Hirte, Markus, Papst Innozenz III., das IV. Lateranum
und die Strafverfahren gegen Kleriker. Eine registergestützte Untersuchung zur
Entwicklung der Verfahrensarten zwischen 1198 und 1216 (= Rothenburger
Gespräche zur Strafrechtsgeschichte 5). edition diskord, Tübingen 2005. 350 S.
Besprochen von Mathias Schmoeckel.
Die von Günther Jerouschek betreute Dissertation untersucht die strafprozessualen Entscheidungen von Lothar di Segni (1160/61-1216), seit 1198 Papst Innozenz III. Unsicher ist, ob dieser in Bologna Kanonistik studierte; jedenfalls erkannte er die Bedeutung des Strafprozesses zur Selbstreinigung der Kirche. Die Arbeit zeigt, dass er in seinem 19-jährigen Pontifikat etwa im Hinblick auf das Ziel der Verfahrensbeschleunigung wichtige Entwicklungen veranlasste. Nach einer biographischen Darstellung, die wie der Rest der Arbeit in vorbildlicher Weise das internationale Schrifttum rezipiert, wird auf die besonders gute Überlieferung seiner Dekretalen hingewiesen. Schon zu seinen Lebzeiten und danach bemühte man sich um ein vollständiges Verzeichnis seiner Schreiben (S. 36f.). Im Hinblick auf das laufende Wiener Editionsprojekt kann sich der Verfasser jedenfalls teilweise auf eine neue Textgrundlage stützen.
Das Forschungsprogramm wird nur mit wenigen Zeilen skizziert, so dass man es letztlich aus der Arbeit selbst deduzieren muss: Der Verfasser will allein aus den Dekretalen ein vollständiges Bild des Strafprozessrechts unter Innozenz III. entwerfen. Dabei erfolgt die Auseinandersetzung mit den Dekretalen meist nur in den Fußnoten; Zeitgenossen Innozenz’ zieht der Verfasser nur aus der Beschäftigung mit Sekundärliteratur heran, Handschriften gar nicht. Inwieweit allein die überaus zahlreichen Dekretalen eine vollständige Übersicht über die Materie gewähren können, bleibt offen. In der Zusammenfassung wird klar, dass der Verfasser dogmatische Entwicklungen erforschen will; nach der Anlage der Arbeit kann er solche jedoch allenfalls für das 19 Jahre andauernden Pontifikat Innozenz’ III. nachweisen. Man muss sich diese Anlage deutlich machen, um Chancen und Grenzen der Arbeit zu bestimmen.
Die Stärke der Arbeit liegt in der zuverlässigen Bestimmung der Praxis des obersten Richters der Christenheit, der seine Auffassung in ganz Europa durchsetzen konnte. Die überaus gründliche Auswertung der Masse an Dekretalen führt zu einem neuen Bild des kirchlichen Strafprozesses am Beginn des 13. Jahrhunderts: Die Verfahren der Akkusation, der Inquisition, der Denunziation, per exceptionem und in Fällen der Notorietät sowie die Arten der Famapurgation und das Visitationsverfahren werden in ihren Details dargestellt. Soweit als möglich wird ihre Entwicklung im Pontifikat Innozenz’ III. untersucht, wobei gelegentlich zu wenige Dekretalen vorhanden sind, um eine Entwicklung erkennen zu können.
Die Darstellung ist so dicht, dass sie wie ein Handbuch des Strafprozesses wirkt. Als solches kann sie in Zukunft auch genutzt werden, sofern man berücksichtigt, dass die kirchliche Praxis sich nicht in allen Fällen mit der weltlichen deckte. Beispielsweise wandte sich die Kirche aus theologischen Gründen gegen die Durchführung von Gottesurteilen; die Glaubwürdigkeit dessen, was als judicium Dei begriffen wurde, wurde aber grundsätzlich (S. 128 mit einem Gegenbeispiel) nicht in Frage gestellt. Die Dekretalen Innozenz’ III. können indes nur verdeutlichen, wie konsequent der Papst gegen die purgatio vulgaris vorging.
Ebensowenig kann man von der Arbeit eine allgemeine dogmenhistorische Aufarbeitung der einzelnen Fragen erwarten, obgleich sich der Verfasser jeweils gründlich eingearbeitet hat. Bei der Darstellung der Notorietät bleibe ich daher bei meiner Auffassung, dass Gratian der auf Papst Nicolaus I. zurückgehenden Sache einen neuen Namen gab, um das Bewiesene (manifestum) von der neuen Verfahrensart bei unbezweifelbaren Sachlagen abzugrenzen (RIDC 14 2003 [2005], 155-188). Aber diese dogmenhistorische Betrachtung übersteigt das vom Verfasser bearbeitete Pontifikat bei weitem.
Die bedeutendste Beobachtung gilt dem Inquisitionsprozess, der nach Trusen vor allem von Innozenz III. geschaffen worden sein soll. Zunächst stellt der Verfasser fest, dass entgegen Trusens Darstellung zwischen 1199 und 1206 keine Änderung des Inquisitionsverfahrens zu beobachten ist (S. 168). Dann zeigt er, dass im gesamten Pontifikat die Nähe zum Disziplinarverfahren gewahrt wurde. Die Frage der Entstehung des Inquisitionsverfahrens ist damit wieder offen und Jörg Müllers Hinweis auf das fränkische Rügeverfahren als mögliches Vorbild umso wichtiger (Jörg Müller, in: Karl von Amira zum Gedächtnis, Frankfurt am Main 1999, 273-289).
Insgesamt bringt diese Untersuchung wichtige Erkenntnisse zur Geschichte des Strafprozesses. Zu vielen weiteren Einzelthemen werden wichtige Präzisierungen vorgenommen, etwa auch zur Entstehung der Parömie „ne crimina remaneant impunita“ (S. 193). Zum Verständnis des mittelalterlichen Prozesses und für die Dogmengeschichte des Strafprozessrechts wird diese Arbeit künftig ein wichtiges Hilfsmittel darstellen.
Bonn Mathias
Schmoeckel