Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt, hg. v. Müßig, Ulrike (= Grundlagen der Rechtswissenschaft 6). Mohr (Siebeck), Tübingen 2006. X, 289 S. Besprochen von Walter Pauly.
Hervorgegangen aus Beiträgen eines Würzburger Symposions zu Ehren Dietmar Willoweits im Jahre 2004 bündelt vorliegender Band zwölf Aufsätze zum Verhältnis von „Konflikt und Verfassung“, titelgebend zugleich für die Einführung der Herausgeberin. Nur gut die Hälfte der Autoren beschäftigt sich mit dem Konstitutionalismus als europäischem Phänomen des 19. Jahrhunderts, die anderen widmen sich dem historischen Vor- und Nachgang, um vergleichbare Problemstrukturen und verwandte Diskussionszusammenhänge aufzuzeigen. Die theoretischen Pole benennen einerseits Peter Moraw mit der Feststellung, dass „der Verfassungskonflikt der Verfassung vorausgehe oder Verfassung gar erst hervorgebracht habe“ (S. 29) und andererseits Hans Boldt mit der Sentenz „Verfassungen bringen Verfassungskonflikte hervor“ (S. 227). Folgerichtig thematisiert Moraw aus mediävistischer Perspektive „Verfassungskonflikte vor einer Verfassung“ und stellt dabei die Berechtigung in Frage, „für das Jahrhundert von 1250 bis 1350 von einer deutschen Verfassungsgeschichte im Singular“ zu sprechen (S. 32); als ein „wirklich gesamtdeutsches Jahrhundert“ könne man erst das sechzehnte bezeichnen (S. 34). Im Anschluß stellt Ulrike Müßig, geb. Seif, für die englischen Verfassungskämpfe des 17. Jahrhunderts die gemeinwohlbildende Funktion des common law heraus sowie den Anspruch des Parlaments, „oberstes common-law-Gericht zu sein“ (S. 53), woraus letztlich eine „konstitutionelle Bindung des Monarchen“ resultierte (S. 56). Die Bedeutung des Allgemeinen Staatsrechts als Rechtsquelle in Verfassungskonflikten des 18. Jahrhunderts zeichnet Diethelm Klippel mittels zweier Fallstudien nach. Noch vor der für den europäischen Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert wegweisenden Charte constitutionelle (1814), die Michael Stolleis im Zuge einer Untersuchung zum zeitgenössischen Stellenwert der Souveränitätsvokabel mitbehandelt, liegt die Cortes-Verfassung von Cádiz (1812), die Heinz Mohnhaupt zufolge das Spanien jener Zeit als „Experimentierfeld politischer Ideen und der Versuche ihrer verfassungsrechtlichen Umsetzung zwischen Liberalismus und absolutistischer Reaktion“ erscheinen lässt (S. 83). Aus dem Recht der deutschen Einzelstaaten berichtet zunächst Jürgen Weitzel („Von den Rechten der Krone trete ich keinen Zoll ab“) vom ausgeschlossenen Initiativrecht der Stände hinsichtlich Änderungen der bayerischen Verfassung von 1818. Dem Würzburger Staatsrechtslehrer, Bürgermeister und Landtagsabgeordneten Wilhelm Josef Behr sollte eine verfassungspolitische Schrift aus dem Jahre 1831 sogar eine Verurteilung wegen versuchten Hochverrats eintragen (S. 125). Den mühsamen Weg, sich in Hamburg seit 1848 von der patrizisch-republikanischen Verfassung der „Vier Haupt-Grundgesetze“ von 1710 und 1712 zu lösen, referiert Götz Landwehr. Nachhaltig gelang es den reformverhindernden Kräften der oligarchischen „Oberalten“ und Altkonservativen, die Reformkräfte, insbesondere auch den Senat, bis 1859/60, teils durch die Einschaltung des Deutschen Bundes, auszuspielen. Anschließend belegt Peter Landau, daß der Kulturkampf nur in Preußen als Verfassungskonflikt ausgetragen worden sei (S. 178). Besondere Aufmerksamkeit verdient Landaus Hinweis, daß die staatskirchenrechtlichen Artikel der Weimarer Reichsverfassung teils „wörtlich“ aus Wilhelm Kahls Kirchenrechtslehrbuch von 1894 übernommen worden seien (ebd.) und sich in ihren Prinzipien in Gerhard Anschütz’ Kommentar zur preußischen Verfassungsurkunde aus dem Jahre 1912 vorweggenommen fänden (S. 195).
Den zentralen Beitrag zum Buchtitel liefert Rainer Wahls Abhandlung „Der Konstitutionalismus als Bewegungsgeschichte“, die eine Perspektivenänderung beschreibt, die die neuere Forschung auszeichnet. Dia- und synchrone Vergleiche lösen die ursprünglich starre Fixierung auf den Typus der deutschen konstitutionellen Monarchie zugunsten einer europaweiten komparatistischen Sicht ab, die den Konstitutionalismus durchgängig als „Übergangsphänomen“ (S. 202) betrachtet, nicht per se charakterisiert durch einen statischen Dualismus, sondern in den jeweiligen Systemen bestimmt durch eine durchaus veränderliche Austarierung der Pole Monarch und Parlament. Besondere Bedeutung sollen dabei die Mentalitäten und Perzeptionen der Akteure erhalten (S. 207ff.). Festgehalten wird, dass das 19. Jahrhundert nicht als „schiefe Ebene zum parlamentarischen Regierungssystem“ begriffen werden kann (S. 219). Hiernach tritt Hans Boldt der These einer „historischen Unmöglichkeit“ einer Verfassungsgerichtsbarkeit im deutschen Konstitutionalismus entgegen, indem er gerade in der dualistischen Struktur der Verfassungen die Ursache für die „Einführung streitentscheidender Instanzen“ ausmacht (S. 228). Der Beitrag verlässt dann schnell das 19. Jahrhundert und beleuchtet die verfassungstheoretischen Auseinandersetzungen um die Verfassungsgerichtsbarkeit, namentlich in der Weimarer Republik. Die Ausgestaltung einer bis auf die Normenkontrollkompetenz vollumfänglichen Verfassungsgerichtsbarkeit in Form des Reichsgerichts betrachtet schließlich Dieter Grimm als weiteren „kühnen Griff“ der Frankfurter Paulskirche (S. 266). Am Ende des Bandes dekonstruiert Hasso Hofmann den berühmten Einleitungssatz aus Carl Schmitts Politischer Theologie, „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Immerhin müsse „auch der überzeugteste Republikaner und strengste Normativist“ einsehen, „dass es extreme Fälle gibt, Bürgerkriegssituationen etwa, in denen eine Normenordnung ihre Funktion nicht mehr zu erfüllen vermag“ (S. 272f.). Auch werde man zugestehen, „dass in der politisch-sozialen Wirklichkeit schon vor aller Verfassung Machtverhältnisse existieren“, die man aber gleichwohl nicht „unter dem Namen des Staates kurzerhand“ subjektivieren dürfe (S. 279). Für „existentielle Konflikte“ böten mangels allseitiger Anerkennung „einseitige rechtliche Entscheidungsbefugnisse“ jedenfalls keine „Lösungsgarantie“, allemal nicht in Zeiten, in denen der „große Leviathan als politisch-staatsrechtliches Paradigma“ ausgedient habe (S. 283 f.). Hiermit schließen die lesenswerten Variatonen zum Thema Konstitutionalismus.
Jena Walter
Pauly