Grossi, Paolo, L’ordine giuridico medievale, 11. Auflage. Laterza,
Rom 2004. BII, 274 S. Besprochen von Stephan Meder.
„Wenn dieses Buch in die Hände eines Rechtshistorikers
geriete, dann würde ich nicht zögern, ihm zu raten, es unverzüglich beiseite zu
legen“ (S. 5). Denn es ist „keine erschöpfende Darstellung mittelalterlichen
Rechts, kein Behälter gefüllt mit Daten oder Angaben“, sondern der „Versuch des
Verstehens einer juristischen Erfahrung“ (S. 5, 24ff.). Gleich zu Beginn seiner
Einführung in die mittelalterliche Rechtsordnung stellt Paolo Grossi
klar, dass Recht keine bloße Ansammlung von Regeln ist, die von der höchsten
Staatsgewalt erlassen wurden, sondern sich in ihm vor allem Vorstellungen,
Ideen, Gedanken oder Gefühle der Menschen einer Epoche niederschlagen, welche -
in bewusster Anlehnung an die französische Annales-Schule - unter dem Stichwort
der „juristischen Mentalität“ erörtert werden (S. 6 f.).
Über die Mentalitätsgeschichte hinaus verbindet sich Grossis
Versuch des Verstehens der juristischen Erfahrung des Mittelalters mit einem
methodischen Anliegen, das auf den Begriffen von „Kontinuität“ und
„Diskontinuität“ beruht. In ausdrücklichem Gegensatz zu Autoren wie Friedrich
Carl von Savigny (1779-1861), Biagio Brugi (1855-1934) oder Salvatore Riccobono
(1864-1958) betont Grossi die Zäsur, die das mittelalterliche Recht
sowohl in Beziehung zum klassischen römischen als auch zum modernen Recht
bedeutet (S. 12). Zwar räumt Grossi ein, dass das Mittelalter durch das ius
commune maßgeblich geprägt wurde, welches sich bekanntlich vornehmlich aus
den Quellen des im Corpus iuris Justininans versammelten römischen
Rechts speiste. Die Annahme, mittelalterliches Recht sei im wesentlichen „modernisiertes
römisches Recht“ gewesen, wird jedoch als „antihistorisch“ charakterisiert und
mit Entschiedenheit verworfen (S. 11, 170). Grossi begreift das Recht
des Mittelalters als eine ganz selbständige Ordnung, die auf von der Antike
völlig verschiedenen „neuesten ökonomischen und sozialen Fakten der
mittelalterlichen Gesellschaft“ aufbaut (S. 11). Daraus ergeben sich auch
Folgen für die zeitliche Einteilung des Mittelalters: Grossi lehnt die
Unterscheidung zwischen frühem und hohem oder spätem Mittelalter zwar nicht ab,
hält sie mindestens aber für problematisch, weil dadurch die beiden Zeitspannen
vom 5. bis zur ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts und vom Ende des 11. bis zur
Wende zum 16. Jahrhundert als zu autonom, als zu getrennt erscheinen könnten (S.
28). Er betont den einheitlichen Charakter des Mittelalters und betrachtet die
beiden Zeitabschnitte nicht unter dem Gesichtspunkt der Diskontinuität, sondern
der Kontinuität (S. 127ff.).[1] Vor diesem
Hintergrund erscheint es konsequent, das frühere Mittelalter als fondazione
(Gründung oder erstes Mittelalter) und das spätere Mittelalter als edificazione
(Aufbau oder zweites Mittelalter) zu bezeichnen und das Werk in zwei Teile - in
„Gründung“ (S. 39-108) und „Aufbau“ (S. 109-253) „einer juristischen Erfahrung“
zu gliedern.
Als Hauptmerkmal des „ersten Mittelalters“ (primo
medioevo) nennt Grossi die Unvollkommenheit politischer Herrschaft
(S. 40, 41ff.). Damit ist das politische Vakuum gemeint, welches auf die Krise
und den Zusammenbruch des römischen Staates folgte. Die mittelalterliche
Gesellschaft habe zu keiner Zeit danach gestrebt, dieses Vakuum durch die
Errichtung einer neuen Zentralgewalt zu füllen (S. 44, 146ff.).[2] Weder das
Königreich der Langobarden in Italien noch das der Westgoten in Spanien lasse
sich als „Staat“ qualifizieren (S. 45, 49). In der Abwesenheit des Staates
liege letztlich der Grund für die relative Gleichgültigkeit der politischen
Herrschaft gegenüber dem Recht und für dessen Autonomie (S. 50ff.). In diesem
Zusammenhang erwähnt Grossi auch das Phänomen des Vulgarrechts, welches
er als nichtstaatliches oder außerstaatliches Recht begreift (S. 53). Ein
weiteres Merkmal mittelalterlichen Rechts sei seine besondere Faktizität (S.
