Gewohnheitsrecht – Rechtsprinzipien – Rechtsbewusstsein. Transformation der Rechtskultur in West- und Osteuropa. Interdisziplinäres Symposion an der Universität Münster, hg. v. Krawietz, Werner/Sproede, Alfred (= Rechtstheorie 35 [2004], Heft3/4 Sonderheft Russland/Osteuropa). Duncker & Humblot, Berlin 2006. Ausschlagtafel, XXI, 394 (= 289-680) S. Besprochen von Herbert Küpper.

 

Der westliche Jurist schwankt, wenn er das Rechtsleben des heutigen Russlands betrachtet, zwischen dem Wiedererkennen vertrauter Phänomene und dem Staunen über eine offensichtliche Andersartigkeit. Vertraut sind ihm die großen Kodices mit ihrer westeuropäisch anmutenden äußeren Gestalt oder das Institutionengefüge der Rechtsprechung, während zahlreiche weiche Faktoren der Rechtskultur wie die Rolle des Rechts bei der Bewältigung von Alltag und Wirtschaft oder der Status der Juristen ihm fremd anmuten. Dieses aus westlicher Sicht widersprüchliche Bild lässt sich nur in historischer Perspektive ausreichend erfassen. Eine solche Perspektive versuchte ein interdisziplinäres Symposion an der Universität Münster im Jahre 2004; das vorliegende Werk ist die Zusammenstellung der Ergebnisse dieses Symposions. Für den Rechtswissenschaftler von besonderem Interesse ist die Tatsache, dass die Tagung sich den Eigenheiten der russischen Rechtskultur – die übrigen Rechtssysteme Osteuropas werden nur am Rande behandelt – aus kulturwissenschaftlicher Perspektive nähert. Die wenigsten Beiträge des Sammelbandes stammen daher aus der Feder von Rechtswissenschaftlern, sondern es befassen sich vor allem Osteuropa-Historiker und Slawisten mit den Kontinuitäten und Brüchen der russischen Rechtskultur von der Europäisierung der Justiz im Zarenreich im 19. Jh. über die sowjetische Zeit bis hin zum heutigen russischen Recht unter Transformations- und Posttransformationsbedingungen. Dadurch gelingt eine Einbettung der Rechtskultur in einen allgemeinen kulturell-historischen Kontext, der der im Rahmen der Ostrechtswissenschaft hinreichend gepflogenen russisch-sowjetischen Rechtsgeschichte – an dieser Stelle sei statt vieler nur F.J.M. Feldbrugge erwähnt – weitere Facetten hinzufügen und über den engeren Gegenstand der osteuropäischen Rechtsgeschichte hinausgehend dem historisch arbeitenden Rechtswissenschaftlicher neue methodische und inhaltliche Anstöße für sein Arbeiten vermitteln kann.

 

Die Beiträge sind in fünf Kapiteln angeordnet, deren inhaltliche Stringenz zwar hinterfragt werden kann, die dem Leser aber dennoch eine hinreichende Orientierung zu geben vermögen. Im ersten Kapitel mit dem Titel „Rechtsordnung und soziale Kontrolle“ untersucht einleitend Eva-Maria Auch die Implementierung des russischen Rechts im Kaukasus im Zuge der russischen Südexpansion. Hier wurden zwei einheimische Rechtsschichten (Adat und islamisches Recht) mit dem Recht der neuen russischen Herren konfrontiert, und die Durchsetzung des letzteren ist ein Lehrstück über den europäischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts unter den besonderen Bedingungen zaristischer Herrschaft. Der anarchistische Terror war nicht zuletzt für Zeitgenossen eines der auffälligsten Phänomene der politischen Kultur des späten Zarenreichs. Mit dessen juristischer Aufarbeitung beschäftigt sich Lothar Maier anhand der Memoiren von Vera Figner. Es wird deutlich, dass die für das russische Denken typische Dichotomie von Recht und Gerechtigkeit auch das Denken der der orthodoxen Tradition fern stehenden Revolutionäre prägte, was sich später in der Sowjetunion fortsetzen sollte. Frances Nethercott schließlich untersucht das Scheitern der liberal inspirierten Strafrechtsreformen des 19. und frühen 20. Jh. unter den Bedingungen einer Gesellschaft, die westeuropäische Strafmodelle noch nicht tragen konnte. Dieser Beitrag ist zugleich ein Beispiel dafür, dass die Untersuchung rechtlicher Entwicklungen durch Nichtjuristen durchaus problematisch sein kann. So zeichnet Nethercott den Wandel in der Auffassung von Strafen vom privaten Delikt über mehrere Zwischenstufen hin zum Verstoß gegen eine staatliche Willensäußerung durchaus korrekt nach (S. 339). Durch die Konzentration auf Russland erweckt der Beitrag allerdings den Eindruck, diese Entwicklung sei ein russisches Spezifikum, hervorgerufen durch die Besonderheiten der Sozialentwicklung unter den Zaren; er übersieht in Ermangelung einer breiteren juristischen Einbettung, dass es sich hierbei um eine gemeineuropäische Entwicklung handelt, deren russisches Spezifikum allenfalls in einer zeitlichen Verzögerung gegenüber Westeuropa zu sehen ist.

