Jellinghaus, Lorenz, Zwischen Daseinsvorsorge und Infrastruktur. Zum Funktionswandel von Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Recht in der industriellen Revolution 3 = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 202). Klostermann, Frankfurt am Main 2006. X, 340 S. Besprochen von Peter Collin.

 

Die Frankfurter Dissertation von Jellinghaus untersucht die Geschichte kommunaler Infrastrukturen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus rechtshistorischer Sicht. Unter Infrastrukturen versteht Jellinghaus in Anlehnung an verwaltungsrechtliche Definitionen diejenigen Einrichtungen, auf welche die Mitglieder des Gemeinwesens in ihrer Gesamtheit in Form einer Grundversorgung angewiesen sind. Dabei konzentriert er sich auf Systeme der Gas- und Wasserversorgung sowie auf die Kanalisation. Sein Forschungsinteresse konzentriert sich auf die Fragen, wer derartige Leistungen bereitstellen sollte und welche Rolle Recht und Verwaltung dabei spielten. Die Gliederung seiner Arbeit richtet Jellinghaus an folgenden Problemfeldern aus: „Infrastruktur und Gesundheit“, „Infrastruktur und Naturwissenschaften“, „Infrastruktur und Internationalisierung“, „Infrastruktur und materialer Rechtsstaat“, „Infrastruktur und Stadt“ sowie „Infrastruktur und formaler Rechtsstaat“.

 

„Infrastruktur und Gesundheit“: Im ersten Kapitel wertet der Autor das zeitgenössische Schrifttum, insbesondere Veröffentlichungen zu den Themenbereichen „Medizinalpolizei“ und „öffentliche Gesundheitspflege“, aber auch die Schriften der Klassiker von Mohl und von Stein aus. An den Anfang stellt Jellinghaus eine Auseinandersetzung mit der auf Forsthoff zurückgehenden Behauptung, die traditionelle verwaltungsrechtliche Literatur habe dem Problem der Daseinfürsorge keine ausreichende Aufmerksamkeit gewidmet. Jellinghaus weist auf die ideologischen Hintergründe des Forsthoffschen Befundes hin und kann in der Tat nachweisen, dass leistende Infrastrukturen auch in der älteren Literatur immer wieder thematisiert wurden. Allerdings hätte man sich dabei eine stärkere Differenzierung gewünscht. Letztlich lässt der Autor von Beiträgern des Rotteck-Welkerschen Lexikons über die staatswissenschaftliche Richtung in der Verwaltungsrechtslehre bis zu Nichtjuristen Autoren der verschiedensten Provenienz zu Wort kommen. Nach seinen eigenen Ausführungen findet die Leistungsverwaltung sehr wohl deskriptiv und auch verwaltungspolitisch Aufmerksamkeit. Inwieweit aber die Leistungsverwaltung die Entwicklung der Dogmatik mitprägte, wird nicht erörtert, kann es auch nicht, da die behandelten Autoren nicht zum rechtsdogmatischen Schrifttum gerechnet werden können. Das geschieht erst einige Kapitel später bei der Beschäftigung mit Otto Mayer, wäre aber hier in der Auseinandersetzung mit dem Diktum Forsthoffs durchaus am Platz gewesen.

 

