Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen
Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der
frühmittelalterlichen Rechtskultur, hg. v. Dilcher, Gerhard/Distler,
Eva-Marie. Erich Schmidt Verlag, Berlin 2006. 650 S., 5 Abb. Besprochen von
Karin Nehlsen-von Stryk.
Der 37 Beiträge umfassende Sammelband geht auf die interdisziplinäre Tagung zur frühmittelalterlichen Rechtskultur vom 17.-20. Juni 2004 in Fürstenfeldbruck zurück, die Gerhard Dilcher von langer Hand konzipiert und vorbereitet hat. Gastgeber vor Ort war die Kester-Haeusler-Stiftung (Hermann Nehlsen). Außer Rechtshistorikern, deren Beiträge allerdings gut zwei Drittel des Bandes ausmachen, nahmen Historiker und Philologen teil. Ohne Übertreibung darf festgestellt werden, dass die Frühmittelalterforschung in ungewöhnlichem Maße anwesend, ja von rechtshistorischer Seite nahezu vollständig versammelt war.
Der Titel des Buches: „Leges – Gentes – Regna“ nimmt Bezug auf den im Jahre 2003 erschienenen Band „Regna and Gentes“, der im Rahmen des großen Projekts der European Science Foundation „The transformation of the Roman World“ von den Historikern Hans-Werner Goetz, Jörg Jarnut und Walter Pohl herausgegeben worden ist. Und sie sind es auch, die neben Herwig Wolfram und Adelheid Krah die historische Fraktion der Tagung bildeten.
Ohne Zweifel muss
bereits die Tatsache, dass es Gerhard Dilcher gelungen ist, die
vorhandenen Kompetenzen der rechtshistorischen Frühmittelalterforschung sowie
benachbarter Disziplinen zu bündeln und sie in diesem Sammelband zu
dokumentieren, als großer Erfolg gewertet werden.
Gegliedert ist
der Sammelband in sieben Teile: I. Methoden und Probleme, II. Sprache und
Recht, III. Die Reichsgründungen und ihre Rechts- und Herrschaftsordnungen, IV.
Konflikt und Konfliktbeilegung, V. Statusänderung und Rechtsübertragung, VI.
Zur Wirkungsgeschichte, VII. Die neuen Völker und die Begründung einer
mittelalterlichen Rechtskultur. Rückblick und Ausblick. Hinzu kommen drei
knappe Interventionen von Günter
Jerouschek und Karol Modzelewski.
Welch umfassende konzeptuelle Vorarbeit Gerhard Dilcher geleistet hat, tritt in seinem vielschichtigen programmatischen Einführungsbeitrag „Leges – Gentes - Regna“ (15-42), der zugleich eine eingehende Analyse von Forschungsstand und Möglichkeiten neuer Forschungsansätze enthält, deutlich hervor. Zwar trug die Dekonstruktion überkommener germanistischer Lehren und die damit verbundene Befreiung von ideologischen Altlasten (zu nennen sind hier vor allem Karl Kroeschell und Klaus von See) vor einigen Jahrzehnten wesentlich zur Etablierung einer „jungen“, methodenkritischen germanistischen Rechtsgeschichte bei. Gerade das Frühmittelalter aber als zuvor beliebtester Tummelplatz des „Germanischen“ war von dem Kahlschlag in besonderer Weise betroffen. Ein Paradigmenwechsel vollzog sich: Favorisiert wurde nun – noch befördert durch die „Entdeckung“ des römischen Vulgarrechts – ein Bild des Frühmittelalters in vorwiegend lateinisch-römischer und kirchlicher Tradition, zudem in einer Zeit allgemeiner Rückbesinnung auf das antike und christliche Kulturerbe, wie Dilcher zu Recht hervorhebt (20). Ein quellenkritisches Problembewusstsein gegenüber den Leges, was Überlieferung, Aktualität und Effektivität betrifft, blieb aber durchaus lebendig. Hierin liegt meines Erachtens auch der Grund, dass sich trotz gewichtiger Einzeluntersuchungen kein fester Forschungsstand herausgebildet hat, wie Dilcher zu Recht feststellt (19). Entscheidend freilich für den Entschluss Dilchers, die Frühmittelalterforschung zu einem neuen Deutungsversuch „der Epochenschwelle von Antike zum Mittelalter“ zu versammeln, waren neue Forschungsansätze und Interpretationsmuster vor allem ethnosoziologischer Provenienz.
Hervorgehoben
werden zum einen die florierende aktuelle Forschung zur Ethnogenese der Völker
und Stämme der Völkerwanderungszeit, die seit R. Wenskus den
herkömmlichen Volksbegriff durch ethnosoziologische Modelle der
Identitätsbildung und Akkulturation abgelöst hat. Zum anderen werden die
unmittelbaren ethnosoziologischen Erkenntnisse zur normativen Welt archaischer
Gesellschaften mit den Stichworten Oralität und orale Kommunikation über Recht,
Rituale, Symbole und kulturelles Gedächtnis skizziert. Blutfehde,
Schlichtungsverfahren, Bußleistungen werden als ethnologisch weitverbreitete
Phänomene ausgewiesen. Und in der Tat dürfte heute weitgehender Konsens
bestehen, dass normative Vorstellungen und Traditionen auch archaischen
Gesellschaften nicht abgesprochen werden können, und um so weniger
Gesellschaften, deren orale Rechtskultur noch unmittelbare Spuren in der
Schriftkultur hinterlassen hat: gemeint sind die germanischen Rechtswörter in
den Leges, die – stets schon von hohem Interesse – zentrale Bedeutung
innerhalb des neuen Forschungsansatzes erhalten.
