Küpper, Herbert, Einführung in die Rechtsgeschichte
Osteuropas (= Studien des Instituts für Ostrecht 54). Lang, Frankfurt am Main
2005. 709 S., zahlreiche Grafiken. Besprochen von Martin Avenarius.
Eine Übersichtsdarstellung zur
Rechtsgeschichte Osteuropas bildete bislang ein Desiderat. Der Verfasser hat
sich seiner Aufgabe auf Grundlage einer breitgefächerten Forschungsperspektive
gewidmet. Die Darstellung beginnt im 1. Kapitel mit einer Beschreibung der
Rechtsregionen in der östlichen Hälfte Europas und der Untergliederung des
behandelten Gebiets in vier Bereiche: Osteuropa im engeren Sinne,
Nordosteuropa, Ostmitteleuropa und Südosteuropa. In einführenden Abschnitten
stellt Küpper ferner das Ostrecht als Disziplin vor und geht auf die
Rechtskreislehre ein, um auf ihrer Grundlage eine Einteilung der verschiedenen
Rechtsordnungen vorzunehmen.
Im 2.
Kapitel stellt der Verfasser die Rechtsgeschichte der osteuropäischen Staaten
vor dem Sozialismus dar. Dabei erörtert er zuerst die Rechtsgeschichte
Osteuropas im engeren Sinne. Die Darstellung behandelt Frühzeit, Zeit der
Einzelfürstentümer, Moskauer Staat, absolutistisches Kaiserreich und
konstitutionelle Monarchie. Anschließend wendet sie sich Nordosteuropa zu und
behandelt insbesondere das Recht Estlands und Lettlands zur Zeit der
Fremdherschaft, Litauen als eigenen Staat und unter Fremdherrschaft sowie
schließlich die Periode der Unabhängigkeit der baltischen Staaten in der
Zwischenkriegszeit. Die Rechtsgeschichte Ostmitteleuropas ist im wesentlichen
nach Ländern (Slowenien, böhmische Länder, Polen, Ungarn, Slowakei, Kroatien)
dargestellt. Besonders geht der Verfasser hier auf die Entwicklung seit den
Pariser Vorortverträgen bis zur Machtergreifung der Kommunisten in den
einzelnen Ländern ein. Den Abschluß dieses Kapitels bildet die Rechtsgeschichte
Südosteuropas (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Makedonien,
Rumänien, Serbien, Montenegro). Hier werden die byzantinische und die osmanische
Epoche sowie die Zeit der nationalstaatlichen Unabhängigkeit unterschieden.
Im 3.
Kapitel wird vergleichsweise ausführlich die Rechtsgeschichte während des
Sozialismus behandelt. Küpper geht zunächst auf die Ideologie sowie die
Rolle des Rechts im sozialistischen Verständnis ein. Anschließend wird die
Entwicklung im „Mutterland der Revolution“, der Sowjetunion, nachgezeichnet,
bevor der Verfasser auf den Export des sozialistischen Rechts in andere
osteuropäische Staaten und sogar auf das sozialistische Recht in Staaten
außerhalb Europas eingeht. Das 4. Kapitel befaßt sich mit der Rechtsentwicklung
nach dem Ende des Sozialismus. Dargestellt wird der Niedergang des
sozialistischen Rechts und die Entstehung neuer, postsozialistischer
Rechtsordnungen. Im 5. Kapitel geht die Darstellung schließlich auf die
Entwicklung der deutschsprachigen Ostrechtsforschung ein.
