Hochmittelalterliche Adelsfamilien in Altbayern, Franken und Schwaben, hg. v. Kramer, Ferdinand/Störmer, Wilhelm (= Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 20). Bayerische Akademie der Wissenschaften, München 2006. XIV, 862 S., zahlr. Karten und Stammtaf., 1 Beilage. Besprochen von Christof Paulus.

 

Um mit dem Resümee zu beginnen: Das lange Warten bis zum Erscheinen des hier anzuzeigenden Bands hat sich ohne Zweifel gelohnt, auch wenn einige Autoren die Drucklegung an anderer Stelle vorzogen. Das Werk versammelt insgesamt 29 Aufsätze zum Problemfeld des hochmittelalterlichen Adels. Die meisten Beiträge zeichnen die Geschichte eines Geschlechts oftmals der „zweiten Ruderbank“ nach. So sucht man die ohnedies vergleichbar gut erforschten Familien der Ebersberger, Wittelsbacher, Welfen, Andechser oder Bogener vergeblich. Zudem erweitert Wilhelm Liebhart seine Forschungen zum Augsburger Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra durch Beobachtungen zu Adelsbekehrungen um 1130 und Christoph Bachmann entwirft im Einklang mit neueren Forschungen anhand von Hartmannsberg, Neuburg, Falkenstein, Wartenberg, Wittelsbach und Regensburg eine polyfunktionale Typologie der Adelsburg. Umrahmt werden die Beiträge von zwei kenntnisreichen Abhandlungen des durch vielfache Arbeiten ausgewiesenen Adelsexperten Wilhelm Störmer zu Grundproblemen der Forschung; im Verbund mit dem zweiten Herausgeber des Bands, Ferdinand Kramer, der auch eine Einführung verfaßt hat, beschließt Störmer mit einer wertenden Zusammenschau der Aufsätze das mit einem umfangreichen Register versehene, gelungene Nachschlagewerk.

 

Entgegen dem gewissermaßen eine Klio in Lederhosen zu befürchtenden Titel bleiben die Beiträge niemals an modernen Grenzen stehen. Vielmehr ist gerade der Nachweis der Überregionalität des hochmittelalterlichen Adels, welche für das Frühmittelalter durch Arbeiten von Gerd Tellenbach, Karl Schmid, Michael Mitterauer oder Wilhelm Störmer vielfach erforscht ist, ein wichtiges grundsätzliches Ergebnis des Bandes. Die Aufsätze zu den Viehbach-Eppensteinern, den Grafen von Hohenwart, den Kühbachern und den nordfränkischen Hiltenburgern behandeln Familien, die noch vor der Regierungszeit Heinrichs II. zu fassen sind. Die Grafen von Sulzbach und die Abenberg-Frensdorfer verdankten ihren Aufstieg maßgeblich der politischen Situation unter dem letzten Ottonenkaiser. Von den erstmals unter den Saliern in den Quellen erscheinenden Familien werden untersucht: die Sterkere (Grafen von Wohlsbach), die Herren von Sachsenkam, Pettendorf-Lengenfeld-Hopfenohe, Lengenbach, von Kamm-Hals, Stoffen, Lobdeburg, die Edelfreien von Maisach, die Grafen von Castell, von Valley sowie die schwäbischen Schwabegger. Inwiefern der für die Salierzeit gewonnene Eindruck großer sozialer Dynamik auch quellenbedingt sein mag, wäre zu diskutieren. Unter der Überschrift des stauferzeitlichen Aufstiegs werden die Grafen von Lebenau, Abensberg, die Herren von Dürn, Nußdorf, die Edelfreien von Hohenlohe, Lauda und Zimmern sowie die Balzhausener behandelt. Gerade unter den oftmals äußerst mächtigen Edelfreien lassen sich zuweilen ein beträchtlicher, meist amtsbedingter Aufstieg sowie eine gewaltige Fallhöhe bemerken, welche mit der jeweiligen politischen Herrschaftssituation, dem Wechselverhältnis von König und Adel, dem Wechselspiel von Nähe und Ferne, oft nur vermutungsweise in Verbindung zu bringen ist.