Das Ziel der
Tagung war hoch gesteckt. Es sollte versucht werden, „die Synthese von Rechts-
und Kulturtraditionen“ zu erfassen (15), die aus der Begegnung der
germanischsprachigen Völker mit der Schriftkultur der Spätantike erwächst und
zum Fundament des sich ausbildenden okzidentalen Europa werden wird. Innerhalb
dieser Synthese sollte besondere Aufmerksamkeit dem – vor allem
rechtssprachlich und rechtssoziologisch zu erschließenden – Beitrag der „neuen“
Völker gewidmet werden. Ein weiteres Ziel der Tagung bestand darin, das „Recht“
dieser Epoche in einen allgemeinen kulturgeschichtlichen Zusammenhang zu
stellen und ihm mehr Beachtung als bisher innerhalb der ethnogenetischen
Forschungsprojekte zu den frühmittelalterlichen Gentes und Regna
zu sichern. Und in der Tat legt Dilcher überzeugend dar, dass die –
schließlich nach Stämmen bezeichneten – Leges ebenfalls als
identitätsstiftende oder -wahrende Faktoren wahrgenommen werden müssen.
Die oft nur wenige Seiten umfassenden einzelnen Beiträge stellen ganz überwiegend Kurzfassungen oder exemplarische Studien aus eigenen umfangreicheren Untersuchungen dar, die, auf den neuesten Forschungsstand gebracht, auf knappem Raum dichte Information bieten.
An den
Einführungsbeitrag Dilchers schließt sich eine vergleichende Betrachtung
von Jürgen Weitzels zu den heutigen Forschungsfragen und denen der
namhaften Frühmittelalterforscher H. E. Feine, H. Fehr und R. Buchner aus den
20er und 50er Jahre des 20. Jahrhunderts (43-50). Eine klare Darstellung der
modernen ethnogenetischen Forschung und der Problematik, zuordnungsstiftende
Identitätskriterien auszumachen, gibt Walter Pohl „Probleme einer
Sinngeschichte ethnischer Gemeinschaften, Identität und Tradition“ (51-67),
wobei er den Leges eine zentrale Rolle im Rahmen identitätsbildender
Tradition einräumt. Die Möglichkeit von Rückschlüssen auf vorrömische
Verhältnisse beurteilt er allerdings skeptisch, da die durch die
Reichsgründungen auf römischem Boden verursachten umstürzenden Veränderungen
bei den neuen Völkern zu Identitätskrisen und ausgeprägten
Orientierungsbedürfnissen geführt hätten. Ein leidenschaftliches Plädoyer Jörg
Jarnuts für die Abschaffung des Begriffs „germanisch“ aus Gründen des
ideologischen Missbrauchs sowie fehlenden germanischen Identitätsbewusstseins
schließt sich an (69-77). Es folgt ein sehr bemerkenswerter Beitrag Karol
Modzelewskis, dessen vergleichende Studien zu frühmittelalterlichen
sächsischen, slawischen und baltischen Institutionen wie Dingversammlung und
Ächtungsformen überraschend konkrete Gemeinsamkeiten ans Licht heben und die
Nachteile der Sprachbarriere, die den westlichen Rechtshistoriker zumeist von
der Geschichte Osteuropas trennt, empfindlich bewusst werden lässt (79-89). Um
frühmittelalterliche Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit am Beispiel der
„Historien“ des Gregor von Tours geht es in dem Beitrag von Hans-Werner
Goetz (91-117), genauer: um die subjektive Wahrnehmung Gregors von Recht
und Gerechtigkeit, womit Goetz zugleich den neueren
kulturwissenschaftlichen Ansatz der „Innenbetrachtung“ mittelalterlicher
Autoren verfolgt. An zahlreichen Beispielen wird das kirchlich und religiös
verankerte Denken Gregors in Kategorien von Recht und Unrecht und vom Walten göttlicher
Gerechtigkeit durch Gottesgericht dargestellt, aber auch das Denken in
objektive Geltung beanspruchenden weltlichen Rechtsnormen. Fraglich bleibt
freilich, inwieweit die Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen des vornehmen
Gallorömers und hohen Klerikers Gregor von Tours als solche der
frühmittelalterlichen Menschen angesehen werden können (94).
Der sprachwissenschaftliche Teil II „Sprache und Recht“ mit Beiträgen von Gabriele von Olberg-Haverkate, Ruth Schmidt-Wiegand, Klaus von See und Daniela Fruscione verdiente eine eingehendere Würdigung, als sie hier aus rechtshistorischer Feder gegeben werden kann, da die sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse von besonderer, ja tragender Bedeutung für die Frage sind, inwieweit die Völker germanischer Sprache eigene normative Traditionen ausgebildet haben, die die Reichsgründungen der Völkerwanderungszeit überdauerten.
