Hilker, Judith, Grundrechte im deutschen Frühkonstitutionalismus (= Schriften zur Verfassungsgeschichte 73). Duncker & Humblot, Berlin 2005. 407 S. Besprochen von Ulrich Eisenhardt.

 

Angesichts der nach wie vor unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie die frühkonstitutionellen Staatsbürgerrechte in die historische Entwicklung der deutschen Grundrechte einzuordnen sind, ist es zu begrüßen, dass die Verfasserin in einer weit ausholenden Untersuchung der Frage nachgeht, wo die Wurzeln der schließlich in der Verfassung von 1848 zusammengefassten Grundrechte zu suchen sind. Schon in der Einleitung erkennen lässt sie ihr Ergebnis erkennen: Für eine Qualifizierung der frühkonstitutionellen Staatsbürgerrechte als Grundrechte spricht ihrer Meinung nach, dass sie als allgemeine, individuelle Freiheitsrechte verankert waren und deshalb eine konstitutionelle Schranke der Staatsgewalt darstellten. Nach einer kurzen Charakterisierung des deutschen Frühkonstitutionalismus wendet sich die Verfasserin in einem ersten Teil ihrer Arbeit den Entstehungsvoraussetzungen der Grundrechte zu; der zweite Teil ist den unterschiedlichen Grundrechten und ihren Funktionen gewidmet.

 

Auf der Suche nach den Ursprüngen ist der Einfluss des frühen deutschen Naturrechts auf die Grundrechte (3. Kapitel) nicht zu übersehen. Charakteristisch für den Freiheitsbegriff der ersten Epoche des deutschen Naturrechts der Aufklärung ist die „natürliche Freiheit“, die sich als allgemeine menschliche Handlungsfreiheit im Naturzustand unspezifisch gegen jegliche Art von Herrschaft richtet. Die Verfasserin beschäftigt sich eingehend mit den Lehren von Pufendorf, Christian Thomasius und Christian Wolff. Sie gelangt zu dem Ergebnis, dass im frühen deutschen Naturrecht die Vorstellung von Freiheitsrechten im Staat eher schwach ausgebildet war; nur langsam bildete sich eine vom Staat abzuschirmende, unpolitische Freiheitssphäre heraus. Politische Rechte ließen sich ihrer Meinung nach durchaus aus dem Naturrecht ableiten; sie seien allerdings als Sicherungsmittel der natürlichen Freiheit, aber nicht als Ausdruck derselben anzusehen.

 