 

Das zweite Kapitel trägt den Titel „Sprache, juristische Rhetorik und rechtliche Kommunikation“. Die Wechselwirkung von politischer Umgebung und Prozessgeschehen im Strafverfahren untersucht Elena Kantypenko. Sie analysiert die Plädoyers von Strafverteidigern, deren besondere Rolle sich daraus ergibt, dass seit den liberalen Justizreformen von 1864 die Einschränkungen der Redefreiheit und der Zensur für den Gerichtssaal nicht galten. Daher stellten das gerichtliche Plädoyer sowie dessen anschließende Veröffentlichung in der Presse die einzige Möglichkeit im Zarenreich dar, Missstände und Verantwortliche beim Namen zu nennen. Sigrid G. Köhler behandelt methodische Fragen des Verfahrensbegriffs als Schnittstelle zwischen Recht und Literatur. Sie bedient sich hierzu des Beispiels von Döblin und der Strafrechtspflege in der Weimarer Zeit; Aussagen zu Russland enthält dieser Beitrag nicht. Christina Schindler konzentriert ihre Untersuchung auf die Herausgabe von Argot-Wörterbüchern in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland und weist nach, dass hierbei weniger sprachwissenschaftliche, sondern vor allem kriminalpolitische Aspekte von Belang sind.

 

Im dritten Kapitel „Rechtsbewußtsein und Rechtskultur in vergleichender Perspektive“ will der Beitrag von Georg Schomacher eingangs Verständnis für die von Westeuropa verschiedene Rechtskultur Russlands wecken. Hierzu geht der Autor von den Begriffen „Geschichte“, „Mentalität“ und „Recht“ aus und schlägt einen zeitlichen Bogen von der frühen Neuzeit bis heute. Der folgende Beitrag von Alfred Sproede konzentriert sich auf den Begriff der pravosoznanie, den man mit Rechtsbewusstsein übersetzen kann. Anhand der Begriffsgeschichte von zaristischen über sowjetische bis zu heutigen Zeiten zeigt Sproede Schlaglichter russischen rechtstheoretischen Denkens auf und ermöglicht so einen Einblick in für westliche Juristen nach wie vor fremde Denkstrukturen. Prägnant bringt der Beitrag den Hauptunterschied auf den Punkt: Während in Deutschland „Rechtsbewusstsein“ der Romantik nahe steht und damit einen antiaufklärerischen Impetus hat, beginnt dieser Begriff im Zarenreich als Konzept westlich orientierter Modernisierer, die ihn der slawophilen Bevorzugung einer individuell-konkret – zunächst religiös-orthodox, nach der Revolution politisch-marxistisch – definierten Gerechtigkeit vor formellen, abstrakt-generellen Rechtsregeln entgegenhalten. Auch der dieses Kapitel schließende Beitrag Edward M. Swiderskis beleuchtet das Verhältnis von vorsozialistischen Traditionen und Modernität bei der Schaffung der postsozialistischen Gesellschaft und zeigt so exemplarisch auf, wo sich russisches und westliches Denken unterscheiden.

