Grothe, Ewald, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900-1970 (= Ordnungssysteme, Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 16). Oldenbourg, München 2005. 486 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Der Verfasser einer Monografie über Verfassungsgeschichtsschreibung steht zunächst einmal vor dem Problem, sein Thema genauer zu fassen. Grothe versucht dies auf zwei Wegen: zum einen sollen es Werke sein, in denen die nicht näher definierte verfassungsgeschichtliche Methode angewandt wird, zum anderen sollen es solche sein, die sich einem außerordentlich breit definierten Gegenstand widmen. Er reicht von den „politisch-gesellschaftlichen Strukturen der Vergangenheit“ über Regierungsformen wie Formen der Partizipation und Repräsentation bis hin zu „politisch-gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen“ (S. 17). Es ist offensichtlich, dass ein solches Vorhaben überhaupt nicht zu leisten gewesen wäre. So beschränkt sich der Verfasser trotz aller theoretischen Reflexionen und Definitionsbemühungen pragmatisch darauf, „Leben, Werk und Wirkung“ der Juristen und Historiker zu untersuchen, über die sich in den jeweiligen Disziplinen der Konsens herausgebildet hat, dass sie Verfassungshistoriker seien. Seine Ansicht, dass dies ein origineller wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz sei, wird kaum auf allgemeine Zustimmung stoßen.

 

Denn durch die Entscheidung, sich auf Leben und Werk führender Vertreter der Teildisziplin zu konzentrieren, wird gerade der überpersonale wissenschaftsgeschichtliche Ansatz verbaut. Zudem wird die Möglichkeit eingeschränkt, in größerem Umfang Neuland zu betreten. Denn die mit großem Fleiß zusammengetragene und sorgfältig ausgewertete Forschungsliteratur belegt zur Genüge, dass gerade über die Verfassungshistoriker, die im Zentrum der Untersuchung stehen, erstaunlich viel gearbeitet worden ist. Wenn auch anzuerkennen ist, dass deren Leben und Werk immer wieder mit der Entwicklung des Faches, den geistigen Strömungen und den politischen Verhältnissen in Beziehung gesetzt wird, so bleibt der personalistische Ansatz doch dominierend.

 

Arbeitspraktisch verständlich, doch für das Thema nicht ganz unproblematisch, ist die vollständige Aussparung der mediävistischen Verfassungsgeschichte, da in dem behandelten Zeitraum gerade in ihren Reihen Grundsatzdebatten geführt wurden und mancher methodische Anstoß von dort ausging. Hingegen überzeugt die Wahl des Untersuchungszeitraums. Denn wie die Studie darlegt, ist das Ende des Zweiten Weltkriegs kein Einschnitt für das Fach, sondern erst die Jahre, in denen dessen um 1900 geborenen Vertreter sich zurückziehen. Den Anfang markiert die Etablierung der Verfassungsgeschichte als eigenständige Disziplin innerhalb der universitären Geschichts- und Rechtswissenschaft.

 

Immerhin kann man in der Institutionalisierung des ersten verfassungsgeschichtlichen Lehrstuhls an der Berliner Universität den Beginn der neueren Verfassungsgeschichtsschreibung sehen. Wie auch später immer mal wieder, so kam dazu zu Beginn des 20. Jahrhunderts der entscheidende Impuls von außen. Der führende Vertreter der historischen Nationalökonomie Gustav Schmoller hat damals an der Berliner Universität sein ganzes Gewicht für die Errichtung eines verfassungsgeschichtlichen Lehrstuhls eingesetzt. Wenn er auch nicht sogleich Erfolg hatte, so hat er doch immerhin erreicht, dass sein Favorit Otto Hintze, den er aus der gemeinsamen Arbeit an den „Acta Borussica“ kannte, 1902 ein persönliches Ordinariat erhielt, das 5 Jahre später in ein etatmäßiges umgewandelt wurde.

 

Wenn Grothe Hintze für den wohl kreativsten und innovativsten Verfassungshistoriker des 20. Jahrhunderts hält, wird er wohl ebenso wenig Widerspruch ernten wie bei der Begründung für dieses Urteil: die Öffnung des Faches zur Soziologie hin und die Anwendung der typologisierenden Methode. Diese wurde um den interkulturellen Vergleich ergänzt, wenn auch für die zentrale Frage nach dem Staat die Staatsbildung Brandenburg-Preußens der Maßstab blieb. Eine gewisse Skepsis ist angebracht gegenüber der auch in der Forschung weit verbreiteten Ansicht, dass Hintze ein ebenso wirkungsmächtiger wie anregender Verfassungshistoriker gewesen sei. Denn schon seine unmittelbaren Nachfolger Willy Andreas und Fritz Hartung hat der Meister merkwürdig wenig beeinflusst und in der zeitgenössischen juristischen Verfassungsgeschichtsschreibung hat er kaum Spuren hinterlassen. Selbst die Wiederentdeckung Hintzes in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts schlug sich vor allem in der Erforschung der Frühen Neuzeit, der Gesellschaftsgeschichte und in den methodischen Debatten nieder, in der neueren Verfassungsgeschichte schon viel weniger.

