Kinnebrock, Susanne, Anita Augspurg (1857-1943). Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikationshistorische Biographie (= Frauen in Geschichte und Gesellschaft 39). Centaurus Verlag, Herbolzheim 2005. 683 S. Besprochen von Arne Duncker.

 

Anita Augspurg, die erste deutsche Frau mit juristischem Doktortitel, hat mindestens acht Leben geführt: als Tochter, Studentin, berufsmäßige Schauspielerin, Fotografin, Rechtspolitikerin, Journalistin, Landwirtin und schließlich als Emigrantin. Über alle diese Leben und eine Vielzahl weiterer Aktivitäten Augspurgs gibt die umfassende Biographie Kinnebrocks Auskunft, die unter gewissenhafter Ausschöpfung sämtlicher Materialien Leben und Werk in allen Einzelheiten schildert: allein das vorbildliche Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst 77 Seiten, darunter Nachweise aus über dreißig Archiven. Ein Schwerpunkt des Interesses gilt dabei Augspurgs Wirken als Journalistin und Öffentlichkeitsarbeiterin.

 

Die Arbeit ist im wesentlichen chronologisch gegliedert und wird zusätzlich im Anhang durch eine Zeittafel und ein Personenverzeichnis aufgeschlossen. Auf einen umfangreichen einleitenden Teil mit Vorwort, Einführung sowie einem Überblick über Erkenntnisgegenstände, Fragestellungen, Literatur- und Quellenlage (S. 15-85) folgen Kapitel zur „Entwicklungsphase“ Augspurgs 1857-1893 (S. 86-137), zu ihrer vorwiegend rechtspolitischen Tätigkeit in der Frauenbewegung 1894-1901 (S. 138-214, der Abschnitt ist mit dem Augspurg-Zitat „Die Frauenfrage ist Rechtsfrage“ überschrieben), zu ihrer Suche nach öffentlichkeitswirksamen Konflikten 1902-1906 (S. 215-307), über Opposition und Isolation innerhalb der Frauenbewegung 1907-1914 (S. 308-369), die pazifistische Tätigkeit im 1. Weltkrieg (S. 370-420), die Teilnahme an der Revolution in Bayern 1918/19 (S. 421-455), Augspurgs politische und journalistische Tätigkeit in der Weimarer Republik (S. 456-548) und schließlich ihre Zeit im Schweizer Exil 1933-1943 (S. 549-568). Ergänzt wird die Darstellung durch eine Schlussbemerkung, in welcher Leben und Werk zusammenfassend gewürdigt werden (S. 569-579).

 

Aus einem spezifisch rechtshistorischen Blickwinkel verdienen vor allem diejenigen Teile der Arbeit Kinnebrocks Beachtung, welche Augspurgs Teilnahme an den Rechtskämpfen der damaligen Frauenbewegung behandeln. Wenngleich alle genannten Lebensphasen Augspurgs einen mehr oder weniger deutlichen Bezug zu unterschiedlichen Rechtsthemen aufweisen, sind doch aus rechtshistorischer Sicht in erster Linie die Jahre von 1894 bis 1914 relevant. In Anlehnung an die Dokumentation Kinnebrocks wird nun eine zeitliche und inhaltliche Fortentwicklung der Rechtskämpfe deutlich, die nicht nur für die Person Augspurgs von Bedeutung war, sondern auch Rückschlüsse auf den zeitgenössischen Frauenrechtsdiskurs überhaupt zulässt. Unter dem Eindruck der BGB-Arbeiten steht zunächst die Agitation gegen das patriarchale BGB-Familienrecht im Vordergrund. Namentlich im Umfeld der parlamentarischen Verabschiedung des BGB 1896 erreichen die Frauenproteste unter maßgeblicher Beteiligung der ersten deutschen Juristinnen wie Augspurg und Marie Raschke einen zuvor in Deutschland nicht gekannten Höhepunkt in Form von Demonstrationen, Petitionen, Veröffentlichungen und mehreren Gegenentwürfen von Frauenseite zum Familienrecht. Wenngleich es daraufhin nur zu geringen Änderungen des BGB kommt, werden durch die Rechtskämpfe die organisierten Frauen zu einer rechtspolitischen Kraft, die in den darauffolgenden Jahren immer wieder auf Parlamente, Gesetze und Justiz Einfluss zu nehmen versucht. Dies leitet über zu weiteren rechtlich relevanten Betätigungsfeldern der Frauenbewegung: Nach der Agitation zum Familienrecht werden Reformforderungen zu einer Reihe weiterer Rechtsgebiete gestellt. Kinnebrock dokumentiert in diesem Zusammenhang u.a. Forderungen Augspurgs zum Vereinsrecht, zum materiellen Strafrecht, zur Strafpraxis der Gerichte (Vorwurf der Doppelmoral und Geschlechtsjustiz zu Lasten der Frauen) etc. Augspurg, die in ihrer Zeit den Radikalen zugerechnet wird, neigt zu medienwirksamen Provokationen, dies geht u. a. hervor aus den hervorragenden und teils mit Archivmaterial gestützten Dokumentationen Kinnebrocks über Augspurgs Verhaftung in Weimar 1902 unter unklaren Vorwürfen, ihren Aufruf von 1905 zur „freien Protest-Ehe“ ohne Trauschein außerhalb des staatlich anerkannten BGB-Familienrechts, den gegen sie geführten Strafprozess wegen publizistischer Beleidigung der Hamburger Polizei 1906. In der Zeit ab 1900 tritt eine weitere Forderung hinzu, die zunächst nur von einer radikalen Minderheit offen verfolgt wird, aber schließlich erheblich früher als die eherechtliche Gleichberechtigung Verwirklichung finden wird: das Frauenwahlrecht. Wie Kinnebrock überzeugend in vielen Einzelheiten darlegt (vgl. u. a. S. 243-262, 319-357), ist Augspurg die vielleicht bedeutendste Leitfigur der entstehenden - und sich schon bald zerstreitenden - Frauenstimmrechts-Bewegung. Sie gründet u. a. am 1. 1. 1902 den Deutschen Verein für Frauenstimmrecht und führt am 20. 3. 1902 eine Delegation dieses Vereins an, die vom Reichskanzler zu einer Audienz eingeladen wird. 1907 gründet sie die Zeitschrift für Frauen-Stimmrecht, in der sie fortan publiziert.

 

Im Ergebnis stellt die hervorragende Arbeit Kinnebrocks, wenngleich diese als Kommunikationswissenschaftlerin nicht in erster Linie ein spezifisch rechtshistorisches Erkenntnisziel verfolgt, für die Frauenrechtsgeschichte ein wichtiges Grundlagenwerk dar. Die für die Entwicklung eigenständiger Frauenrechtsforderungen eminent wichtige Zeit von 1894 bis 1914 wird - unter umfangreicher Erstauswertung vielfältigen Archivmaterials - gerade auch unter rechtspolitischen Aspekten in einer Genauigkeit und einem Detailreichtum dargestellt, der seinesgleichen sucht.

 

Für die weitere Forschung erscheint nun eine rechtshistorisch kommentierte Herausgabe ausgewählter Texte Augspurgs wünschenswert, gerade vor dem Hintergrund, dass viele zentrale Belegstellen nicht aus Monographien, sondern aus Zeitungen und Zeitschriften stammen und derzeit nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu beschaffen sind.

 

Hannover                                                                                                         Arne Duncker