 

Die „chronologische“ Anordnung der Artikel erfolgte aus praktischen Gründen, obwohl für manches Geschlecht durchaus tieferreichende Wurzeln zum Teil bis in die Karolingerzeit anzunehmen sind. Der methodische Ansatz der meisten Beiträge ist personengeschichtlich-genealogisch und erfolgt mittels der Leitnamentheorie und der Besitzgeschichte. Hauptquelle für die Erforschung vieler Familien sind Traditionsbücher und Memorialquellen, wobei die Vorstellung, in diesen erschienen lediglich Adlige etwa von Hans K. Schulze oder Michael Borgolte in Frage gestellt wurde. Auch manche Einzelheiten der rekonstruierten Stammbäume mögen durchaus Ansatzpunkte für weitere Diskussionen bieten. Werner Hechberger hat jüngst die Probleme der Adelsforschung im Wandel und deren Abhängigkeit von zeitbedingten und theoretischen Annahmen zusammengefaßt. So erhält der vorliegende Band einen besonderen Reiz in der parallelen Lektüre mit den Arbeiten Hechbergers. Einige der Beiträge sind, bedingt durch die lange Drucklegung, zum Teil selbst schon wieder Forschungsgeschichte geworden. So hat Jürgen Dendorfer seine Ausführungen zu den Sulzbachern vor Erscheinen des Bands durch seine umfassende Monographie zu dem bedeutenden Adelsgeschlecht auf dem Nordgau erweitert. Oder so sind zu den Grafen von Castell in jüngster Zeit zahlreiche Abhandlungen erschienen.

 

An vielen Stellen spiegeln die Aufsätze die Schwierigkeit wider, einige Familien in ihrem Rechtsstatus einzuordnen, da die Quellen keine begriffliche Verfestigung aufweisen und möglicherweise feste moderne Kategorien einem noch hochmittelalterlich offenen Verständnis gegenüberstehen. Auch werden zum Teil Familien rekonstruiert, für die ein einheitsstiftendes Selbstverständnis zumindest umstritten ist, da sich die dynastischen Vorstellungen noch bis ins 11. Jahrhundert zum Teil anders gestalteten als im 12. und den folgenden Jahrhunderten und die zeitgenössischen Quellen ein Verständnis für ein modernes Zusammengehörigkeitsempfinden vermissen lassen. Folglich betonen einige Aufsätze auch durchaus, daß es sich bei den bearbeiteten Familien mehr um moderne Verständigungsbegriffe denn um mittelalterliche, durch eine konstitutive Erinnerungskultur geprägte (Otto Gerhard Oexle) Ordnungseinheiten handelt. Diese Thematisierung des konstruktiven Gehalts und der ächzenden Verästelung mancher Stammbäume gehört zu den großen Stärken des Sammelbands. Damit hängt zusammen das Problemfeld des sogenannten Adelssterbens, was zunächst nur für Bayern und Franken angenommen, von zahlreichen Forschungsarbeiten aber auch in anderen Gebieten festgestellt wurde. Obwohl es Thesen gibt, dahinter stehe lediglich ein Schwund an Namen oder eine soziale Umschichtung, läßt sich etwa bei den „ausgestorbenen“ Kühbachern, Valleyern, Pettendorfern oder Lobdeburgern eine Auflassung der Burg mit anschließender Gründung eines Klosters nachweisen, was als Zeichen des Einschnitts, aber auch als Kontinuitätssymbol unter religiösen Vorzeichen gedeutet werden könnte.

 

Fast alle Aufsätze sind mit Stammbäumen und Karten versehen worden. Durch die Vielzahl der behandelten Familien, der verarbeiteten Quellen erhält das Gesamtwerk den Rang eines Handbuchs für zahlreiche Aspekte der Regional-, Landes- und auch Reichsgeschichte, da sich die soziale wie familiäre Verflechtung des Adels als konstitutiv erweist, der Verlust gewisser gesellschaftlicher Verbindungen den Abstieg einleitet bzw. begleitet. An vielen Stellen werden die Genealogien Franz Tyrollers, dessen umfangreiches Manuskript zu den mittelalterlichen bayerischen Adelsfamilien von 1950 noch immer ungedruckt ist, erweitert, anders interpretiert oder korrigiert. Doch schließen nicht alle Arbeiten die Überlegungen Tyrollers, die sich auf eine noch heute eindrucksvolle, durch neuere Quelleneditionen jedoch vielfach zu ersetzende Materialsammlung stützen, mit ein. Weiteren Forschungen zur Sozial- und Rechtsstruktur wird es vorbehalten sein, an der Phänomenologie des mittelalterlichen Adels weiterzuschreiben. Der Sammelband zum Gebiet des heutigen Bayern hat wieder die Vielschichtigkeit und Wandelhaftigkeit des wohl ewigen Forschungsproblems „mittelalterlicher Adel“ gezeigt. Hierbei scheint der Forschungsweg wohl zunehmend weiter in die Detailuntersuchung zu gehen, ehe eine – aufgrund ebenfalls zunehmender Differenzierung vielleicht gar nicht mögliche – Gesamtschau angestrebt werden kann.

 

Seehausen am Staffelsee                                                                                 Christof Paulus