Grossi, Paolo,
Prima lezione di diritto. Laterza, Rom 2003. XIV, 120 S.
Besprochen von Stephan Meder
„Dieses Büchlein“, so heißt es im Vorwort, „ist einer
ganz persönlichen Erfahrung entsprungen“. Es verdankt seine Entstehung dem
Umstand, daß Paolo Grossi über mehrere Jahre hinweg an der juristischen
Fakultät der Universität Florenz die Vorlesung „Einführung in das Recht“
gehalten hat (S. VIII). In Form einer Initiation richtet es sich an Studierende,
die von der Schule in den Kreis der Wissenschaft geführt werden sollen. Dabei
zieht Grossi die Summe einiger Arbeiten zum bislang kaum erforschten,
nicht nur den Anfänger interessierenden Zusammenhang von Globalisierung,
Privatisierung und Rechtsquellenlehre.[1]
Nach Grossi ist das „moderne“ Rechtsverständnis
geprägt durch die Ideen des staatlichen Rechtsetzungsmonopols, der
institutionellen Rechtseinheit und der schriftlichen Aufzeichnung in
umfassender Gesetzgebung oder Kodifikation. Seine Grundlage bildet die
Philosophie des Positivismus, die im Zuge fortschreitender Globalisierung
freilich zusehends erschüttert wird. Grossi zeigt auf Basis historischer
Analyse, daß dieses „moderne“, mit der Französischen Revolution von 1789 endgültig
zur Herrschaft gekommene kontinentaleuropäische Rechtsverständnis einen tiefen
Einschnitt in jene früheren Formen der Rechtsetzung bedeutet, die angesichts
der aktuellen Erosionen von Territorialität und Souveränität heute wieder auf
gesteigertes Interesse stoßen (S. 7ff.): Es markiert den Bruch mit der
überkommenen Ordnung des Mittelalters, deren schwach ausgeprägte und bisweilen
überhaupt abwesende Staatlichkeit eine weitgehende Entkoppelung des Rechts von
der politischen Macht zur Folge hatte (S. 35ff. und nochmals S. 50ff.).
Das zukunftsweisende Element der mittelalterlichen
Rechtsordnung sieht Grossi darin, daß hier ganz unterschiedliche Normen
Anerkennung finden, neben dem römisch-kanonischen Recht als Grundlage des ius
commune etwa auch das Feudalrecht, Statutarrecht, lokales Gewohnheitsrecht
oder Gerichtsgebrauch. Die Geltung dieser Rechtsquellen ist nicht an ein
bestimmtes Territorium oder die Ausübung einer bestimmten politischen Macht
gebunden. Denn das ius commune überschreitet die nationalen Grenzen und schafft
auf Basis des rezipierten römischen Rechts jene Art von
„Rechtsvereinheitlichung“, die heute wieder erstrebenswert erscheint. Grossi
schildert auch den langen Weg von den mittelalterlichen Mischrechtssystemen zum
Rechtsquellenmonismus, der im modernen Kodifikationsgedanken seinen Ausdruck
gefunden hat (S. 57ff.). Der Staat erscheint danach als „Machtapparat“ - als
„autoritäre Organisation“ und „Brutstätte von Befehlen“, die es darauf anlegt,
über eine Monopolisierung der Rechtsetzung das Gesetz als Mittel der
politischen Kontrolle einzusetzen (S. 8). Eine sehr verschiedene Entwicklung
hat das Recht in England genommen, wo am common law festgehalten und es
den gewandelten Bedingungen immer wieder angepaßt wurde. Die Rechtsgeschichte
steht hier im Zeichen der Kontinuität, und nicht des Bruchs, den das Streben
nach einer Monopolisierung des Rechts durch umfassende Gesetzgebung bedeutet
(S. 64). Zwar übersieht Grossi nicht, daß zwischen mittelalterlichem ius
commune und common law eine Reihe von Unterschieden bestehen; dazu
gehört etwa der Umstand, daß das ius commune eher durch die Wissenschaft
als durch den Richter hervorgebracht wurde (S. 64). Jedoch überwiegt das
Verbindende, zumal es sich in beiden Fällen um Mischrechtssysteme handelt, die
dem Juristenrecht zentrale Bedeutung beimessen.