Zwar sind auch
sprachwissenschaftliche Befunde theorien- und interpretationsgesteuert, wie der
wissenschaftsgeschichtliche Beitrag Klaus von Sees zur altnordischen
Rechtssprache plastisch vor Augen führt (159-165). Man ist sich aber heute
einig, sich mit der Analyse der sprachlichen Gemeinsamkeiten der germanischen
Sprachen in ihrem überlieferten Zustand zu begnügen und auf die Rekonstruktion einer
germanischen Ursprache zu verzichten. Zugleich besteht offenbar Konsens
darüber, die Rechtswörter, die in verschiedenen Stammesrechten mit
vergleichbarem Bedeutungsumfang auftreten, als intergermanisch einzustufen
(vgl. vor allem Fruscione, „Ansätze übergreifender germanischer
Rechtssprachen“ 167-182; ferner von Olberg-Haverkate, Die deutsche
Rechtssprache 123-140, 138). Ruth Schmidt-Wiegand, die seit Jahrzehnten
in engem und außerordentlich fruchtbarem Austausch mit der rechtshistorischen
Frühmittelalter- und Mittelalterforschung steht, gibt in ihrem Beitrag
„Sprache, Recht, Rechtssprache bei Franken und Alemannen vom 6.-8. Jahrhundert.“
(141-158) eindrucksvolle Beispiele vom Weg ursprünglich magisch gebrauchter
Wörter in die Gerichtssprache und schließlich in die Rechtsaufzeichnung vor
allem anhand der Malbergischen Glossen und des berühmten Titels 58 der Lex
Salica „De chrenechruda“.
Demgegenüber
rücken in Abschnitt III: „Die Reichsgründungen und ihre Rechts- und
Herrschaftsordnungen“ naturgemäß die spätantiken römischen und kirchlichen
Traditionen stärker in den Vordergrund. Einen gelehrten Streifzug durch antikes
und germanisches Königtum mit dem Schwerpunkt auf dem Heerkönigtum der
Völkerwanderungszeit unternimmt Herwig Wolfram („Grundlagen und Ursprünge
des europäischen Königtums“) (185-196). Sehr knapp nimmt Jörg Jarnut zu
der grundlegenden Streitfrage Stellung, inwieweit mittelalterliche Reiche, hier
das Frankenreich, als „Staat“ bezeichnet werden können (197-202) – eine
Streitfrage, die am Beispiel der Kontroverse zwischen Johannes Fried und
Hans-Werner Goetz dargestellt wird, aber auch in den breiteren Hintergrund der
verfassungsgeschichtlichen Forschung eines O. Brunner, Th. Mayer, W.
Schlesinger eingebettet wird. Entgegen dem „vom sog. ‚Germanischen’ bestimmten
Sonderweg“ dieser Forscher, der sich immer mehr als „Schimäre“ erweise (201),
spricht sich Jarnut im Sinne der sonstigen europäischen Forschung für
eine pragmatische Verwendung des Begriffs „Staat“ aus: ein Vorschlag, der bei
den Rechtshistorikern auf Ablehnung stieß. Auch der Beitrag der Historikerin Adelheid
Krah „Herrschaft und Konflikt in karolingischer und ottonischer Zeit“
(321-330) hat angesichts der Fülle der angesprochenen Probleme eher
skizzenhaften Charakter, u. a. sieht sie das dinggenossenschaftliche Modell im
Königsgericht bestätigt. Hermann Nehlsen gibt in seinem Beitrag „Der
Einfluss des Alten und Neuen Testaments auf die Rechtsentwicklung in der
Spätantike und im frühen Mittelalter bei den germanischen Stämmen“ (203-218) einen
Überblick über seine bisherigen Forschungsergebnisse zu diesem Thema – erinnert
sei an den bedeutungsvollen Nachweis, dass der Tit. 55,4 der Lex Salica,
die zentrale Quelle für die Lehre von der altgermanischen Friedlosigkeit, in
Wahrheit biblisches Gedankengut enthält – und illustriert anhand von Normen aus
dem Edictum Theoderici, den Leges Visigothorum, der Lex
Burgundionum und der Lex Salica den biblischen Einfluss, den er aus
klerikaler Beteiligung an der Redaktion der Leges erklärt. Den breitesten
Traditionsstrang schriftlichen Rechts seit der Spätantike stellt Peter
Landau „Die Kirche als Vermittlerin schriftlichen Rechts“ (219-229) mit der
breitgefächerten Gattung verschiedenster Kanonessammlungen vor, einschließlich
der apogryphen Sammlungen wie des Pseudo-Isidor, die die abendländische
Rechtskultur nachhaltig geprägt haben. Vor allem aber zeichnet Landau
die erstaunlich weite und frühe handschriftliche Verbreitung dieser Sammlungen
im merowingischen wie karolingischen Frankenreich, Churrätien und Bayern nach.
Auch Harald Siems „Zum Weiterwirken römischen Rechts in der kulturellen
Vielfalt des Frühmittelalters“ (231-255) verfolgt einen in die Antike
zurückreichenden Traditionsstrang, den des römischen Rechts, wobei er die sehr
bedenkenswerte Konzeption einer frühmittelalterlichen Mischkultur darlegt, die
sich nicht in germanisches Recht hier und römisches Recht dort aufteilen lasse.
