete Epistemologie zu entwerfen, die jede spekulative Beimengung vermeidet. Den Schlüssel zum Verständnis bildet der Begriff der ,Induktion’, und zwar im Sinne eines Verfahrens, welches vom Besonderen zum Allgemeinen führt (S. 111, 112, 133ff.). Aus dieser nur auf empirische Daten gestützten Erkenntnisweise folgt für die Moralphilosophie, daß jeder Versuch, Werturteile abzugeben, scheitern muß. Über Werte als solche können wir nichts wissen, meint Hägerström (S. 241ff.). ,Gut’ und ,schlecht’ oder ,gerecht’ und ,ungerecht’ hält er für völlig imaginäre Begriffe, die jeder empirischen Fassung ihres vermeintlichen Inhalts unzugänglich und - jedenfalls für ein rationales Weltbild - nicht existent seien. Letztlich handele es sich um wissenschaftlich unzulässige Objektivationen von Gefühlen oder Illusionen, mit denen sich die Erfahrungswissenschaft nur in der Weise befassen kann, daß sie sie als psychologische Merkwürdigkeiten verzeichnet und analysiert (S. 249ff.).

 

Wiederholt hat Hägerström die Frage gestellt, ob die Philosophie den Wissenschaften überhaupt etwas zu sagen hat: Quid Saulus inter prophetas? (S. 118). Hägerström mahnt zur Bescheidenheit. Er bestreitet, daß die Philosophie einen materialen Beitrag zur Wissenschaft leisten kann. Dies gilt insbesondere auch für die Jurisprudenz (S. 292ff.). Zwar könne die Philosophie die formale Gültigkeit von Argumenten prüfen, doch sei sie außerstande, dem Richter materiale Prinzipien zu liefern. Nur das positive Recht dürfe als Basis für juristische Entscheidungen dienen. Alles andere würde einen Rückfall in vorkritische Zeiten und insbesondere eine Rückkehr in die Epoche von Naturrecht und Vernunftrecht bedeuten, in der ganz andere Vorstellungen über das Verhältnis von Recht und Philosophie herrschten (S. 296, 650ff.). Hägerström ist der Überzeugung, daß die moderne Rechtswissenschaft auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden müsse. Dies könne nur dadurch geschehen, daß sie von Religion, Moral oder anderen konkurrierenden Disziplinen radikal getrennt werde. Den Ausgangspunkt bildet die Kritik am Naturrecht, dessen Rechtsbegriffe magischen oder religiösen Vorstellungen entsprungen seien, denen keine raum-zeitlichen Fakten entsprächen (S. 293f., 299). Auch die Idee des Sozialismus begreift er als Ausfluß naturrechtlicher Gedanken, deren Grundlagen unter Stichworten wie „Ideologie“, „Metaphysik“ oder „Fiktion“ verworfen werden (S. 302ff.). Hägerströms Rechtskritik erfaßt darüber hinaus das römische Recht, welches er wiederholt zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht hat. Er beanstandet z. B., daß die Romanisten - in ihrer Methode den von ihm kritisierten Naturrechtlern des 17. und 18. Jahrhunderts nicht unähnlich - den Begriff der obligatio überinterpretieren, wenn sie ihn in den modernen Begriff der Rechtspflicht transformieren (S. 396ff.).[2]

 

Hägerströms realistischer Grundhaltung entspricht die Forderung, das Recht als Wirklichkeitszusammenhang zu erforschen. ,Wirklich’ sind aus seiner Sicht nicht die Normen als solche, sondern die aktuellen Anschauungen über Normen. Der positivistische Realismus von Rechtsdenkern wie Hägerström, Lundsted oder Ross findet insbesondere in ihrem lebhaften Interesse für Fragen der Auslegung und der Rechtsquellenlehre einen Niederschlag. Hägerström betont den rechtsschöpferischen Charakter der Interpretation (S. 371ff., 525ff., 540, 556ff.). Im Zentrum seiner juristischen Methodologie steht die Frage nach der Beziehung von Fall und Norm. Seine Schilderung der Rechtsanwendung als „logically open process“ (S. 558) und seine Überlegungen zum Verhältnis von Interpretation und Rechtsetzung vermögen auch heute noch zu überzeugen. Sie erinnern im übrigen an die von Theodor Geiger in seinen „Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts“ und die im Rahmen ihrer juristischen Hermeneutik von so unterschiedlichen Autoren wie Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) und Hans-Georg Gadamer (1900-2002) entwickelten Lehren der juristischen Entscheidungs- und Regelfindung.[3] Was Hägerströms Rechtsquellenlehre anbelangt, so steht diese unter der Prämisse, daß von den verschiedenen juristischen Disziplinen allein die dogmatische Jurisprudenz leitende Rechtsgrundsätze oder Prinzipien hervorbringen kann (S. 542ff.). Der Grund hierfür liegt darin, daß der Richter - wie bereits angedeutet - an das positive Recht gebunden ist und nicht ,frei’ oder lediglich aus ethischen, sozialen, ökonomischen oder politischen Erwägungen heraus entscheiden kann. Als Rechtsquellen, die für eine juristische Entscheidung in Frage kämen, nennt Hägerström an erster Stelle das Gesetz, aber auch Gewohnheitsrecht, Gerichtspraxis oder Wissenschaft (S. 542, 544ff.). Hägerströms positivistische Grundlegung des Rechts beruht also auf einer pluralistischen Rechtsquellenlehre, welche von Formen des Gesetzespositivismus, wie sie etwa von Karl Bergbohm (1849-1927) oder Hans Kelsen (1881-1971) entwickelt wurden, streng zu unterscheiden ist (S. 533ff., 638f.).