56ff., 178f.): Ein Recht, das aus dem Zusammenbruch eines staatlichen Gebildes
hervorgehe, entstehe von unten - es sei an konkrete Geschehensabläufe,
wirtschaftliche Ereignisse, soziale Situationen und gelebte Praxen gebunden,
wobei es Grossi nicht versäumt, wiederholt auf die wichtige Rolle des
Notariats sowohl für die „Gründung“ als auch für den „Aufbau“ der
mittelalterlichen Rechtsordnung hinzuweisen (z. B. S. 37, 61, 193 ff., 245).
Hinzu komme der für abwesende oder lediglich schwach ausgebildete staatliche
Strukturen typische Rechtsquellenpluralismus, welcher sich im Mittelalter
dadurch auszeichne, dass Gesetzesrecht in Form von leges,
Gewohnheitsrecht, gemeinem Recht (ius commune), Partikularrechten oder
kirchenrechtlichen Regelungen mehr oder weniger unverbunden nebeneinander
bestehen (S. 52 ff., 64 ff.).
Einen eigenen Abschnitt widmet Grossi der
zentralen Rolle, welche der Gewohnheit innerhalb des mittelalterlichen Rechts
zukommt (S. 87-93). Überzeugend wird dargelegt, dass die Grenzen zwischen den leges
scriptae und der lex non scripta fließend waren und dass sich gerade
auch die Stammesrechte als Wahrer von Gewohnheiten verstanden haben: „Die
Gewohnheit ist ein potentielles Gesetz und das Gesetz eine bestätigte und
systematisierte Gewohnheit, beide in einem Zustand beständiger Osmose“ (S. 90).
Wie bereits erwähnt, verfolgt Grossi nicht das Ziel, einen Überblick
über das im Mittelalter geltende Recht zu geben. Die Darstellung einzelner
Regelungskomplexe, Rechtsinstitute und dogmatischer Problemlösungen oder
Konstruktionen fällt daher eher knapp aus. Die Beispiele sind ausschließlich
dem Privatrecht entnommen und im wesentlichen auf Eigentum und Vertrag
beschränkt (S. 7, 98-108, 172, 193, 238-251).
Die Darstellung des „Aufbaus“ - des „zweiten
Mittelalters“ (secondo medioevo) steht zwar ganz im Zeichen der Kontinuität
(S. 127ff.). Doch unterlässt es Grossi nicht, auch auf die Unterschiede
zwischen den beiden Zeitabschnitten aufmerksam zu machen: Wegen der veränderten
wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten verstärkt sich die Nachfrage nach
Recht, die durch die überkommenen gewohnheitsrechtlichen Instrumente nicht mehr
zu decken war (S. 152, 155). Mit der Rezeption des römischen Rechts durch die
Glossatoren und Kommentatoren gewinnt das „Gesetz“ so stark an Bedeutung, dass
in der Fachliteratur schon vom Anbruch einer „Epoche der Legalität“ gesprochen
wurde (S. 144, 228). Grossi hat gegen diese Formulierung im Prinzip
nichts einzuwenden, warnt aber vor der Gefahr, heutige Vorstellungen über die
Gesetzgebung auf eine vergangene Epoche zu übertragen. Man müsse sich darüber
im klaren sein, dass Legalität im Mittelalter etwas ganz anderes bedeutet hat
als heute. Denn auch unter den veränderten Bedingungen des 12. und 13.