Der
Verfasser ist kein Rechtshistoriker, sondern Vertreter des Ostrechts. Daher ist
weder sein Erkenntnisinteresse noch seine Forschungsperspektive rein
historisch. Vielmehr scheint das Forschungsinteresse des Ostrechtlers in der
gesamten Darstellung durch; es bricht sich vollends Bahn, wenn die Betrachtung
am Schluß des Buches über Europa hinausgeht und sich auf fernere Länder
erstreckt, in denen ein sozialistisches oder jedenfalls sozialistisch
beeinflußtes System existiert (620ff.). Außerdem erklären sich aus diesem
Zusammenhang bestimmte Besonderheiten der Stoffpräsentation und der
Schwerpunktsetzung. Der Verfasser meint, das Buch folge im Aufbau den
klassischen Darstellungen zur Rechtsgeschichte, gliedere also zunächst nach
Epochen und innerhalb derselben dann nach den „heutigen Einteilungskategorien“
- gemeint sind die Staaten der Gegenwart. So rechtfertigt er etwa die
gesonderte Aufführung Tibets mit der Bemerkung, dass dieses „de jure ein
unabhängiger Staat“ sei (636). Darauf kann es für eine historische Darstellung
freilich nicht ankommen. Die Ausrichtung der Darstellung am heutigen
Staatenbestand hat zur Folge, dass für die frühere Zeit die Rechtsgeschichte
derjenigen Länder zu kurz kommt, die erst kürzlich Nationalstaaten wurden. Das
ist besonders bedauerlich im Falle von Weißrußland (Belarus’) und der Ukraine,
die überhaupt erst mit Erlangung ihrer Eigenstaatlichkeit im 20. Jahrhundert
näher in den Blick genommen werden. Dabei hätte sich ein rechtshistorisches
Interesse gerade hier auf die wechselhafte Entwicklung der Rechtsordnung
richten können. Große Teile beider Länder gehörten bis 1795 zum
polnisch-litauischen Doppelstaat, so dass die litauischen Statuten Anwendung
fanden. Das 3. litauische Statut von 1588, das zahlreiche Elemente aus dem
römischen Recht enthielt, stand teilweise sogar bis zum Inkrafttreten des Svod
Zakonov 1835 in Geltung.[1]
Auf den Gebieten der Ukraine, die zum polnisch-litauischen Doppelstaat
gehörten, galt daneben das Magdeburger Stadtrecht, das als eine Art
„Mutterrecht“ für die Städte Mittel- und Osteuropas angesehen werden kann.
Infolge des Chmelnickij-Aufstandes von 1648-1654 lösten sich weite Teile der
Ukraine von Polen. Nach dem polnisch-russischen Krieg von 1667 wurden die
östlich des Dnjepr gelegenen ukrainischen Gebiete, darunter Kiew, an Rußland
abgetreten, erhielten dort aber weitgehende Autonomie. Seit 1720 bemühte man
sich um eine Konsolidierung des in diesen Gebieten geltenden Rechts mit dem
Ziel einer Kodifikation. Dies mißlang, und für die in verschiedene
Gouvernements aufgeteilte Ukraine blieben einerseits die Rechtszersplitterung
und andererseits der Einfluß des russischen Rechts bestimmend. In den westlichen
Gebieten der Ukraine waren bis 1918 das Westgalizische und das Ostgalizische
Bürgerliche Gesetzbuch von 1797 in Kraft. Während der Verfasser im übrigen
durchaus auf Territorien des Zarenreichs mit Sonderstatus eingeht (Finnland,
Baltische Länder), kommt im übrigen das Partikularrecht, etwa das der
ukrainischen Gouvernements Černigov und Poltava, nicht zur Sprache. In
gewisser Weise wird insoweit die von der Reichsadministration betriebene
Marginalisierung der historischen Eigenarten Weißrußlands und der Ukraine
fortgeschrieben, in der etwa die Verwendung der Namen „Kleinrußland,
Neurußland“ usw. für eine Leugnung der kulturellen Eigenständigkeit dieser
Länder stand. Leider wird die wechselhafte Rechtsgeschichte Galiziens
ebensowenig beschrieben wie die Bedeutung seiner Universitätsstadt Lemberg
(L'viv). Entsprechendes gilt für Czernowitz und die Rechtsentwicklung in der
Bukowina unter den wechselnden Einflüssen des Osmanischen Reichs, der
Donaumonarchie, Rumäniens, der Ukraine und Rußlands.
Richtigerweise
betont der Verfasser den grundlegenden entwicklungsgeschichtlichen Unterschied
zwischen solchen Gebieten, die von der byzantinischen Kirche missioniert
wurden, und solchen, in denen diesen Aufgabe der römischen Kirche zukam.
