Grumbach, Torsten, Kurmainzer Medicinalpolicey 1650-1803. Eine Darstellung entlang der landesherrlichen Verordnungen (= Studien zu Policey und Policeywissenschaft). Klostermann, Frankfurt am Main 2006. XVIII, 326 S. Besprochen von Andreas Roth.
Die vorliegende Frankfurter Dissertation greift auf Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte „Policeyordnungen der frühen Neuzeit“ zurück und wertet 243 solcher Polzeiordnungen des Mainzer Kurfürstentums in der Zeit zwischen 1650 und dem Ende des Kurstaates aus. Gegenstand ist die Medizinalpolizei, das sind konkret die Pestabwehr, die Gewährleistung der Nahrungsmittelqualität, die Gesundheitsvorsorge, die Schädlings- und Seuchenbekämpfung sowie Regelungen für Ärzte, Apotheken und Hebammen. Das behandelte Territorium zeichnete sich in dieser Zeit durch seine starke Zersplitterung, permanente Finanznot, seine Größe mit 320.000 Einwohnern aus sowie durch die Tatsache, dass die Kurfürsten ein eher traditionelles Staatsverständnis vertraten.
Die Untersuchung, die den Akzent auf eine inhaltliche Analyse, weniger auf statistische Faktoren setzt, thematisiert zunächst die wirtschaftliche Seite des Gesundheitsschutzes, wobei einerseits ein Zielkonflikt zwischen ökonomischen und medizinischen Interessen bestand, andererseits beides auch parallel lief, etwa bei der Pestabwehr: Da Mainz stark vom Handel lebte, wäre, wenn es von der Seuche heimgesucht worden wäre, der Warenaustausch mit anderen Gegenden zum Erliegen gekommen. Daher wurde die Einfuhr aus Pestgebieten untersagt und die Händler mussten ihre Reiseroute genau dokumentieren. Letztlich erwiesen sich die Maßnahmen nur als mäßig effizient, wohl weil der Kurstaat aus ökonomischen Gründen auf die Interessen der Mainzer Händler glaubte Rücksicht nehmen zu müssen. Zumindest teilweise präventiv der Seuchenbekämpfung dienten Verordnungen, in denen den Anwohnern die Pflicht auferlegt wurde, den öffentlichen Raum sauber zu halten. Bezüglich der Ärzte und Apotheken ging es zum einen quantitativ um eine möglichst flächendeckende Versorgung der verschiedenen Landesteile, die vor allem außerhalb der Städte Probleme bereitete. Zum anderen kommt im 18. Jahrhundert ein qualitativer Aspekt hinzu: Der Staat kontrollierte zunehmend sowohl den Zugang zu den entsprechenden Berufen als auch deren Ausübung. Die Zahl der Apotheken wurde festgesetzt, ihre Preise reguliert, wobei sich die Strenge der Aufsicht am Angebot an Ärzten und Apotheken orientierte. – Die Gesetze zum Hebammenwesen waren bevölkerungspolitisch motiviert, ihre Anfänge liegen in der Kirchenordnung von 1669, bevor in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich der Staat dieses Themas annahm. Das Haus im Mainzer Altmünsterkloster sollte allen Ledigen zur Entbindung dienen und ihnen Unterhalt gewähren, was auch als Prävention zur Verhinderung des Kindsmordes zu sehen ist. Maßnahmen zur Sicherung der Nahrungsmittelqualität erfolgten in Verordnungen über den Fischverkauf und – wie könnte es im Untersuchungsgebiet anders sein - in Weinverordnungen, die nicht nur gesundheitlich motiviert waren, sondern auch den guten Ruf unter Absatzgesichtpunkten im Blick hatten. Unter diesem Aspekt ist auch der – bekannte – Vorschlag von 1790 zu sehen, die gesundheitsfördernde Wirkung des Rheingauer Weines durch Ärzte empfehlen zu lassen. Ebenfalls dem Schutz der Winzer diente die Schädlingsbekämpfung, vor allen Dingen gegenüber Heuschrecken. Etwa ein Viertel aller Gesetze ist der Tierseuchenbekämpfung gewidmet, in denen Themen geregelt waren, die uns aus den aktuellen Nachrichten bekannt vorkommen: Der Umgang mit tierischen Erzeugnissen, Anzeigepflichten im Verdachtsfall, die Anweisung zur Tötung herrenloser Hunde, ferner repressiv die Verhängung von Quarantäne sowie die Behandlung erkrankter Personen oder Tiere. Ebenfalls modern mutet es an, wenn bereits ein Aufopferungsanspruch für die Betroffenen gewährt wurde.