Jahrhunderts zeigte die politische Herrschaft wenig Interesse an der Produktion
von Recht (S. 135). Auch das „zweite Mittelalter“ sei durch ein Vakuum der
Staatsgewalt und einen Pluralismus der Rechtsquellen gekennzeichnet. Die um die
Wende zum 12. Jahrhundert einsetzende Dynamik der Lebensverhältnisse machte es
zur Aufgabe der Wissenschaft, auf Grundlage von Justinians Gesetzeswerk dieses
Vakuum auszufüllen. Das wichtigste Instrument sei dabei die interpretatio
gewesen und Grossi beschreibt, wie die mittelalterlichen doctores
mit Hilfe von Analogie, aequitas, regulae iuris und actiones
utiles die „leere Vase“ (S. 169, 172, 238 passim) des justinianischen
Rechts mit neuen Inhalten zu füllen suchten (S. 162ff.). Die mittelalterlichen Juristen
waren also „Interpreten, und keine Exegeten“, sie waren „Mediatoren“, die
zwischen dem antiken Text und den Bedürfnissen der Gegenwart vermittelten - die
keinen Moment zögerten, „den Text im Namen der Ansprüche des Lebens zu
forcieren“ (S. 200).
Abgerundet wird die Darstellung durch zwei Abschnitte über
die Rolle der Kirche (S. 109ff., 203ff.), von denen vor allem die Ausführungen
zur aequitas canonica (S. 210ff.) und zur Korporationstheorie der
Kanonisten (S. 219ff.) hervorzuheben wären. Hinzu kommt ein Kapitel über den „Rechtspluralismus
im späten Mittelalter (S. 223ff.), in dem noch einmal die Frage aufgeworfen
wird, ob und in welchem Sinne unter den Bedingungen eines Rechts ohne Staat das
ius commune überhaupt als „legislatives System“ und die Glossatoren oder
Kommentatoren als „Legisten“ bezeichnet werden dürfen. Im Schlusskapitel werden
dann noch einige Rechtsbildungen des „zweiten Mittelalters“ untersucht, wobei
vor allem die Ausführungen zum „geteilten Eigentum“ (S. 238ff.) und zur Frage
der rechtlichen Anerkennung der pacta nuda (S. 246ff.) auf Interesse
stoßen dürften.
Grossis Werk
beruht auf einigen Prämissen, über die sich diskutieren ließe. Dazu gehört die
Frage, ob die Glossatoren das justinianische Recht tatsächlich als eine Art
„leerer Vase“ betrachtet oder gar bereits eine frühe Form der ,freien Rechtsfindung’
praktiziert haben. Zu fragen wäre etwa auch, ob es zutrifft, das „erste“ und
das „zweite Mittelalter“ vornehmlich unter Gesichtspunkten der Einheitlichkeit
zu erörtern oder ob der Akzent nicht stärker auf die Unterschiede dieser beiden
Zeitabschnitte zu legen wäre. Diese Fragen können nicht isoliert beantwortet,
sondern müssen im größeren Zusammenhang mit Vorstellungen über antikes und „modernes“
Recht sowie dessen Auflösungserscheinungen gesehen werden, die Grossi in
anderen Schriften eingehender untersucht hat. So erkennt Grossi, dass
der moderne Nationalstaat im Zuge fortschreitender Globalisierung und
unzureichender Finanzierung gewissen Erosionen unterliegt, in deren Folge eine
Rechtsquellensituation entstanden ist, die den mittelalterlichen Zuständen in
mancher Hinsicht näher steht als der durch die Moderne und insbesondere durch
das Kodifikationsprinzip bewirkten Zäsur. Die neuesten Tendenzen, meint Grossi,
sind einer „juristischen Erfahrung“ entsprungen, die auf Gemeinsamkeiten mit
den Rechtsquellensystemen von ius commune und common law schließen
lassen.[3]
Sehr zu Recht hat Grossi die Gemeinsamkeiten von
Rechtsquellensituationen verschiedener Epochen unter dem Stichwort der
Kontinuität erörtert. Zugleich zeigt dieser
Sprachgebrauch aber auch an, dass die Leistungsfähigkeit von Begriffen wie
Kontinuität und Diskontinuität nicht überschätzt werden sollte. Für sich
genommen und ohne Bezug auf konkrete Gegenstände sind auch sie nicht mehr als
„leere Vasen“, die je nach Perspektive des Betrachters mit verschiedenen