Osteuropa i.e.S. sowie große Teile des Südostens wurden von Byzanz missioniert
und gehörten seitdem zum orthodoxen Teil Europas. Der „aus dem Osten
favorisierte Blick auf das mittelalterliche ‚lateinische Europa’“ (Meincke)[2]
wurde jedenfalls von diesen Ländern aus zunächst noch nicht in Richtung Westen
gerichtet. Von der byzantinischen Kirche bekamen die zur Orthodoxie bekehrten
Völker keine entwickelte Rechtsidee vermittelt, weil jene sich – im Gegensatz
zur lateinischen Kirche – kaum um die rechtliche Regelung der weltlichen Verhältnisse
kümmerte. Unter diesen Umständen war die Perspektive eines großen Teils der
einfachen Bevölkerung bis in die Neuzeit durch den Gegensatz gekennzeichnet,
der zwischen ihren eigenen, von orthodoxen Werten geprägten
Gerechtigkeitsvorstellungen und dem staatlich gesetzten, oftmals als fremdes
Unterdrückungsinstrument wahrgenommenen und abgelehnten Recht bestand. Dieser
Umstand sollte noch in der Neuzeit die Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber
Neuerungen erschweren, und zwar bei Maßnahmen autoritärer Regime ebenso wie bei
den seit dem Absolutismus immer wieder initiierten Reformbemühungen, die als
Erneuerungsversuche von oben die starke Ausrichtung des Rechts auf den Staat
verstärkten und wegen des Fehlens einer Zivilgesellschaft scheiterten. Auch
eine wissenschaftliche Pflege des überkommenen byzantinischen Rechts konnte
mangels Förderung durch die Kirche nicht gedeihen. Gleichwohl kam es zu einer
folgenreichen Rezeption des byzantinischen Rechts, in deren Mittelpunkt
bearbeitete Auszüge auf Grundlage des justinianischen Rechts standen, nämlich
insbesondere die aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts stammende
Eklogē sowie der um 879 von Basileios I. publizierte, klassizistische
Procheiros Nomos.
Die
Darstellung der Rechtsgeschichte Osteuropas i. e. S. (42ff.) konzentriert sich
auf die Geschichte des russischen Rechts. Der Verfasser beschreibt die Geschichte
der Rechtsaufzeichnungen, stellt die Entstehung der Russkaja Pravda (seit 10.
Jhdt.) dar[3]
und schildert am Beispiel des Uloženie von 1649 die Eigenart des
Gesetzgebungserfahrens, bestehendes Recht in eine Neue Form „hineinzulegen“
(uložit’), ein Verfahren, das auch die Arbeiten am Polnoe Sobranie Zakonov
(1832) sowie am Svod Zakonov (1835) kennzeichnete.
Der
Verfasser beschreibt die Geschichte der Zarenherrschaft im Wandel des
kaiserlichen Selbstverständnisses von der Aufgabe als Wahrer der Orthodoxie in
der Nachfolge der byzantinischen Kaiser seit Ivan III. (1462-1505) über das
absolutistische Regime Peters I., der mit der Annahme des Titels Imperator
sogar einen Bezug zum „ersten Rom“ schaffen wollte. Dabei knüpfte die
Vorstellung vom Zaren als „Selbstherrscher“ (samoderžavec) an den
byzantinischen Kaisertitel autokratōr an. Von der Selbstherrschaft
rückten auch jene Reformzaren nicht ab, die das Recht nach dem Vorbild
Westeuropas zu modernisieren suchten. So ließ auch die schließlich
eingerichtete konstitutionelle Monarchie (172ff.) nur einen
„Scheinkonstitutionalismus“ (M. Weber) entstehen, der dadurch
gekennzeichnet war, dass hinter der Fassade der oktroyierten Verfassung von
1906 die Willkürherrschaft fortgeführt wurde. Gleichzeitig rangen liberale
Juristen um die Etablierung rechtsstaatlicher, parlamentarischer Strukturen -
Juristen, die in dem Bewußtsein, dass eine freiheitliche, individualistische
Rechtsordnung kein selbstverständliches Gut ist, um so leidenschaftlicher dafür
eintraten.