Die Verhaltenslenkung der Bevölkerung orientierte sich – den damaligen Vorstellungen entsprechend - nicht am Grundsatz der Gesetzlichkeit, sondern allein an Nützlichkeitserwägungen. Sie erfolgte zunächst traditionell mittels Strafen, aber zunehmend ab Ende des 18. Jahrhunderts durch Belehrungen oder subtiler über Anreize. Selten begegnen Todesstrafen, etwa bei der Pestabwehr, häufiger kommen Geldbußen vor, mitunter Berufsverbote. Nicht nur die Bürger, auch die eigenen Beamten wollte man ab den 1740er Jahren stärker disziplinieren, durch Strafandrohung genauso wie mittels Belohnungen, etwa für eifrige Kontrolleure. Die indirekte Steuerung begegnet erstmals Ende des 17. Jahrhunderts bei Rezepten zur Behandlung von Viehseuchen. Weitere Beispiele für eine positive Motivierung finden sich im 18. Jh., so die Aussetzung eines Preises für die beste Straßensäuberung, die Spatzenkopfprämie als Schädlingsbekämpfung oder die Beteiligung der Denunzianten an den Strafgeldern, auf die man wegen fehlender Verwaltungsstrukturen angewiesen war. Die Verpflichtung zum Ersatz angerichteter Schäden hatte nicht allein eine Ausgleichsfunktion, sondern auch eine pädagogische Intention. Am Ende des 18. Jahrhunderts begegnen ferner vielfältige Informationen zum Schutz der Volksgesundheit und konkrete Anleitungen zur Ersten Hilfe (1783), wobei deren Unterlassen auch mit einer Strafandrohung versehen wurde. Schließlich finden sich Verhaltensanweisungen bei Überschwemmungen, Warnungen vor der Tollkirsche und – häufig - Hinweise zur Tierseuchenbekämpfung.
Auf dem Feld der Medizinalpolizei wurde auch auf das Fachwissen der Mainzer Universität und hier in erster Linie das der medizinischen Fakultät zurückgegriffen, deren Gutachten die Rechtsetzung unmittelbar beeinflusst haben, während die an der Landesuniversität ausgebildeten Juristen und Mediziner, die in den Dienst des Kurstaates eintraten, mittelbar auf die Gesetzgebung eingewirkt haben. Anhand des Säugammenwesens kann dieser Einfluss im 18. Jahrhundert konkret nachgewiesen werden, da die wissenschaftlichen Reformvorschläge von der Regierung umgesetzt oder gar wörtlich als Anhang mit abgedruckt wurden.
Schließlich schildert der Verfasser die Verwaltungsorganisation der Medizinalpolizei, die den allgemeinen Strukturen folgt: An der Spitze der Hofrat, dann die Hofkammer, das Hofgericht, ferner das Generalvikariat und die medizinische Fakultät, die alle jedoch für die Normdurchsetzung auf die effektive Arbeit der Ämter vor Ort angewiesen waren. Vom ernsthaften Vollzugswillen des Staates zeugt das Bemühen um die Publikation der Verordnungen, weshalb deren Verlautbarung zum Teil sehr konkret vorgeschrieben wurde. Ein weiteres Mittel, um die häufig zu beobachtenden Vollzugsdefizite in den Griff zu bekommen, war das Visitationswesen. Darüber hinaus bildeten sich auf dem Medizinalsektor neue Organisationsformen: Zu erwähnen sind die Chirurgenzunft, die Physici, die Einstellung von Stadthebammen, deren erste in Laubenheim 1735 und in Mainz erst am Ende des 18. Jahrhunderts angestellt wurde, ferner Fleischschätzer, spezielle „Beamte“ für einzelne Kellereibezirke (sog. Keller) und Weinkommissare. Auch die Kooperation zwischen den einzelnen Territorien zum Informationsaustausch (Beispiel das preußische Edikt für die Erste-Hilfe-Verordnung) deutet neue Strukturen an. Der Verfasser sieht in dieser Entwicklung zu recht eine langsam zunehmende Verstaatlichung, hätte allerdings auch noch diskutieren können, ob und inwieweit hierin eine Professionalisierung des Medizinalwesens im 18.Jahrhundert zu erkennen ist.
Insgesamt gewährt das Buch einen schönen Überblick über die „Medicinalpolicey“ eines frühneuzeitlichen Territoriums, der durch einen Anhang ergänzt wird, in dem in Schaubildern die quantitative Auswertung des Aktenmaterials dargestellt und die Maßnahmen zur Verhaltenslenkung sachlich gegliedert vorgestellt werden.
Mainz Andreas Roth