 

Die Art und Weise, in welcher der Ertrag von Hintzes Lebensleistung wie danach die der führenden Repräsentanten der Verfassungsgeschichtsschreibung behandelt wird, ist weitgehend gleich. Eine eigenständige analytische Auseinandersetzung mit den Werken erfolgt eher am Rande. Statt dessen zieht es Grothe vor, die Leistungen durch Selbstaussagen, aber vor allem durch das Referieren grundsätzlicher Abhandlungen herauszuarbeiten. Dabei wird zu wenig beachtet, dass diese meist mehr bekenntnishaft und proklamatorisch als zureichende Analysen der eigenen Arbeiten sind. Daneben wird die zeitgenössische Kritik und vor allem aber die überzeugend zusammengefasste Forschungsliteratur herangezogen. So bleibt die eigentliche Leistung des jeweiligen Verfassungshistorikers blass. Der Leser erhält zwar eine gelungene Synthese der Forschung, fragt sich aber öfters, wodurch diese, von interessanten Einzelheiten abgesehen, denn nun bereichert worden sei.

 

Während der Weimarer Republik konstatiert Grothe vor allem geistige Erstarrung, politische und methodische Rückwärtsgewandtheit. Die Wirkung Hintzes, der sich 1920 vorzeitig emeritieren ließ, wird schwächer und sein Nachfolger Fritz Hartung (1923-1949) war weitaus weniger originell. So fällt es verständlicherweise schwer, ihn zu profilieren. Er war in jeder Hinsicht ein konventioneller Historiker. Doch vielleicht liegt gerade darin der Grund, dass er eine der einflussreichsten Darstellungen der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung in der Neuzeit vorlegen konnte. Eine Vermutung - doch hilft auch Grothe dem Leser bei der Frage, warum diese „Deutsche Verfassungsgeschichte in der Neuzeit“ so erfolgreich war, kaum weiter.

 

Die dichtesten und ertragreichsten Teile des Buches sind die über die nationalsozialistische Epoche, die bei aller Ambivalenz für die Entwicklung des Faches in einem bisher nicht gekannten Umfang ertragreich war. Die Historiker treten zurück und die Juristen bestellen das Feld. Ausgelöst durch den Systemwechsel führen sie eine intensive Diskussion über den Begriff der Verfassung und die Aufgabe der Verfassungsgeschichte. Eine erste kaum zu überschätzende Frucht davon ist, dass diese zu einem Grundlagenfach der Rechtswissenschaft aufsteigt und infolgedessen in der reichseinheitlichen Juristenausbildung fest verankert wird. Überzeugend verweist Grothe zur Begründung dieser Förderung durch das Regime auf dessen Abneigung gegen den überkommenen Rechtspositivismus. Diese teilte eine junge Generation von aufstiegswilligen Öffentlichrechtlern, die mit ihm sympathisierten, wenn auch einige nur zeitweilig. Es ist darüber hinaus zu bedenken, dass sich die Verfassungsgeschichte ideologisch instrumentalisieren ließ und stark an der Idee der Nation orientiert war, der wichtigsten ideellen Gemeinsamkeit zwischen Nationalsozialismus und Bürgertum.

 

Denn das Verständnis von Verfassung wurde insofern für die Ideologisierung anfälliger als diese als „Fundament für das politische Sein und Handeln des Volkes“ begriffen und ihr die Aufgabe gestellt wurde, die geschichtliche Idee, die einem Volke innewohne, herauszuarbeiten. Der Staat wurde als ein Wertgefüge eigener Art gefeiert. Solche Vorstellungen konnten nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes nicht weiterwirken. Dennoch wurde die Verfassungsgeschichte durch die Abkehr vom juristisch-formellen Verfassungsbegriff auf Dauer geprägt. Denn seitdem ist die Auffassung von Verfassung weiter und dynamischer. Sie wird verstanden als ein Gesamtzustand des politischen Gemeinwesens, das in ihr eine Form gefunden hat, die als geworden und veränderbar begriffen wird.

 

Mit gutem Grund wird herausgestellt, dass diese Wende nicht durch eine ursprüngliche Debatte über Verfassungsgeschichte ausgelöst wurde. Vielmehr führte das Ringen der Staatsrechtler, die ihr Fach zu einer „politischen Wirklichkeitswissenschaft“ weiterentwickeln wollten, zu einem neuen Verfassungsbegriff. Freilich fällt Grothe nicht auf, dass diese Diskussion etwas Gespenstisches hatte, da sie sich parallel zu einem immer mehr auflösenden Staat im herkömmlichen Sinne vollzog. Ganz deutlich wird das daran, welch große Schwierigkeiten die Staatsrechtler hatten, den Begriff des Staates aufrecht zu erhalten und die politischen Leitbegriffe des Nationalsozialismus in ihn zu integrieren. So lag auch der fundamentale Gegensatz nicht, wie diese glaubten zwischen „Staat“ und „Volk“, sondern, wie im Nachhinein deutlicher zu erkennen ist, zwischen dem Staat und der ungezügelten Gewalt, die diesen sprengte.