Von diesen Überlegungen ausgehend zieht Grossi
eine Linie zu neueren Erscheinungen, die sich unter dem Begriff
„Rechtsquellenpluralismus“ zusammenfassen ließen.[2] Hintergrund
ist der Befund, daß unter gegenwärtigen Bedingungen die Kompetenz zur
Rechtsetzung nicht mehr ausschließlich dem staatlichen Gesetzgeber vorbehalten
ist, sondern immer häufiger auch Private befugt sind, objektives Recht zu
setzen. Auch haben Rechtsetzungsakte auf internationaler Ebene und Richterrecht
das Spektrum an Rechtsquellen in den letzten Jahrzehnten erheblich ausgeweitet.
Die aktuellen Tendenzen, meint Grossi, sind einer juristischen Erfahrung
entsprungen, die auf Gemeinsamkeiten mit den Rechtsquellensystemen von ius
commune und common law schließen lassen. Letztlich hält Grossi
das common law für die Bewältigung der neuen Herausforderungen besser
gerüstet als das civil law, weil ihm jener Bruch erspart blieb, den die
„Verstaatlichung“ des Rechts auf dem Kontinent verursacht hat. Denn das common
law ist im wesentlichen Juristenrecht geblieben, welches neben anderen
Rechtsquellen gut bestehen kann (S. 64). Dagegen muß das auf dem Kontinent
vorherrschende Rechtsverständnis danach streben, Rechtsquellen, die mit
staatlicher Gesetzgebung konkurrieren, so weit wie möglich auszuschalten.
Das zentrale Thema des Buches bildet die Frage nach dem
Verhältnis von Recht, Staat und Gesellschaft. Aus Sicht Grossis ist
nicht der Staat, sondern die Gesellschaft „im Sinne einer komplexen Realität
der notwendige Referent des Rechts“ (S. 15, 33). Ihm geht es darum, das Recht
aus seiner Umklammerung durch den Staat zu befreien und den auf dem Kontinent
verlorenen Pluralismus für die Wissenschaft wiederzugewinnen. Vor diesem
Hintergrund ergibt sich eine Parallele mit dem Programm der historischen
Schule, die dem staatlichen Gesetz in seiner Funktion als zentraler
Rechtsquelle ebenfalls mit großer Zurückhaltung begegnet ist und den Akzent auf
die Kräfte der Gesellschaft gelegt hat.[3] Ähnlich ist Grossi
der Meinung, daß das Recht nicht von oben - vom Allgemeinen -, sondern von
unten - vom Besonderen - seinen Ausgang nimmt. Dies zeigt sich auch in Grossis
radikaler Formulierung des Rechtsquellenbegriffs, wonach im Prinzip jeder, der
sich artikuliert, imstande ist, Recht zu produzieren – „auch die Schlange, die
vor einem öffentlichen Amt sich bildet“ (S. 15).
Hannover Stephan
Meder
[1] Vgl. Paolo Grossi, Globalizzazione e pluralismo giuridico, in: Quaderni
fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno, 2000, S. 551-558; Grossi,
Paolo, Globalizzazione, diritto, scienza giuridica, in: Il foro italiano:
raccolta di giurisprudenza civile, commerciale, penale, amministrativa, Bd. 127
(2002), S. 152-164; Grossi, Paolo, L’ordine giuridico medievale, 11. Auflage
(2004).
[2] In
jüngerer Zeit ist der Begriff „Rechtsquelle“ wiederholt auf Kritik gestoßen
(vgl. etwa Peter Häberle, Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik,
1996, S. 513f.). Dagegen betont Grossi mit überzeugenden Argumenten die Leistungsfähigkeit
dieses Begriffs gerade auch vor dem Hintergrund eines gewandelten Verhältnisses
von Staat und Gesellschaft (vgl. die Nachweise zur aktuellen Diskussion S. 77 -
bei Note 19).
[3] Vgl.
dazu Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, S. 3f., 64ff., 170ff.
Dabei hat Savigny auch versucht, eine Antwort auf die - heute drängende - Frage
zu geben, wie unter den Bedingungen von Rechtsquellenpluralismus (und
fortschreitender Oralität) an der Idee des Positivismus noch festgehalten
werden kann (Meder, S. 153, 183).