Bevor die Verfasserin sich den Freiheitsrechten in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts zuwendet, untersucht sie die Auswirkungen der Virginia Bill of Rights (4. Kapitel) und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (5. Kapitel) auf die deutsche Entwicklung. Zweifellos strahlte die Verkündung der Menschenrechte in Frankreich auch auf Deutschland aus. Da es in Frankreich nicht gelungen war, die Funktionsfähigkeit der angeborenen, revolutionären Menschenrechte in der Praxis sicherzustellen, erwiesen sich die Staatsbürgerrechte, die in der Charte Constitutionelle verankert waren – Gleichheit vor dem Gesetz, individuelle Freiheit und Religionsfreiheit -, als vorbildhaft und waren eher geeignet, den Frühkonstitutionalismus zu prägen. Nach Ansicht der Verfasserin entwickelte sich unter diesem Einfluss auch in Deutschland ein Freiheitsbegriff, dessen Verwirklichung eine Anpassung der politischen Ordnung erforderte. Die Freiheiten wurden allerdings nicht von unten erkämpft, sondern von den Herrschern von oben gegeben. Das Beispiel Preußen, dem die Verfasserin besondere Aufmerksamkeit widmet, zeigt, dass auf diesem Wege Freiheitsrechte nur gewährt wurden, soweit sie mit den Herrschaftsinteressen vereinbar waren. Bedingt durch die Anpassung an den Absolutismus waren die gesellschaftlichen und staatsrechtlichen Freiheitsforderungen bei der Umsetzung in das Allgemeine Landrecht erheblich beschnitten worden. Mit der Überschrift des 7. Kapitels „Die Entstehung der frühkonstitutionellen Grundrechtskataloge“ nimmt die Verfasserin ein wichtiges Ergebnis vorweg. Ihrer Meinung nach handelt es sich bei den den Bürgern in den Verfassungsurkunden zugestandenen Rechten um Grundrechte. Für die Rheinbundzeit gelangt sie zu dem Ergebnis, dass in allen Rheinbundstaaten durch den langsamen Übergang in die bürgerliche Gesellschaft die Weichen für die künftige Grundrechtsentwicklung gestellt worden seien, obwohl lediglich in Westfalen und Bayern Gleichheitsrechte verfassungsrechtlich verankert waren. Mit Recht stellt die Verfasserin heraus, dass die soziale Umgestaltung vor allem durch die Rezeption des Code Civil vorangetrieben worden ist, in dem die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit der Personen verwirklicht waren. Interessant ist, dass Feuerbach einen Katalog grundrechtlicher Rechtspositionen zusammengestellt hat, die er im Code Civil begründet sah. Die schwierige Frage, ob die den Untertanen der verbündeten Fürsten und freien Städten in der Deutschen Bundesakte zugestandenen Rechte schon als Grundrechte zu qualifizieren sind, wird kritiklos von vornherein bejaht, ohne dass der Meinungsstand dazu dargestellt wird. Selbst wenn man sich dazu durchringt, die Zusicherung von Rechten in den Art. 16 und 18 DBA als Grundrechte zu bezeichnen, dürften Art. 12 (Bildung eines obersten Gerichts) und 14 (Rechte des Adels) kaum dazu zu rechnen sein. Auch die Frage, ob die bisher vorgenommene Differenzierung zwischen der Zusicherung von Rechten in der DBA einerseits und solchen in den frühkonstitutionellen Verfassungen andererseits aufrechtzuerhalten ist, wird nicht thematisiert. Die Verfasserin geht auf die Beweggründe der Monarchen ein, „die hinter den Verfassungen standen und deren Inhalt maßgeblich prägten“, um Aufschluss über die konkrete Ausgestaltung und die Wirkungsmöglichkeiten der „Grundrechte“ zu gewinnen. Eine bedeutende Rolle spielten ihrer Meinung nach vor allem die Sicherung der Souveränität, die Einigung des Staatgebiets durch einen allgemeinen Bürgerstand, die zusätzliche Legitimation der Herrschaft und auch der Finanzbedarf. Als wesentliche Elemente der Verfassungen, in die die Grundrechte eingebettet waren, arbeitet sie das monarchische System einerseits und den Freiheitsschutz durch Ständevertretungen andererseits heraus. Schließlich habe sich ein „Mischzustand feudaler Vorrechte und allgemeiner Staatsbürgerrechte“ ergeben, in dem von Anfang an ein Widerspruch zwischen dem monarchischen und dem demokratischen Prinzip angelegt gewesen sei.

 

Den Schwerpunkt des zweiten Teils des Buches bildet ein umfangreiches Kapitel, in dem sich die Verfasserin vertiefend den einzelnen Grundrechten zuwendet. Sie beginnt mit der staatsbürgerlichen Gleichheit und betont, diese habe den Übergang aus der älteren gesellschaftlichen Gliederung in die bürgerliche Gesellschaft gefördert. Im Zusammenhang mit der Freiheit der Person handelt die Verfasserin auch justizielle Rechte, die den Schutz der Person gewährleisten konnten, ab, so u. a. Verfassungs- und Verwaltungsbeschwerde und Ministeranklage. Zutreffend weist sie darauf hin, dass diese Rechtsschutzmöglichkeiten im Hinblick auf die Freiheitsrechte im Spannungsfeld zwischen dem Monarchen und den Ständen angesiedelt waren. Eigentum, Religions- und Gewissensfreiheit und die Pressefreiheit werden ausführlich behandelt. Letztere spielte nicht zuletzt wegen der Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse eine besondere Rolle.