Dann geht Jellinghaus zu einer Geschichte der Medizinalpolizei über. Auch in den Lehren von der Medizinalpolizei, wie sie z. B. von Mohl dargelegt wird, erkennt der Autor eine starke Staatsfixierung, die bürgerlicher, insbesondere kommunaler, Selbstinitiative nur wenig Platz einräumt. Soweit bei dieser Schilderung ein kritischer Unterton des Autors mitschwingt, ist aber eine Relativierung angebracht. Man muss fragen, ab wann die Städte willens und in der Lage waren, überhaupt derartige Infrastrukturen zu betreiben. Die große Stunde der Kommunen als Träger der Leistungsverwaltung schlug erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Staatsfixiertheit kann nicht vorgeworfen werden, wenn im Wesentlichen nur der Staat als Akteur zur Verfügung stand. Umso beeindruckender dagegen ist, wie es Jellinghaus gelingt, die Wandlungsprozesse exemplarisch darzustellen, nämlich anhand des Kampfes gegen die Cholera. Wähnte man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die Bildung von Sicherheitskordons um das betroffene Gebiet als das probate Mittel der Seucheneindämmung, so setzte sich doch immer mehr auch unter dem Eindruck der Erkenntnisse der medizinischen Forschung die Einsicht durch, dass es der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse bedurfte. Damit verschob sich die Perspektive zunehmend von einer repressiven zu einer präventiven Vorgehensweise. Und damit ist auch der Umschwung von der Medizinalpolizei zur „öffentlichen Gesundheitspflege“ eingeläutet. Unter dieser Bezeichnung formierte sich eine Publizistik, bei der die Entwicklung von solchen praktischen Konzepten im Vordergrund stand, in denen sich naturwissenschaftlich-technische Erkenntnisse mit sozialpolitischen Leitvorstellungen verbanden. Bis ins Detail wurden Vor- und Nachteile von Modellen der Wasserversorgung oder der Fäkalienbeseitigung diskutiert. Konzepte des Gesundheitsschutzes waren nun partiell der staatlichen Definitionsmacht entzogen und wurden auch in der bürgerlichen Öffentlichkeit generiert.

 

„Infrastruktur und Naturwissenschaften“: In diesem Kapitel vertieft Jellinghaus, wie sich die bürgerliche Öffentlichkeit im Bereich der Gesundheitspflege organisierte und welchen Einfluss sie auf das administrative Handeln ausübte. Ab 1869 wurden überall in Deutschland Vereine für öffentliche Gesundheitspflege gegründet. Sie waren ein Ort, an dem fachwissenschaftliche Expertise Vorschläge für die Einrichtung und Ausgestaltung städtischer Infrastrukturen entwickelte. Wenn der Autor nun allerdings zu sehr darauf abstellt, dass der im staatsfreien Raum agierende wissenschaftliche Sachverstand die Standards für das administrative Handeln setzte, muss dem entgegengehalten werden, dass diese Trennung von Staat und Gesellschaft nicht recht überzeugend wirkt. Zum einen zeigt Jellinghaus selbst, dass die Vereine wesentlich unter Beteiligung der Städte funktionierten. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass der preußischen Verwaltung die Einbeziehung verwaltungsexternen Sachverstandes nie fremd war. Seit der Reorganisation der Verwaltung zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren auf allen Ebenen der Exekutive Verwaltungsexterne an der Vorbereitung administrativer Entscheidungen beteiligt, wenn es um komplexe Angelegenheiten mit fachwissenschaftlichem Einschlag ging, ob als Deputationen im Ministerialbereich, als Kollegien bei der Provinzialverwaltung oder als Kommissionen auf Regierungsbezirksebene. Freilich waren diese Formen der Einbeziehung von wissenschaftlichem Sachverstand und gesellschaftlicher Interessenvertretung anders organisiert, denn sie waren in das staatliche Organisationsgefüge eingebunden. Insofern besteht tatsächlich ein qualitativer Unterschied.

 

Auch in einer weiteren Hinsicht bedarf es einer Relativierung. Wenn Jellinghaus darauf aufmerksam macht, dass „immer mehr Zukunftsentscheidungen von einer wissenschaftlichen Elite so vorbereitet (wurden), daß die politischen Entscheidungsträger nur mehr eine nachvollziehende Rolle zugewiesen bekamen“ (S. 100), so wirft dies ein etwas schiefes Licht auf die Wirklichkeit der Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik. Eher ist von einer gegenseitigen Durchdringung und gegenseitigen Instrumentalisierung – aber auch von gegenseitiger Erwartungsenttäuschung – auszugehen als von einer bloßen Übernahme der von Wissenschaftsseite formulierten Entscheidungsprämissen oder Entscheidungsvorschläge. Dies ist für die Zeit der Bundesrepublik ausreichend nachgewiesen. Aber auch für das 19. Jahrhundert wird man von denselben Mechanismen ausgehen können. Jellinghaus selbst zeigt ja, dass der Verein für Gesundheitspflege mit seinen wissenschaftlich begründeten Vorschlägen für die Gestaltung der baulichen Infrastrukturen oft genug scheiterte.