Zu den charakteristischen
Einrichtungen des traditionellen russischen Rechts gehört der mir, die
rechtlich verfaßte Dorfgemeinschaft, in die die Landbevölkerung jeweils sozial,
rechtlich und wirtschaftlich eingebunden war. Die Rechtsnatur des mir ist auch
im russischen Schrifttum seit Langem umstritten,[4]
doch kennzeichneten ihn die Vergemeinschaftung von Grund und Boden sowie die
Gesamthaftung im Außenverhältnis. Der mir verfügte über das Land, das den
einzelnen Höfen periodisch zur Nutzung neu zugewiesen wurde (peredel); im
Moskauer Staat lag das Bodeneigentum dann beim Grundherrn. Als der Staat nach
Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 von den Bauern verlangte, ihr Land
abzubezahlen, nutzte er die Kollektivhaftung, um die Zahlung zu erwirken. Durch
die mir-Verfassung blieb das Immobiliarsachenrecht lange auf einem vormodernen
Stand, der auch einer dörflich-agrarischen Wirtschaft kaum dienlich war.
Fortschritte brachte hier erst die Rechtsprechung des Dirigierenden Senats. Der
Verfasser schildert schließlich Stolypins Agrarreformen, die Einschränkung der
Kollektivhaftung sowie die Einführung eines Rechts, aus dem mir auszutreten.
Eine gewisse Kontinuität zum Immobiliarsachenrecht der Sowjetunion ergab sich
durch die fortdauernde Zurückdrängung des individuellen Grundeigentums. Küpper
zeigt, wie sich in der sozialistischen Ordnung sehr viel ältere Einrichtungen
fortsetzten, insbesondere etwa die gesellschaftliche Einbindung des russischen
Menschen sowie der Mangel an Individualismus im Recht.
Die
Darstellung der Rechtsgeschichte Nordosteuropas (181ff.) differenziert zwischen
Estland und Lettland einerseits, die in vieler Hinsicht Parallelentwicklungen
aufweisen, sowie Litauen andererseits, dessen Geschichte viel früher zur
Staatsbildung führte und lange Zeit mit der Polens parallel verlief. Der
Verfasser schildert die Besonderheiten der baltischen Rechtsentwicklung, so das
deutschbaltische Gewohnheitsrecht, das jüngere, stark römisch beeinflußte
Partikularrecht und schließlich die Bedeutung der Universität Dorpat.
Erfreulicherweise
geht das Buch an vielen Stellen auf den Einfluß des römischen Rechts in
Osteuropa ein, was in der Forschung sonst oft vernachlässigt wird und
jedenfalls für Rußland kaum erforscht ist.[5]
Sicherlich muß sich der Verfasser im Interesse der Übersichtlichkeit kurz
fassen, doch wäre gelegentlich etwas mehr Präzision angebracht gewesen.[6]
Die Darstellung geht richtigerweise davon aus, dass die Grundlage aller
Rechtsentwicklung im kontinentaleuropäischen Rechtskreis das römische Recht
bildet. Dies strahlt auch auf Rußland aus. Küpper sieht, dass sich
römisch beeinflußtes Rechtsdenken in Rußland grundsätzlich erst im 19.
Jahrhundert entwickelte (20), räumt aber ein, dass dies auf akademischer Ebene
schon früher der Fall war, nämlich mit der Einrichtung juristischer Fakultäten
im Anschluß an die Gründung der Moskauer Universität 1755. Die Rezeption des
römischen Rechts wurde hier dadurch befördert, dass die ersten
Professorengenerationen sowohl an der Akademie als auch an den Universitäten
Ausländer, nämlich zumeist Deutsche waren. Auch wenn sich die ersten auf dieser
Grundlage erschienenen rechtswissenschaftlichen Publikationen vom Beginn des
19. Jahrhunderts noch bescheiden ausnahmen, übertraf ihr Niveau doch deutlich
das der übrigen Rechtskultur.