 

Das darauf folgende Kapitel ist mit „Geltungskraft und Funktion der frühkonstitutionellen Grundrechte“ überschrieben. Darin will die Verfasserin unter Berücksichtigung der von Einzelgrundrecht zu Einzelgrundrecht variierenden Geltungskraft eine Gesamtbewertung vornehmen. Auch hier steht die Qualifikation als Grundrechte fest; es fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, ob und gegebenenfalls warum die in den frühkonstitutionellen Verfassungen verankerten Rechte schon als Grundrechte gewertet werden können. Die Verfasserin betont, sobald die Grundrechte verbrieft gewesen seien, hätten sie eine Eigendynamik und damit Wirkungen entfaltet, die über die Absichten des Monarchen, der sie gewährt hatte, hinaus gingen. Das gilt insbesondere für die Abwehrfunktion, die sich zu Lasten der beabsichtigten Stützfunktion für die Monarchie herausbildete und – so ein Ergebnis der Verfasserin – durch die Mitwirkungsbefugnisse der Ständeversammlungen sicher gestellt wurde. Die Problematik, ob es schon einen Vorrang der Verfassung vor einfachen Gesetzen gegeben hat, wird nur kurz gestreift. In der Praxis scheint dieses Prinzip schon respektiert worden zu sein. Dass die in den frühkonstitutionellen Verfassungen verankerten Rechte Programmcharakter hatten, dürfte unbestritten sein; die Frage ist, ob sie mehr waren. Die Verfasserin meint, die Konkretisierung der Grundrechte habe vor allem neue Gesetze erforderlich gemacht. Zu wenig berücksichtigt wird, dass es aus Quellen, z. B. Gerichtsakten und Gutachten, Hinweise dafür gibt, dass Bürger die ihnen in den Verfassungen zugestandenen Rechts durchaus als Rechte aufgefasst und sie als solche auch in Anspruch zu nehmen versucht haben. Es hat sogar eine Reihe von Prozessen gegeben, in denen so etwas wie eine konkrete Normenkontrolle vorgenommen worden ist. Dies alles lässt sich allerdings nur anhand von Quellenstudien nachvollziehen. Die Verfasserin meint, der Auslegung der frühkonstitutionellen Grundrechte als subjektive Rechtspositionen habe das monarchische Prinzip entgegen gestanden, wenn auch schon wichtige Voraussetzungen für die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht auf den Weg gebracht worden seien. Damit könnte gemeint sein, dass die liberale zeitgenössische Staatslehre den Begriff der Staatsbürgerrechte immer mehr ausweitete und konkretisierte, worauf die Verfasserin hinweist. Wenn diese Analyse stimmt, verwundert allerdings noch einmal die kritik- und vorbehaltlose Einordnung der in den frühkonstitutionellen Verfassungen verbrieften Rechte als Grundrechte.

 

Schließlich beschäftigt sich die Verfasserin in einem letzten Kapitel mit den Paulskirchengrundrechten „als Reaktion auf die eingeschränkte Geltungskraft der Grundrechte im Frühkonstitutionalismus“. Hier wird der Ertrag der Untersuchung sichtbar, denn die Verfasserin geht ja davon aus, dass sich in Deutschland in der Zeit nach 1815 ein Grundrechtsverständnis herausgebildet hat, das seinen Niederschlag im Grundrechtsteil der Reichsverfassung von 1848/49 gefunden hat. Sie zeichnet einen komplizierten Entwicklungsprozess nach, der die Ausbildung von Grundrechten ermöglicht hat. Diejenigen Autoren, die die Geschichte der Grundrechte in Deutschland erst mit der Paulskirchenverfassung beginnen lassen, dürften es angesichts der vorliegenden Arbeit nun noch schwerer haben, zu erklären, dass und wie 1848 ein Grundrechtskatalog mit einem entsprechenden Grundrechtsverständnis plötzlich vom Himmel gefallen ist.

 

Hagen                                                                                                Ulrich Eisenhardt