Seine These, dass es von der Antike bis ins Mittelalter – also bereits vor den
Reichsgründungen der Völkerwanderungszeit – durch ständige Kontakte mit der
römischen Zivilisation alltägliche Erfahrungen des römischen Rechts gegeben
habe, stützt Siems zum einen auf die Präsenz einer römischen
Restbevölkerung, der vermutlich die überlieferten römischen Geschäftsurkunden
des Frühmittelalters zuzuschreiben sind, und zum anderen auf die Kirche als
Trägerin römischen Rechts, die starken Einfluss auf den Lebens- und
Rechtsalltag genommen habe. Besondere Hervorhebung verdient nach Methodik wie
Forschungsertrag der umfangreiche Beitrag Clausdieter Schotts („Lex und
Skriptorium – Eine Studie zu den süddeutschen Stammesrechten“) (257-290), der
erneut die handschriftliche Überlieferungssituation in Augenschein nimmt, zu
einer von den Eckhardtschen MGH- und Germanenrechten-Editionen abweichenden
Beurteilung gelangt und in detaillierter Argumentation sowohl auf
überlieferungsgeschichtlicher wie inhaltlicher Basis die – höchst umstrittene –
Lex Alamannorum als eine Fälschung ausmacht, die vermutlich im
bedeutenden Skriptorium des Klosters Reichenau entstanden ist: eine Vermutung,
die Schott durch die Verbindung von Textanalyse und detaillierter
Nachzeichnung des historisch-politischen Umfeldes nahezu zur Gewissheit werden
lässt. Der Fälschungsverdacht erstreckt sich auch auf die der Lex Alamannorum
in vielerlei Hinsicht nahestehende Lex
Baiuvariorum. Als Herstellungsort wird unter den verschiedenen Thesen das
in Verbindung mit der Reichenau stehende bayerische Kloster Niederaltaich
favorisiert. Eva Schumann („Entstehung und Fortwirkung der Lex
Baiuvariorum“) (291-319) resumiert den aktuellen Forschungsstand zur Lex
Baiuvariorum. Den allgemein hoch bewerteten Sachverstand der Redaktoren
illustriert sie anschaulich an einem Quellenbeispiel. Zur deutlichen
Privilegierung der Kirche, die übrigens der Lex Alamannorum und der Lex
Baiuvariorum gemeinsam ist, hält Schumann die bemerkenswerte
Tatsache fest, dass ausweislich zahlreicher Urkunden des 8. und 9. Jahrhunderts
die Kirche unter Berufung auf die lex scripta ihre Interessen
durchzusetzen vermocht habe (311).
Wie nicht anders
zu erwarten, wird in Teil IV „Konflikt und Konfliktbeilegung“ eine andere Welt
sichtbar. Bereits Antonio Padoa Schioppa, „Aspetti della giustizia nei
placiti longobardi: note sul sistema delle prove” (333-348), stellt zu Recht
sowohl in der langobardischen Gesetzgebung wie in den Gerichtsurkunden des 7.
und 8. Jahrhunderts mit Eidhelfereid und Zweikampf Elemente germanischer
Tradition fest. Daneben aber gibt es Urkunden, die einen richterlich
dominierten Prozess mit rationalen Beweismitteln bezeugen, was Padoa
Schioppa überzeugend zumindest teilweise auf kirchlichen Einfluss, genauer:
auf die häufig bezeugten kirchlichen Prozessparteien zurückführt. Jürgen
Weitzel („Die Bedeutung der Dinggenossenschaft für die Herrschaftsordnung“)
(351-366) präsentiert prägnant die von ihm begründete und umfangreich
dargelegte Lehre von der Dinggenossenschaft (Dinggenossenschaft und Recht, 2
Bände, 1985), die hier in ihren Grundzügen nochmals kurz skizziert sei. Unter
dinggenossenschaftlicher Rechtsfindung versteht Weitzel die
„organisatorische und funktionale Trennung von Rechtsspruch und Rechtszwang“,
d. h. von Gerichtsversammlung einerseits und dem vorsitzenden Richter
andererseits, wobei Rechtsfindung insbesondere Rechtsbildung und weniger
Rechtsanwendung bezeichnet, dies in der Tat zugleich eine Folge oraler
Rechtskultur, die grundsätzlich keine bestandssicheren, lediglich anzuwendenden
Normen kennt. Von der dinggenossenschaftlichen Gerichtsverfassung vorwiegend
des nördlichen Frankenreichs sowie der Gebiete nördlich der Alpen unterscheidet
Weitzel das Modell des selbsturteilenden Richters, wobei er – auch dies
ist einsichtig – die Dinggenossenschaft in Beziehung zur Oralität sieht und das
Richtermodell eher dem Schriftrecht zuordnet. Die Dinggenossenschaft stellt
nach Weitzel ein „wesentlich germanisches“ „Organisations-,
Entscheidungs- und Herrschaftsmodell“ dar, lediglich der vorsitzende Richter
entstamme der spätantiken römisch-kirchlichen Tradition. Thematisiert wird
sodann das Verhältnis von Dingversammlung und mittelalterlicher
Herrschaftsordnung, wobei dem dinggenossenschaftlichen Prinzip die Funktion
einer Gewaltenteilung auf allen Herrschaftsebenen während des gesamten
Mittelalters zukomme. Einen kurzen und instruktiven Streifzug durch Geschichte
und Formen der älteren prozessualen und der materiellen Talion einschließlich
ihres Auftretens in den Leges unternimmt Heinz Holzhauer („Über
materielle und prozessuale Talion“) (367-376). Die beiden folgenden Beiträge
führen in die nordischen Länder, deren reiche mittelalterlichen und
spätmittelalterlichen Quellen noch Gesellschaften ohne nennenswerte
obrigkeitliche Gewalt erkennen lassen. Eine sehr instruktive, quellenfundierte
und zugleich analytische Darstellung von Gesellschaften (Island, Norwegen,
Schweden), die auf Selbstregulierung, Selbsthilfe und Reziprozität beruhen, die