Ostmitteleuropa
hatte von der lateinische Kirche nicht nur den Glauben vermittelt bekommen,
sondern auch ein im wesentlichen durch das römische Recht geprägtes
Kirchenrecht. Der Verfasser kann für Polen bereits eine Rezeption des römischen
Rechts im 13. bis 16. Jhdt. beschreiben (274). Bei der späteren Entwicklung im
18. Jahrhundert vermißt man einen Hinweis auf Jan Zamojski und seine Akademie.[7]
Ein augenfälliges Beispiel für die Folgen der Rezeption des römischen Rechts
bietet sich bei der Erörterung der Rechtsentwicklung Ungarns (298ff.): Wenn der
Verfasser einen Auszug aus der Vorrede zum Tripartitum des István Werbőczy
von 1514 wiedergibt, erkennt der Romanist unmittelbar die Terminologie des
römischen Rechts sowie die in enger Anlehnung an die Institutionen Justinians
gehaltene Stoffdisposition.[8]
Auch in Ostmitteleuropa waren es die Universitäten, die über intensive Kontakte
zum Ausland maßgeblich zur Vermittlung westeuropäischen Fortschritts beitrugen.
Universitäre Forschung und Lehre im Recht waren nicht an das sie umgebende,
bescheidene Niveau des Rechtslebens gekoppelt. Die Universitäten Ostmitteleuropas
gehörten zu den ersten in Mitteleuropa, die die Rezeption des römischen Rechts
betrieben und einen Juristenstand heranbildeten. Prag, Krakau und Pécs waren
integraler Teil der europäischen Bildungslandschaft. Die Prager Universität,
die seit ihrer Gründung 1348 über eine juristische Fakultät verfügte, wurde als
erste Universität im deutschen Reich zu einem Zentrum der Rezeption des Römischen
Rechts nördlich der Alpen.
Nach dem 1.
Weltkrieg und den Pariser Vorortverträgen ergaben sich für die neu entstandenen
Staaten Ostmitteleuropas typische Probleme aus partikularrechtlicher
Zerstückelung, wobei innerhalb der Teile auch noch Mischrechtsordnungen
vorkamen. Ein Beispiel bildet Polen: hier galt französisch-polnisches Recht in
Zentralpolen, deutsches und preußisches Recht in Westpolen, österreichisches
und galizisches Recht in Südpolen, russisches Recht in Ostpolen und im
Wilnagebiet, ungarisches Recht schließlich in Zips und Arwa an der Grenze zur
Slowakei.[9]
Weil die polnische Rechtswissenschaft der Zwischenkriegszeit von der Vielfalt
der Rechtsordnungen im eigenen Land ebenso profitierte wie von der politischen
Förderung der Rechtsvergleichung als Grundlage für die Erarbeitung neuer
Gesetze, bezeichnet der Verfasser sie als eine der am höchsten entwickelten in
Europa (346).
Als
Beispiel für das die Darstellung kennzeichnende Detailinteresse darf auf die
Auseinandersetzung mit dem „Corpus separatum“ Fiume (kroat. Rijeka) hingewiesen
werden (331). Zwischen Ungarn und Kroatien umstritten, hatte die istrische
Stadt seit 1870 eine beschränkte Eigenständigkeit innegehabt. Die weitere
Entwicklung führte zum Status einer Freien Stadt 1920, die formal dem
Königreich Ungarn angehörte, aber unter den Einfluß des italienischen Rechts
geriet. Auf die entstandene Mischrechtsordnung geht Küpper am Beispiel
des Stockwerkseigentums ein. In staatsrechtlicher Hinsicht erwähnenswert wäre
die politische Lage gewesen, durch die Fiume im Herbst 1919 die Aufmerksamkeit
der europäischen Mächte auf sich zog: die inoffizielle Besetzung durch
italienisches Militär und die anschließende, etwa ein Jahr andauernde
„Herrschaft“ des Dichters und Demagogen D’Annunzio, der hier jene
Ästhetisierung der Massen vorwegnahm, die für totalitäre Regimes des 20.
Jahrhunderts kennzeichnend wurde.