 

Im Anschluß an seine Darstellung der leitenden Prinzipien von Hägerströms Philosophie und Rechtstheorie meint Lyles, daß dessen „formal critique of legal science must be tested against reality“ (S. 561). Ein solcher ,Realitätstest’ soll durchgeführt werden anhand von Material, welches die Geschichte liefert. Unter dem Titel „A Short History of Jurisprudence“ unternimmt Lyles zum Abschluß (S. 561-640) also den Versuch, auf knapp 80 Seiten den Entwurf einer ,Rechtsgeschichte’ vorzulegen, wie sie auf Basis von Hägerströms theoretischem Ansatz auszuführen wäre. Diese Rechtsgeschichte ist in zwei Kapitel gegliedert, wobei das erste mit „Ius Naturale: The Metaphysical Notion of Law and Legal Science“ (S. 566ff.) und das zweite mit „Ius Positivum: Law as an Expression of Historical Necessities“ (S. 598ff.) überschrieben ist. Im ersten Kapitel werden frühes und klassisches römisches Recht, Mittelalter und das Vernunftrecht der Aufklärung jeweils im Zeichen von Hägerströms Naturrechtskritik erörtert. Besondere Hervorhebung verdient das zweite Kapitel. Es behandelt auf ansprechende Weise die Lehren Savignys und der Historischen Schule (S. 599ff.), ihren Einfluß auf die schwedische Rechtstheorie (S. 602ff.), die Unterschiede zwischen französischen und deutschen Rechtsentwicklungen (S. 606ff.), den Niedergang des Naturrechts (S. 609ff.), den Aufschwung von Juristenrecht, Pandektenrecht und ,Begriffsjurisprudenz’[4] in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (S. 618ff.) bis hin zu Erscheinungen des 20. Jahrhunderts wie Interessenjurisprudenz, Freirechtsschule, American Legal Realism, Kelsens Reiner Rechtslehre und Renaissance des Naturrechts nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 634ff.).

 

Alles in allem ist es Lyles gelungen, in einer flüssig geschriebenen Studie die wesentlichen Elemente von Hägerströms Rechtstheorie vorzustellen und unter rechtshistorischen Gesichtspunkten zu würdigen. Frühere Einschätzungen, die Hägerströms soziologischen Ansatz betont oder die politischen Implikationen seiner Rechtstheorie kritisiert haben, müssen zu Recht hinterfragt werden. Zutreffend sieht Lyles in Hägerström einen Vertreter des wissenschaftlichen Positivismus, der die Ablehnung des Naturrechts zum Ausgangspunkt seiner Rechtskritik genommen hat. Insofern besteht eine wichtige Parallele mit Savigny, die Lyles keineswegs entgangen ist. Überhaupt vermögen die differenzierten Ausführungen zu so schwierigen und aktuell umstrittenen Themen wie ,Pandektenrecht’ oder ,Begriffsjurisprudenz’ über weite Strecken zu überzeugen, zumal auch jüngere Arbeiten wie etwa Hans-Peter Haferkamps Studie über Puchta oder Jan Schröders „Recht als Wissenschaft“ bereits berücksichtigt werden.[5] Letztlich begreift Lyles Hägerström als einen Rechtsdenker, der in der Tradition der Historischen Schule Savignys steht (S. 657). Dafür sprechen neben der Ablehnung des Naturrechts vor allem die geradezu verblüffenden Gemeinsamkeiten sowohl in der Interpretations- als auch in der Rechtsquellenlehre und der Methode eines Fortschreitens vom Besonderen zum Allgemeinen. Demgegenüber dürften Hägerströms Kritik an der Romanistik, sein ausgeprägter Rationalismus (Ernst Cassirer) und seine Ablehnung der Metaphysik in den Hintergrund treten.

 

Hannover                                                                                                         Stephan Meder



[1] Axel Hägerström, Die Wissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstel­lungen (1929), S. 26.

[2] Hägerströms romanistische Hypothesen sind überwiegend auf Widerspruch gestoßen, vgl. etwa: Wolfgang Kunkel, Rezension von Axel Hägerströms „Der römische Obligationenbegriff I“ (1927), in: SZ (RA) 49 (1929), S. 479-490; Bernhard Kübler, Rezension von Axel Hägerströms, „Das magistratische Ius in seinem Zusammenhang mit dem römischen Sakralrecht“ (1929), in: SZ (RA) 51 (1931); Theo Mayer-Maly, Rezension von Axel Hägerströms „Recht, Pflicht und bindende Kraft des Vertrages“ (1965), in: SZ (RA) 84 (1967), S. 618-619; Geoffrey Mac Cormack, Formalism, Symbolism and Magic in Early Roman Law, in: TR 37 (1969), S. 439-468; ders., Hägerström's Magical Interpretation of Roman Law, in: The Irish Jurist 4 (1969), S. 153-167. Eine neuere, selbständige Untersuchung zu Hintergründen und Berechtigung von Hägerströms Kritik an der Romanistik steht noch aus.

[3] Vgl. die Nachweise zu Geiger, Savigny und Gadamer bei Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik (2004), S. 74 (bei Note 48).

[4] Probleme des Universalienstreits erörtert Lyles unter den Stichworten „nominalism“ und „conceptual“ oder „mediaeval realism“ (vgl. Index S. 688 und S. 691f.; siehe zudem die vorstehend bei Note 1 wiedergegebene Formulierung).

[5] Dies gilt allerdings z. B. nicht für Windscheid und Ulrich Falks Studie "Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sog. Begriffsjurisprudenz" von 1989.