allmähliche Etablierung einer königlichen Gerichtsbarkeit und die damit
einhergehenden prozessualen Entwicklungsverläufe, gibt Klaus von See („Selbsthilfe
und öffentlicher Strafanspruch im mittelalterlichen Norden“) (377-390), wobei
er den ursprünglichen Zustand „eher als typisch frührechtlich“ denn „als typisch
germanisch“ qualifiziert. Peter Oestmann („Blutrache und Fehde in
isländischen Quellen“) (391-413) stellt dem in der Graugans normierten
Racherecht die in den Sagas geschilderten Blutrachefälle gegenüber. Andreas
Heusler maß den Sagaerzählungen, obgleich ungewiss ist, ob Verhältnisse des
10./11. oder des 13. Jahrhunderts geschildert werden, einen derart hohen
Realitätsgehalt zu, dass er sie sogar quantitativ ausgewertet hat. Oestmanns
Beitrag kulminiert in dem Vorschlag, gewisse Regelmäßigkeiten, die er als Folge
von Untaten festgestellt hat – sei es
Blutrache, Vergleich oder Gerichtsverfahren im Allding – , unter dem Begriff
der spontanen Ordnung zusammenzufassen, eine aus der Wirtschaftstheorie
stammende Lehre, die Friedrich August von Hayek auf vorstaatliche
Gesellschaften erstreckt hat (vgl. dazu Rückert 594ff.). Hiernach soll
zwischen die bisherigen beiden Kategorien Recht und Nichtrecht ein
Zwischenglied treten: die spontane Ordnung, als eine Vorform des Rechts – in
der Tat ein ansprechendes Modell, das zugleich einen Zustand neben und vor
Ausbildung einer eigentlichen Rechtsgewohnheit beschreiben würde. Es fragt sich
allerdings, ob die Vorstellung der spontanen Ordnung und somit einer
nichtrechtlichen, aber doch funktionsfähigen innergesellschaftlichen
„Selbstregulierung“ nicht eher für wirtschaftsnahe Rechtsgebiete passt, etwa
für den Bereich rechtsgeschäftlichen Handelns, und weniger für emotionsgeladene
Konflikte, die Rachegelüste, aber auch existentielle Rang- und Ehrprobleme
auslösten. Zu denken gibt jedenfalls, dass die Eindämmung von Blutrache und
Fehde erstes und drängendstes Anliegen obrigkeitlicher Gewalt vom
Frühmittelalter an über viele Jahrhunderte gewesen ist: vermutlich deshalb,
weil auf die Kräfte innergesellschaftlicher Selbstregulierung gerade hier kein
Verlass war. Erwähnt seien im übrigen auch die – offenbar erfolglosen –
Versuche der Graugans zu Einschränkung der Rache.
Der V. Teil
„Statusänderung und Rechtsübertragung“ steht im Zeichen der Konfrontation
unterschiedlicher – antik-römisch oder archaisch-germanisch orientierter –
Deutungsversuche. Ausgangspunkt der vielschichtigen Abhandlung Gerhard
Dilchers „per gairethinx secundum ritus gentis nostrae confirmantes. Zu
Recht und Ritual im Langobardenrecht“ (419-448) ist die Kontroverse um das
langobardische Rechtswort gairethinx, das Ennio Cortese entsprechend der
im Edictum Rothari begegnenden Definition als donatio auch im Epilog (c.
386) in diesem Sinne deutet. König Rothari hätte also – für den deutschen
Rechtshistoriker eine zweifellos befremdliche Vorstellung – durch eine Art
Speerritus dem langobardischen Volk das aufgezeichnete Edikt zum Geschenk
gemacht. Dilcher erarbeitet in eingehender, zum Teil auch mühevoller
Interpretation – die diversen Textstellen ergeben kein von vornherein
einheitliches Bild –, dass gairethinx als Bekräftigungsritual anzusehen
und die Gleichsetzung mit donatio
nicht als Definition, sondern als Transformation in die Denkweise der
lateinischen Schriftkultur aufzufassen sei. Auch der Kontext des Epilogs sowie
die Wortbedeutung von gairethinx sprechen in der Tat für eine
germanisch-langobardische Deutung: Bekräftigung des Edikts durch die
Heeresversammlung. Erwähnt seien auch der kenntnisreiche Exkurs Dilchers
zur Deutung der Agilulf-Platte (449-458) und die zustimmende Intervention Modzelewskis
(459f.). Ein ähnliches – zwischen Schenkung, Testament und Adoption
angesiedeltes – Rechtsgeschäft, wie es im Zusammenhang mit dem langobardischen
gairethinx bezeugt ist, enthält auch die Lex Salica in Gestalt der
Affatomie. Adrian Schmidt-Recla („Mancipatio familiae und Affatomie“)
(461-486) befasst sich mit der Frage, ob die salfränkische Affatomie auf die –
in spätrömischen Rechtsquellen nicht mehr bezeugte – mancipatio familiae
der Gaius-Institutionen zurückgehen könnte und beurteilt dies als nicht
nachweisbar, weil der entsprechende Text in den in Gallien bezeugten Gaius-Institutionen
nicht enthalten ist. Auch der – recht formaljuristisch durchgeführte –
inhaltliche Vergleich der Rechtsinstitute fällt negativ aus. Der ausführlich
dargestellte Meinungsstreit um die rechtliche Einordung der Affatomie wird mit
dem unvermittelten Lösungsvorschlag beendet, dass die Affatomie kein
Rechtsgeschäft, sondern höchstwahrscheinlich ein Verfahren gewesen sei, das
mehrere Rechtsgeschäfte umfasst habe. Ein knapper Überblick Peter Landaus,
„Rechtsübertragung an Grund und Boden in den Volksrechten“ (487-494), behandelt
Verfügungsbeschränkungen wie Erbenwartrecht, Beispruchsrecht u. ä. mit dem
Fazit, dass diese Institute keineswegs den Rückschluss auf ein ursprünglich der
Hausgemeinschaft zustehendes Grundeigentum erlaubten, sondern möglicherweise
nach einer Phase weitgehender Verfügungsfreiheit erst nach der
Völkerwanderungszeit eingeführt worden seien.