Auch für
Albanien, das nach der Unabhängigkeitserlangung 1912/1913 als historisches
Beispiel für einen „failed state“ herangezogen wird, liefert der Verfasser ein
interessantes Detail: Unter dem Einfluß verschiedener Rechtsordnungen
rezipierte das albanische Recht eine gemischte Terminologie, bei der sich unter
den Bedingungen einer jahrhundertelangen Schriftlosigkeit der albanischen
Rechtskultur die Bedeutung mancher Ausdrücke verschob (380f.): das griechische kanōn
(Regel) lebt in kanun fort, womit das traditionelle Gewohnheitsrecht bezeichnet
wird, der slavische Ausdruck zakon (Gesetz) bedeutet Sitte und
Gewohnheit(srecht), der Ausdruck ligj bzw. ligjë, der für Gesetz (aber auch
Recht) steht, leitet sich, vermittelt über die italienische Rechtssprache
(legge), vom lateinischen lex ab.
Die
Darstellung der Rechtsgeschichte während des Sozialismus (417ff.) beginnt mit
der zutreffenden Feststellung, dass das sowjetische Recht keine völlige
Neuschöpfung der Revolution war, sondern dass in vielen Punkten Kontinuität zum
zaristischen Recht und zur vorrevolutionären Rechtskultur herrschte. Als
Beispiel wird richtigerweise das Zivilgesetzbuch der RSFSR von 1922 genannt,
das trotz der Zäsur gegenüber dem vorrevolutionären Recht und der dezidierten
Ablehnung der „bourgeoisen“ Rechtstradition viel von den vorrevolutionären
Kodifikationsarbeiten profitiert hatte und sogar noch den Namen Graždanskij
kodeks („Bürgerliches“ Gesetzbuch) führte (489ff.).
Der
Verfasser schildert die Rolle des Rechts in der marxistischen Sichtweise,
insbesondere die Spannung zwischen der These vom Absterben des Rechts und der
Praxis, und erläutert kennzeichnende Eigenarten des revolutionären und später
sowjetischen Rechts. Für den Bruch mit der Vergangenheit steht etwa die
pauschale Abschaffung des vorrevolutionären Rechts 1918 (468) sowie die
Leugnung einer Rechtsnachfolge zwischen Russischem Reich und Sowjetunion - von
der man freilich Ausnahmen machte, wenn es von Vorteil war (507). Auch die menschenverachtende
Seite der bolschewistischen Regelungen kommt zur Sprache, wie etwa das „Dekret
über die Nationalisierung der Frauen“ der Stadt Vladimir von 1918. Für den
Stalinismus, die Konsolidierung des Sozialismus, kam eine Abschaffung des
Rechts nicht mehr in Betracht, weil man seine Bedeutung als
Herrschaftsinstrument erkannt hatte. Als wichtigstes Rechtsprinzip etablierte
sich nun die Gewalteneinheit, da sie die Effizienz der staatlichen
Herrschaft förderte (445). Als neuer Normtypus entwickelte sich die
Aufgabennorm. Charakteristisch war ferner, dass viele Gesetze, insbesondere
„heikle“ Normen, gar nicht erst verkündet wurden.
Bei der Schilderung des Rechts im Systemwandel (682) beschreibt der Verfasser, wie man in manchen Staaten auf vorrevolutionäres Recht zurückgreifen und es wieder in Kraft setzen konnte. Er meint allerdings, für Rußland sei dieser Weg nicht gangbar gewesen, weil dies einen Rückgriff auf Recht von vor 1917 bedeutet hätte. Das ist so weder einleuchtend noch uneingeschränkt richtig. Das seit 1994 neu entstehende Zivilgesetzbuch kann vielmehr verschiedentlich auf die dogmatischen Grundlagen zurückgreifen, die im vorrevolutionären Recht entwickelt worden waren.
Den
Abschluß bildet die Darstellung der Entwicklung der deutschsprachigen
Ostrechtsforschung (686ff.). Als frühen Beitrag zu derselben kann der Verfasser
mit Recht bereits die deutsche Ausgabe des Uloženie von 1649 nennen, die Struve
1723 vorgelegt hatte, „da nun biß dahero von denen Rußischen Rechten nichts
bekandt gewesen“.[10]
Mit der Beschränkung auf die deutschsprachige Forschung bietet Küpper
einen deskriptiven Überblick über einen Zweig der Wissenschaftsgeschichte, der
eigenartig verengt wirkt, da das Ostrecht eine internationale
Forschungsdisziplin ist.