 

„Infrastruktur und Internationalisierung“: Hervorzuheben aus diesem Kapitel sind vor allem zwei Themenfelder. Zum einen zeigt Jellinghaus anschaulich am Beispiel der Gesundheitspflege, wie sich Kommunikationsräume in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausweiteten, sei dies in institutionalisierter Form, wie Kongressen oder zwischenstaatlichen Abkommen, sei dies in der Form der Ausweitung wissenschaftlicher Aufmerksamkeitsbereiche, die zunehmend den Diskurs in anderen „Kulturstaaten“ wahrnahmen und in die nationale Debatte hineintrugen. Zum anderen macht Jellinghaus auf einen Konflikt aufmerksam, bei dem Vergleiche mit der Verwaltungsstruktur anderer Staaten, insbesondere Englands, neue Argumentationsmuster lieferten, der sich aber unabhängig davon ohnehin auf nationaler Ebene abspielte. Im Vordergrund stand die Frage, inwiefern Experten, die eine technische oder naturwissenschaftliche Ausbildung durchlaufen hatten, in die Verwaltungsorganisation eingebunden werden sollten. Letztlich ging es darum – darauf geht Jellinghaus nicht explizit ein, aber darauf lief es hinaus –, inwiefern Jemandem ohne Assessorexamen Entscheidungsbefugnisse übertragen werden sollten. Dieser Konflikt kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Schon bei der in der ersten Jahrhunderthälfte stattfindenden Debatte, ob den nichtjuristischen Mitgliedern der Bezirksregierung bei der kollegialen Beratung Stimmbefugnisse zustehen sollten, kam er zum Austrag. In der zweiten Jahrhunderthälfte verstärkte er sich vor allem, weil die Zahl der Angehörigen des technischen höheren Verwaltungsdienstes wuchs, diese aber weiterhin von den entscheidenden Schaltstellen und damit auch von den entsprechend besoldeten Positionen ausgeschlossen waren. Es ging also nicht nur – und das steht bei den Ausführungen von Jellinghaus im Vordergrund – um ein bestimmtes Verwaltungsmodell, sondern auch um handfeste Standesinteressen.

 

„Infrastruktur und materialer Rechtsstaat“: In diesem Kapitel macht Jellinghaus auf eine interessante Akzentverschiebung aufmerksam. Die Zurückdrängung staatlicher Omnipotenz konnte auf der Basis der Reduzierung von Staatszwecken argumentativ verfolgt werden: Wo es an legitimen staatlichen Handlungsfeldern fehlte, dort konnte der Staat auch nicht legitimerweise seine Machtmittel einsetzten. Diese Überlegungen gehen von einer Dichotomie von Staat und Gesellschaft aus. Ein Drittes gibt es nicht. Jellinghaus beobachtet nun, wie sich in der Literatur das Interesse von der Betrachtung der materiellen Staatszwecke auf die Modi der Erfüllung öffentlicher Aufgaben verlagerte. Funktionsträger, die nicht mehr dem privaten Individualinteresse, aber auch nicht dem staatlichen Sektor zugeordnet werden können, vor allem Vereine und Kommunen treten ins Blickfeld. Mit anderen Worten: Die Diskussion verlagerte sich von der Frage des Aufgabenbestandes auf die Frage der Aufgabenorganisation.

 

„Infrastruktur und Stadt“: Das was Jellinghaus nun zur Rolle der Kommune anführt, kann an seine vorherigen Überlegungen anknüpfen. Er zeigt, wie die Kommunen immer mehr die Rolle der maßgeblichen Akteure bei der Betreibung und beim Ausbau städtischer Infrastrukturen übernahmen. Dies geschah auf der einen Seite durch die Einräumung entsprechender Kompetenzen, die ihnen auch eine größere Gestaltungsfreiheit einräumten, so bei der Planung der baulichen Nutzung des Gemeindegebietes. Zum anderen ging seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Betrieb der Infrastrukturen aus der Hand privater Unternehmen in die Regie der Kommune über, wie das der Autor eindrucksvoll am Beispiel Berlins zeigt. Damit lief aber auch eine personelle Aufrüstung des kommunalen Verwaltungsapparats einher, bald reichte der Einsatz ehrenamtlicher Kräfte nicht mehr aus. Verrechtlichung der kommunalen (Infrastruktur-) Selbstverwaltung, Betriebskommunalisierung, Professionalisierung und Verwaltungswachstum lassen sich als die prägenden Entwicklungslinien dieser Zeit ausmachen.