Teil VI unter
dem nicht ganz glücklich erscheinenden Titel „Zur Wirkungsgeschichte“
beschließt mit zwei Beiträgen den Hauptteil. Steffen Schlinker, „Zur
Frage der Kontinuität und Diskontinuität prozessrechtlicher Institute von der
Spätantike bis in das hohe Mittelalter“(497-501), legt kurz und überzeugend
dar, dass der Kontumazialprozess des nachklassischen römischen Prozessrechts
einerseits und das fränkische sowie langobardische Säumnisverfahren
andererseits trotz mancher Ähnlichkeit tiefe Unterschiede aufweisen und daher
von einer Diskontinuität auszugehen sei. Bernd Kannowskis anschaulicher
wie differenzierter Beitrag „Der Sachsenspiegel und die Buch’sche Glosse“
(503-521) behandelt mit Eike von Repgow und Johann von Buch die Begegnung
zweier Rechtskulturen im 13./14. Jahrhundert, und zwar am Beispiel des
Beweisrechts, vor allem des gerichtlichen Zweikampfs. Die Verbindung zum
Frühmittelalter besteht offenbar darin, dass die von Kannowski
ausgewählte Sachsenspiegelstelle (Landrecht I 18) von Recht spricht, das die
Sachsen gegen Karls des Großen Willen beibehalten hätten. Kannowski hat
es – im Bewusstsein der methodischen
Problematik – allerdings vermieden, sich in der Kontinuitätsfrage festzulegen.
Der letzte Teil
VII „Die neuen Völker und die Begründung einer mittelalterlichen Rechtskultur.
Rückblick und Ausblick“ umfasst überwiegend Beiträge mit weitgreifenden und
theoriegebundenen Fragestellungen.
Besondere
Anerkennung verdient die „philologische Schlussbemerkung“ Daniela Frusciones
(525-535), die in wohltuender Objektivität auf sprachwissenschaftlicher,
ethnologisch und historisch ergänzter Basis die immer wieder angeschnittene
Frage erörtert, inwiefern die Verwendung des Begriffs „Germanen, germanisch“
noch wissenschaftlich korrekt ist. Nach allem ist eine sprachwissenschaftliche
Grundlage des Germanischen gegeben, jedoch keine ethnische, weshalb nach
Meinung der neuen ethnologischen Forschung die Bezeichnung „germanisch“
allenfalls als wissenschaftliche Konvention akzeptiert werden kann. Was den
Bereich des Rechts anbelangt, befürwortet Fruscione angesichts des
Bestands an Rechtswörtern germanischer Formen und Inhalte vorsichtig die Möglichkeit,
in einem historisch-geographischen Kontext und in Relation zur römischen
Rechtskultur von „germanischem“ anstatt nur von archaischem Recht zu sprechen.
In einer knappen Skizze thematisiert H.-W.Goetz („Gens-Regnum-Lex: das
Beispiel der Franken“) (537-542) den Vorgang der fränkischen Reichsgründung und
die Bedeutung des Regnum, das dem „Vielvölkerstaat“ Namen und
Selbstverständnis gab, und hebt Akkulturationsvorgänge auf allen Ebenen, und
zwar schon vor Reichsgründung hervor, so dass auch hinsichtlich der Leges
von den strikten Vorstellungen eines germanisch-römischen Gegensatzes
abzurücken sei. In scharfer Polemik gegen die historische Fraktion der
Tagung kommentiert sodann Jürgen
Weitzel („Gericht, Verfahren, Recht“) (543-548) die Diskussion über seinen
Vortrag zur Dinggenossenschaft, rügt den bereits erwähnten, von Goetz, Jarnut
und Pohl herausgegebenen Sammelband „Regna and Gentes“, weil das
römische Element einseitig betont und die Bedeutung der
dinggenossenschaftlichen Rechtsbildung nicht angemessen wahrgenommen worden
sei, und resumiert, dass die unterschiedlichen Perspektiven der Historiker
einerseits und der Rechtshistoriker und Philologen andererseits nicht zu einer
fruchtbaren Diskussion zusammenzuführen gewesen seien. Elmar Wadle („Frieden,
Zwang, Recht – Ein Versuch, Zusammenhänge in der Zeit der leges zu
deuten“) (549-560) stellt einige anregende Überlegungen zu Frieden, Recht und
Gericht in den Leges an. Gewiss wird man zustimmen können, wenn er die
rechtliche Situation als „Gemengelage von hergebrachten ‚germanischen’
Rechtsgewohnheiten und römischen, in die spätantik-lateinische Schriftkultur
eingebetteten Rechtsvorstellungen“ (550) kennzeichnet und von Kernbereichen
überkommener Rechtsgewohnheiten spricht, die in den Leges auszumachen
seien. Wenn aber „verallgemeinernd“ festgehalten wird, dass zu den prägenden
Elementen „aller leges“ mit Gewissheit das
dinggenossenschaftliche Gericht gehöre (551), so stellt dies doch wohl eine zu