Da sich die
Darstellung auch an Nichtjuristen wendet, hat der Verfasser Erläuterungen zu
Rechtsbegriffen und bedeutenden Juristen in den Text eingefügt. Das Ergebnis
wirkt nicht immer glücklich: So wird im Zusammenhang mit den
„Griechenverträgen“ zwischen der Kiewer Rus’ und Byzanz (10. Jhdt.) der Begriff
des (modernen) Internationalen Privatrechts erklärt, allerdings mit Beispielen
aus der Welt der Verkehrsunfälle und Großunternehmen (60f.). Ähnlich liegt es,
wenn der Verfasser im Zusammenhang mit dem Gerichtsbuch von Pskov (15. Jhdt.)
die Differenzierung zwischen Eigentum und Besitz mit einem Exkurs erläutert, in
dem es um Autos geht (86).
Auch
angesichts der voranstehenden, teilweise kritischen Bemerkungen kann
zusammenfassend festgestellt werden, dass die vorliegende Einführung um so
nützlicher ist, als in westeuropäischen Sprachen sonst wenig Vergleichbares zur
Verfügung steht. Auf Grundlage einer bemerkenswerten Sprachkompetenz erschließt
der Verfasser viele kaum bekannte Entwicklungen und Zusammenhänge. Angesichts
des Reichtums an Information vermißt man allerdings ein Stichwortregister. Wenn
der Fortschritt der rechtsgeschichtlichen Forschung früher oder später eine
Neuauflage des Werkes fordern wird, sollte dies nachgeholt werden.
Köln Martin
Avenarius
[1] Vgl. den Überblick bei G. Hamza,
Entwicklung des Privatrechts auf römischrechtlicher Grundlage (2002), S. 175ff.
[2] J. P. Meincke, Die Institutionen
Iustinians aus heutiger Sicht, in: JZ 1997, S. 689-693 (689).
[3] Vgl. nun die umfangreiche Arbeit von G.
Baranowski, Die Russkaja Pravda – ein mittelalterliches
Rechtsdenkmal (2005).
[4] Ausführlich und noch immer grundlegend C.
Goehrke, Die Theorien über Entstehung und Entwicklung des „mir“ (1964).
[5] Vgl. M. Avenarius, Rezeption des
Römischen Rechts in Rußland (2004).
[6] Verf. hält den Codex Justinianus „(auch
Codex iuris civilis, 528-534)“ irrig für „eine Zusammenfassung von
Rechtsnormen, Urteilen und Literaturstellen in lateinischer Sprache“ (19). Er
meint, das byzantinische Kaiserrecht werde „Basiliken genannt“ (20),
identifiziert unrichtig das in Europa rezipierte römische Recht mit dem Codex Justinianus
(22) und äußert sich ungenau zur tutela mulierum (84).
[7] Vgl. dazu M. Dyjakowska, Prawo
rzymskie w Akademii Zamojskiej w XVIII wieku (2000).
[8] Vgl. differenzierend G. Hamza/A.
Földi, Über die verschiedenen Formen der Einflüsse des römischen Rechts in
Ungarn, in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös
nominatae sectio nominatae. Sectio Iuridica, tomus 37 (1996), Budapest 1998, S.
5-14 (7f.).
[9] Vgl. nun W. Rozwadowski, Das
Studium und der Einfluss des römischen Rechts in Polen um die Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Sachenrechts, in: W.
Dajczak/H.-G. Knothe (Hrsg.): Deutsches Sachenrecht in polnischer
Gerichtspraxis. Das BGB-Sachenrecht in der polnischen höchstrichterlichen
Rechtsprechung in den Jahren 1920-1939: Tradition und europäische Perspektive
(2005), S. 31-50 (34).
[10] Allgemeines Russisches Land-Recht Wie
solches Auf Befehl Ihr. Czaar. Majest. Alexei Michailowicz zusammen getragen
worden Damit allen Ständen Des Moscovitischen Reichs vom Höchsten biß zum
Niedrigsten Gleichmäßiges Recht und Gerechtigkeit in allen Dingen wiederfahren
möge. Aus dem Rußischen ins Teutsche übersetzt Nebst einer Vorrede Burcard
Gotthelff Struvens. Dantzig, 1723.