 

Einer der Historiker, die die Kontinuität zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit verkörpern, war Otto Brunner gewesen. Mit dem 1939 erschienen Hauptwerk des Wiener Archivars und späteren Hochschullehrers „Land und Herrschaft“ hat Grothe einige Schwierigkeiten. Seine Bewertung als „volksgeschichtliche“ Alternative zur etatistischen Staatsaufassung der Juristen greift zu kurz. Es ist vielmehr die überzeugendste Umsetzung des neuen Ansatzes der Verfassungsgeschichtsschreibung, in der das Verständnis von politischer Gewalt und Herrschaft im Mittelalter in neue Dimensionen vorstößt, indem das „Land“ als deren Quelle herausgearbeitet wird.

 

Freilich noch mehr verkörpert die zwiespältige Kontinuität Ernst Rudolf Huber, dem daher auch ein beträchtlicher Teil der Ausführungen über die „deutsche Verfassungshistoriographie 1945-1970“ gewidmet wird. Zu breit, weil das meiste längst bekannt, wird die steinige Rückkehr ins akademische Milieu erzählt. Zum Nachteil gereichte Huber zunächst, dass er in den dreißiger Jahren aufgrund seiner Leistungen wie ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus neben Carl Schmitt zum einflussreichsten Staatsrechtler aufgestiegen war. Doch hatte er schon am Ende des Jahrzehnts eine Hinwendung zur Verfassungsgeschichte vollzogen, vielleicht weil ihm deutlich wurde, dass es unmöglich sei, die nationalsozialistische Diktatur staatsrechtlich noch zu fassen. Auf jeden Fall gab ihm die erzwungene Muße nach 1945 die Gelegenheit, daran anzuknüpfen und sich vermehrt auf die politisch weniger verfängliche Verfassungsgeschichte festzulegen. Das Ergebnis war die monumentale „Deutsche Verfassungsgeschichte“ von 1789 bis 1933, der allein ein ganzes Kapitel gewidmet ist. In ihm erfährt man viel über das Bemühen um finanzielle Absicherung des Projekts wie über dessen Unterbringung in einem Verlag. Um so mehr vermisst man dessen geistesgeschichtliche Einordnung und die kritische Bewertung seiner Stellung innerhalb der Geschichte der verfassungsgeschichtlichen Forschung. Immerhin wird herausgearbeitet, dass der „deutsche Konstitutionalismus als eigentümlich nationale Verfassungsform“ die breit ausgefächerte Grundthese des Werkes ist. Klug bemerkt ist auch, dass dagegen die Bände über die Weimarer Republik abfallen. Huber ist weder in seinem Leben noch in seiner Forschung mit ihr warm geworden.

 

Ansonsten gilt in diesem Zeitabschnitt das Interesse des Verfassers vor allem den Kontinuitäten. Sie kamen am stärksten in der fast vollständigen Wiedereinsetzung des alten Personals und in der Wiederauflage der meist nur kosmetisch überarbeiteten Lehr- und Handbücher zum Ausdruck. Es zeigen sich daneben aber auch schon neue Sichtweisen und Bewertungskriterien. Es erstaunt schon etwas, dass dabei ausführlicher auf Gründung und Publikationen der Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien eingegangen wird, nicht in erster Linie eine Stätte verfassungsgeschichtlicher Forschung, auf die Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer aber nur im Vorübergehen. Hat diese doch einen der wenigen ausdrücklich der Verfassungsgeschichte gewidmeten Lehrstühle, dessen erster Inhaber Georg Smolka noch nicht einmal erwähnt wird. Etwas von der Unübersichtlichkeit der Nachkriegsjahrzehnte schlägt sich auch in der Darstellung selbst nieder.

 

Ewald Grothe hat eine gut lesbare und eine ebenso stringent wie verständlich argumentierende Untersuchung vorgelegt. Klug abwägend und sich von allem vorschnellen Verurteilen zurückhaltend, bewegt sie sich stets auf der Höhe der Forschung. Diese bereichert sie weniger in den Partien über die im Zentrum des Interesses stehenden Protagonisten, sondern vor allem in denen über deren Mitstreiter und das Umfeld, in dem diese und jene agierten. Das Buch ist darüber hinaus eine bisher fehlende Synthese der Verfassungsgeschichte zwischen 1900 und 1970. Deren Randstellung in Jurisprudenz und Geschichtswissenschaft und die daher nicht von der Hand zu weisende institutionelle Gefährdung wird immer wieder betont. Doch braucht man das leicht resignierende Fazit nicht unbedingt zu teilen. Die verfassungsgeschichtliche Forschung wird solange bestehen, wie sie überzeugende Leistungen vorlegt. An diese kann der Autor - um ein Lieblingswort von ihm zu gebrauchen - durchaus „anschließen“.

 

Eichstätt                                                                                                         Karsten Ruppert