weit gehende Verallgemeinerung im Sinne eines germanisierenden Gesamtbildes
dar. Um den seit den 90er Jahren vielerörterten mittelalterlichen Rechtsbegriff
geht es Dietmar Willoweit („Innergesellschaftlich und hierarchisch
begründete Rechtsbildung im Mittelalter – Ein Kommentar“) (561-568), indem er
dem bisherigen Begriffspaar Rechtsgewohnheiten – Gesetzesrecht das zweifellos
offenere, staatsfernere Begriffspaar „innergesellschaftliches – hierarchisches Recht“ gegenüber stellt. Das
innergesellschaftliche Recht ist offensichtlich nicht mit Rechtsgewohnheit identisch
(562), aber ebenfalls sanktionsbewehrt, jedoch erfolgt die Sanktion – und dies
sei entscheidend – nicht unter Mitwirkung herrschaftlicher Amtsträger, sondern
der Rechtsinhaber selbst: ein Modell, das Willoweit nicht nur in
vorstaatlicher Zeit ansiedelt, sondern auch noch in der Sühnevertragspraxis des
16. Jahrhunderts verwirklicht sieht. Eine genauere Verortung des neuen
Begriffspaars innerhalb des bestehenden Meinungsspektrums zum mittelalterlichen
Rechtsbegriff steht freilich noch aus. Erst dann wird zu beurteilen sein,
welches qualitative Potential den neuen Begriffen innewohnen könnte. Mit Joachim
Rückert („Rechtsbegriff und Rechtsbegriffe – germanisch, römisch,
kirchlich, heutig ?“) (569-602) ergreift ein Nichtmediävist das Wort, von der
zweifellos privilegierten Position des methodisch-theoretisch-soziologisch wohl
gerüsteten, mediävistisch informierten, aber nicht involvierten und daher
distanzierten Betrachters aus. Es geht ihm zunächst um das Aufzeigen von
„Sprachspielen“, untrennbar verbunden freilich mit der inhaltlichen Analyse des
Gesagten, am Beispiel des Beitrags von Goetz über Gregor von Tours und
des von Jarnut verwendeten Staatsbegriffs. Wenn Rückert
allerdings schreibt, Goetz wolle durch den bischöflichen Zeitzeugen
Gregor über frühmittelalterliches Recht und insbesondere die Rechtspraxis
sprechen (573), so liegt hier wohl ein Missverständnis vor. Die von Goetz
gewählte „Innenansicht“ des Autors Gregor von Tours konzentriert sich völlig
auf Gregors Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, wobei aus Sicht des
Rechtshistorikers wie des Rechtstheoretikers freilich viele Fragen offen
bleiben. Ein gelehrter Rundgang durch Definitionen des Grundbegriffs Recht
schließt sich an, um bei Luhmanns Rechtsbegriff von normativer Erwartung
und Verhaltenssteuerung, Friedrich August von Hayeks „spontaner Ordnung“
zu verweilen und die Fruchtbarkeit dieser Theorien für das Erfassen eines
vorstaatlichen Rechts ausführlich zu erörtern, und mit H. L. A. Hart zu
schließen. So anregend und lesenswert diese Ausführungen sind: aus Babylon, um
mit Rückert zu reden, ist kein Pfingsten geworden – und dies war wohl
auch nicht intendiert.
Gerhard
Dilchers wiederum sehr inhaltsreicher Beitrag „Zur Entstehungs- und
Wirkungsgeschichte der mittelalterlichen Rechtskultur“ (603-637) stellt
zugleich die Schlusszusammenfassung dar, worin, „keineswegs ganz systematisch
und durchaus subjektiv“ (604), verschiedene, teilweise auch nur in Diskussionen
angeschnittene Gesichtspunkte der Tagung aufgegriffen und im Kontext der eingangs
gesetzten Ziele reflektiert werden.
Ein sehr kontrovers diskutierter Schwerpunkt der Tagung war die Frage um die Beibehaltung der Begriffe „Germane, germanisch“, wofür sich letztlich die Mehrzahl der Autoren ausgesprochen hat. In der Tat ist bisher kein anderer geeigneter Sammelbegriff gefunden worden und ohne eine Sammelbezeichnung für die Völker, um deren Rechtskultur es im Frühmittelalter primär geht, ist schwerlich auszukommen. Nichtsdestoweniger sind Jarnuts Vorbehalte gegenüber den immer noch gern genutzten, aber hoch problematischen Annehmlichkeiten dieses Begriffs sehr ernst zu nehmen: „(Die Konstituierung des ‚Germanischen’ als historische Kategorie) erweitert ... scheinbar unser Wissen über jedes germanischsprachige Volk dadurch ungemein, dass viele oder alle Erkenntnisse, die wir über die als Einheit betrachteten ‚Germanen’ besitzen, nun auf dieses Volk übertragen werden können“(75). Jarnuts Beobachtung lässt sich ohne weiteres auf das Gebiet des Rechts erstrecken und sollte dazu anhalten, die Qualifikation „germanisch“ mit Vorsicht zu verwenden.