 

„Infrastruktur und formaler Rechtsstaat“: Mit dem Bezug auf die formalen Rechtsstaatskonzeptionen verweist der Autor auf den Perspektivenwechsel der Verwaltungs(rechts)lehre, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog. Nicht mehr die Gestaltungsperspektive stand im Vordergrund, sondern die Kontrollperspektive. Verwaltungsrecht als Mittel der Sicherung subjektiver Rechte – diese Aufgabenzuweisung bestimmte fortan die Systembildung, also die rechtsdogmatische Entwicklung. Jellinghaus konzentriert sein Interesse auf die Frage, inwiefern daseinsvorsorgende Verwaltungstätigkeit in diesen Fortschritt der Verwaltungsrechtswissenschaft integriert wurde und zwar anhand des richtungsweisenden Lehrbuchs von Otto Mayer. Er zeigt, dass Mayers dogmatische Ausarbeitungen sich durchaus nicht auf die Eingriffsverwaltung beschränkten, sondern auch die Leistungsverwaltung erfassten, für die er konturenbildende Rechtsfiguren entwickelte und Fragen aufwarf, welche die Verwaltungsrechtslehre heute noch beschäftigen, wenn es um die Verantwortungsteilung zwischen Staat und Privaten und um die Abgrenzung der Funktionsbereiche von öffentlichem Recht und Privatrecht geht. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts also und mit dem Beginn der modernen Verwaltungsrechtsepoche wurden auch die Infrastrukturen der Daseinsvorsorge von den Suchscheinwerfern der Dogmatik erfasst.

 

Fazit: Jellinghaus hat ein Buch geschrieben, welches nicht nur unseren Kenntnissen über die Entwicklung von Verwaltung und Verwaltungsrecht neues Faktenmaterial hinzufügt, sondern auch die weitere Forschung zu inspirieren imstande sein dürfte. Seine Arbeit ist geschickt aufgebaut. Von Kapitel zu Kapitel eröffnet er – auch auf Grund der Nutzung jeweils anderer Quellensorten – eine neue Sichtweise auf das Problem der städtischen Infrastrukturen. Durch diese Perspektivenwechsel entfaltet er ein Panorama, in welchem die rechtshistorischen Bezüge im engeren Sinne wie auch der rechts- und sozialpolitische Kontext sichtbar werden. Der Diskurs um die kommunalen Infrastrukturen wird in erhellender Art und Weise in die großen gesellschaftspolitischen Debatten eingebettet.

 

Kritisch anzumerken ist die vor allem in den ersten Kapiteln zu starke Kontrastierung von „Staat“ und „Gesellschaft“ – letztere verkörpert durch Kommunen und Vereine – und die nicht immer überzeugende Zuweisung der Fortschrittsträgerschaft an diese. Es wäre zu wünschen gewesen, dass der Autor die Verschränkungen stärker in den Blick genommen hätte. Dies relativiert sich jedoch in den folgenden Kapiteln. Schade ist es auch, dass der Autor versäumt hat, für die Druckfassung noch die 2004 erschienene Arbeit Stephan Eibichs (Eibich, Stephan M., Polizei, Gemeinwohl und Reaktion. Über Wohlfahrtspolizei als Sicherheitspolizei unter Carl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, Berlin 2004), eine quellengesättigte Untersuchung zur Entwicklung der Daseinsfürsorge in Berlin zu berücksichtigen – schließlich wendet er sich in Kapitel V (Infrastruktur und Stadt) besonders der Berliner Entwicklung zu. All dies soll aber nur als Hinweis eines durch die Lektüre sehr angeregten Rezensenten verstanden werden. Es ist zu hoffen, dass das Buch viele Leser findet. Es hätte es verdient.

 

Greifswald                                                                                                     Peter Collin