Inhalten gefüllt werden können. So ließe sich etwa das Aufkommen der „Stadtbürgerschaft“
(Max Weber) im hohen Mittelalter als revolutionäre Neuerung unter dem
Gesichtspunkt der Diskontinuität betrachten. Mit Blick auf die „abwesende“ oder
jedenfalls nur schwach ausgebildete Staatlichkeit sowohl des „ersten“ als auch
des „zweiten Mittelalters“ mag es andererseits gerechtfertigt erscheinen, den
Akzent mehr auf die Einheitlichkeit und damit auf Kontinuität zu legen. Es ist
also nicht ungewöhnlich, wenn der gleiche Sachverhalt sowohl unter Gesichtspunkten
von Kontinuität als auch von Diskontinuität betrachtet wird. Dies gilt
insbesondere auch für die modernen Kodifikationen, und zwar nicht nur für ihre
Entstehungsgeschichte, sondern auch für ihre Wirkungsgeschichte.[4] Ähnlich müssen
in Bezug auf Savignys Aussagen über das „heutige römische Recht“ (z. B. S. 11 -
bei Note 4) bestimmte geistesgeschichtliche Zusammenhänge berücksichtigt
werden. Hintergrund ist der erbitterte Kampf gegen die Naturrechtsschule,
welcher Savigny dazu veranlasste, den Aspekt der Kontinuität stärker in den
Vordergrund zu rücken. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass er die
Unterschiede zwischen Antike, Mittelalter und Moderne verkannt hätte, wie auch Grossi
die Unterschiede zwischen „erstem“ und „zweitem Mittelalter“ trotz seiner
Annahme von Kontinuität nicht übersehen hat.
Durch diese flüchtigen Bemerkungen zum aktuell unter
Rechtshistorikern so lebhaft diskutierten Thema „Kontinuität und
Diskontinuität“ erfährt die Überzeugungskraft von Grossis Studie keine Einschränkungen.
Es bleibt festzuhalten, dass Paolo Grossi ein bedeutsames, in vieler
Hinsicht originelles und flüssig geschriebenes Werk über die mittelalterliche
Rechtsordnung vorgelegt hat, welches auch im deutschen Sprachraum jene
Aufmerksamkeit verdient, die ihm in Italien längst zuteil wurde.
Hannover Stephan
Meder
[1] Grossi begibt sich damit, ohne es offen auszusprechen, in Gegensatz
zu einigen Autoren, die das 11. Jahrhundert als tiefen Einschnitt in die
europäische Kultur oder gar als Neubeginn oder Revolution betrachten (vgl. nur Harold
J. Berman, Law and Revolution. The Formation of the Western Legal
Tradition, 1983, dt. 1991; dazu und zu den Anleihen Bermans bei Eugen
Rosenstock-Huessy (1888-1973) und Max Weber (1864-1920): Hubert
Treiber, Am Anfang war das Recht, in: Soziologische Revue 1993, S.
113-124).
[2] Auf einem gänzlich verschiedenen Standpunkt steht etwa Heinrich Mitteis
(1889-1952), der meint, im Mittelalter werde „der Grund gelegt zur europäischen
Staatenwelt, in ihr wird die Bahn bestimmt, in der sich ihre Bildung fast
zwangsläufig bis zur Neuzeit bewegen musste“ (Der Staat des hohen Mittelalters.
Grundlinien einer vergleichenden Verfassungsgeschichte des Lehnszeitalters
[1940], 9. Auflage 1974, S. 1).
[3]Vgl. Paolo Grossi, Quaderni fiorentini 2000, S. 551, 556; ders.,
Prima lezione di diritto, 2003, S. 64. Dazu näher: Stephan Meder, Die
Krise des Nationalstaates und ihre Folgen für das Kodifikationsprinzip, in: JZ
2006, S. 477-484.
[4] Dies hat Klaus Luig am Beispiel des BGB (und anderer
Kodifikationen) überzeugend dargelegt, vgl. Kodifikation und Kontinuität, in:
ZNR 2001, S. 303-307. Aus Sicht von Grossi bilden die Kodifikationen
dagegen den Prototyp modernen Rechts; er betrachtet die Moderne ausschließlich
unter dem Gesichtspunkt der Diskontinuität, weil das Mittelalter zu keiner Zeit
danach gestrebt habe, das Recht auf Grundlage von umfassender Gesetzgebung zu
vereinheitlichen, zu monopolisieren und mit staatlichem Recht konkurrierende
Rechtsquellen soweit wie möglich auszuschalten (S. 154f.).