Zutreffend hebt Dilcher als „grundlegende Konsense“ (607f.) der Tagung hervor, dass entsprechend dem modernen methodischen und insbesondere ethnosoziologischen Forschungsstand überkommene Vorstellungen von „volkshaften“ kulturellen Phänomenen, von urgermanischen oder gemeingermanischen Kulturstufen, von heidnisch-religiösen und sakralen Elementen fallen gelassen bzw. ausgeklammert wurden. Ferner weist Dilcher zu Recht auf die Leistungen der Rechtsgeschichte in ihrem Bemühen um eine differenzierte, kulturgeschichtlich ausgerichtete Beschreibung des mittelalterlichen Rechts hin (609f.) und auf die Bedeutung, die nunmehr „innergesellschaftlich“ verstandenen Rechtsformen im Rahmen ethnogenetischer Forschung als identitätsbildender Faktor zukomme (614f.). Eingehend äußert sich Dilcher auch „zum methodischen Zugriff auf orale Traditionen“ (611ff.) und illustriert an Beispielen aus der angelsächsischen wie der langobardischen Gesetzgebung, in welch unterschiedlicher Intensität das spätantik-römische Vorbild einwirken konnte und keineswegs zu einer Kontinuität römischer Rechtssätze führen musste (611ff.). Ferner hat die in der Diskussion zutage getretene Skepsis der Historiker gegenüber dem Modell der dinggenossenschaftlichen Rechtsbildung Dilcher veranlasst, nochmals aus soziologischer Perspektive die zentrale Bedeutung des Thing – wir befinden uns unversehens in der germanischen Frühzeit – als Kultversammlung, als Ort der Identitätsbildung und in diesem Rahmen auch als Ort der Rechtsbildung zu verdeutlichen und in offensichtlicher Annahme strikter Kontinuität einen Traditionsstrang ins Mittelalter zu führen (619ff.). Sehr akzentuiert wird ein weiteres zentrales Problem behandelt: die Frage des Realitätsbezugs der Leges und sonstiger Rechtstexte (628ff.). Die Annahme einer – offenbar flächendeckenden – vom Schriftrecht unabhängig gedachten, durch Gewohnheiten geprägten oralen Rechtskultur relativiert den Aussagewert schriftlich fixierten Rechts noch erheblich stärker, als dies bisher der Fall war.
Der letzte
Abschnitt des Schlussbeitrags steht unter dem klangvollem Titel: „Das
veränderte Rechtsverständnis: Teilhabe und Freiheit, Konsens und Widerstand“
(632f.), eine assoziative, stark subjektiv geprägte Gesamtschau über die
Jahrhunderte.
Trotz der
Vielseitigkeit der Aspekte mündet der eingangs angekündigte Versuch einer
Synthese aus den verschiedenen Rechts- und Kulturtraditionen, die in den
Reichen der Völkerwanderungszeit aufeinander trafen, in der Schlusszusammenfassung
doch in eine deutlich germanisierende Perspektive ein. Es mag zutreffen, dass
die Rechtspraxis sich sehr viel weiter entfernt von den in den Leges
niedergelegten Rechtsinstituten gestaltet hat, als man dies bisher bereits
angenommen hat – obgleich sich andererseits niemand gehindert fühlte, in diesem
Band ebendiese Leges als die nahezu einzigen Zeugnisse für Spuren
normativer Traditionen der Wandervölker intensiv auszuwerten. Die häufige
Bezugnahme auf die dinggenossenschaftliche Rechtsfindung, hergeleitet aus dem
germanischen Thing, vermittelt indessen den Eindruck, als stände einem stärker
römisch orientierten Schriftrecht eine weithin von germanischen Traditionen
geprägte mündliche Rechtskultur gegenüber (620, 622). Die noch von Weitzel,
dem Begründer der dinggenossenschaftlichen Lehre, klar gezogenen geographischen
und institutionellen Grenzen sind vage geworden. Jedes abendländische placitum
scheint imstande zu sein, eine Dinggenossenschaft zu belegen – unabhängig von
Siedlungsverhältnissen und romanischen Bevölkerungsanteilen. Unstreitig geht
die Schriftkultur und mit ihr das spätantike Erbe im Laufe des Frühmittelalters
zurück. Die zunehmende Oralisierung der Rechtskultur bedeutet zugleich
Archaisierung. Kann nun dieser komplexe Vorgang ohne weiteres und
flächendeckend als Durchsetzung altgermanischer Rechtstraditionen interpretiert
werden?
Ungeachtet der soeben geäußerten Zweifel ist ein positives Fazit zu ziehen. Die intensive Einbeziehung philologischer wie rechtsethnologischer Erkenntnisse hat in der Tat eine wesentlich sensiblere Wahrnehmung und Beschreibung „barbarischer“ Rechtstraditionen ermöglicht und diese zugleich überzeugend kulturwissenschaftlich verankert.
Festzuhalten ist
ferner, dass der Band in seiner Gesamtheit einen außerordentlich instruktiven
Querschnitt durch eine Vielzahl von Problemen, Perspektiven, Methoden und
Quellenbereichen des Frühmittelalters gibt. Für jeden Forscher, der sich mit
dieser Epoche befasst oder befassen will, wird dieser Band von hohem
Informations- und Orientierungswert sein, denn er präsentiert in gedrängter
Form den aktuellen Forschungsstand in einer thematischen Breite, die sich der
einzelne Forscher nur unter großem zeitlichen Aufwand erschließen könnte. Viel
bleibt noch zu tun. Und dies wird dem Initiator dieses Bandes nur recht sein,
hat er doch die Hoffnung geäußert (604), „die Weite und Offenheit des
behandelten Problemfeldes noch einmal deutlich zu machen“.
Freiburg im
Breisgau Karin
Nehlsen-von Stryk