 

Das vierte Kapitel widmet sich der Frage, ob und in welchem Maße die vorrevolutionären liberalen Ansätze bei der Modernisierung der postsozialistischen russischen Staats- und Rechtstheorie zur Anwendung kommen. Pius Frick greift exemplarisch das Eigentum heraus, um anhand dessen politischen und ideologischen – allerdings weniger rechtlichen – Aspekten im Werk Lev Petražickijs Wandel und Zukunftsfähigkeit des Rechtsdenkens des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Die Andersartigkeit des russischen Rechtsdenkens zeigt der Beitrag des Mitarbeiters der Russländischen Akademie der Wissenschaften, Leonid S. Mamut, der Thesen zum Begriff des Rechts im Kontext der Sozialstaatslehren aufstellt. Ausgehend von der Unterscheidung von „Recht“, das als subjektives Recht durch Gegenleistungen begründet und legitimiert werde, und „Anspruch“, den das objektive Recht gewähre, ohne dass vom Inhaber eine Gegenleistung erwartet werde, und der daher der inneren Legitimation entbehre, kommt Mamut zu dem Schluss, auf Sozialhilfe gebe es kein Recht, sondern höchstens einen – moralisch eher zweifelhaften – Anspruch des Einzelnen aufgrund entsprechender Gesetzesstellen. Unausgesprochen folgt Mamut den Schemata des vorrevolutionären russischen und des sowjetischen Denkens, das der Gerechtigkeit (in diesem Fall von Mamut als „Gegenleistung“ definiert) den Legitimations- und letztlich den Geltungsvorrang vor dem staatlich angeordneten Recht einräumt. Im Bereich des Sozialrechts verbleibt der folgende Beitrag Nikolaj Plotnikovs, der die Begriffsgeschichte des „menschenwürdigen Daseins“ vom vorrevolutionären russischen Liberalismus bis zum heutigen Sozialstaatsbegriff in der russländischen Verfassung nachzeichnet. Abschließend diskutiert Anita Schlüchter, was ein zaristischer Rechtspositivist wie Gabriėl Feliksovič Šeršenevič zur heutigen Rechtsstaatsdiskussion beitragen könnte – „könnte“ deshalb, weil heute in Russland vor allem auf die idealistisch geprägten vorrevolutionären Strömungen zurückgegriffen wird. Der Beitrag endet mit der interessanten Betrachtung, dass die von Šeršenevič vertretenen Werte heute vor allem durch den Kriminalroman in der russischen Bevölkerung verbreitet werden.

 

Das fünfte und letzte Kapitel ist der „Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung jenseits des konventionellen Rechtspositivismus“ gewidmet. Es wird eingeleitet durch einen Beitrag von Werner Krawietz, der allgemeine, d. h. nicht speziell auf Russland bezogene rechtstheoretische Betrachtungen zu neueren Erkenntnissen zu Gemeinschaft und Gesellschaft anstellt. Zutreffend betont er, dass Modernisierung und Globalisierung nicht zu einer universalen Rechtskultur führen – was nicht zuletzt durch die Betrachtung der russischen Rechtskultur deutlich wird. Auch für Rechtsnormen und Rechtsordnungen ist und bleibt das soziale System, aus dem sie entstammen und in dem sie bestehen, bestimmend: Durch dieses System werden sie zur Rechtskultur. Der folgende Beitrag von Raul Narits hat als einziger eine nichtrussische osteuropäische Rechtsordnung zum Gegenstand: die estnische. Narits verortet das estnische Recht im kontinentaleuropäischen Rechtskreis und entwirft so am estnischen Beispiel eine westliche Rechtskultur, die sich in zentralen Punkten von der russischen Rechtskultur unterscheidet. Der Abbau des sowjetischen Rechtserbes ist für Estland damit zugleich eine Rückkehr zu den Wurzeln der eigenen Rechtskultur, die über die reine Kontinuität zwischen Erster und Zweiter Estnischer Republik hinausgeht. In vielen Punkten ist eine Anknüpfung an den Stand von 1940/44 nicht mehr möglich, wie Narits am Beispiel der juristischen Methodenlehre zeigt. Eine echte Rückkehr zu den kontinentaleuropäischen Wurzeln bedeutet für die estnische Rechtskultur daher nicht die Wiedereinrichtung des Positivismus der Zwischenkriegszeit, sondern die Rezeption der Wertungsjurisprudenz, die in den vom Kommunismus verschont gebliebenen kontinentaleuropäischen Rechten in der Zwischenzeit entwickelt worden ist. Der abschließende Beitrag aus der Feder Martin Schultes hat noch einmal allgemeine rechtstheoretische Fragen zum Gegenstand. Er diskutiert die Frage von Geltung und Wirksamkeit von Recht vor dem Hintergrund der zwei Diktaturen in Deutschland und dem nachträglichen Umgang mit den von ihnen gesetzten Rechtssätzen durch die Gerichte der Bundesrepublik.

 

Insgesamt ermöglicht der vorliegende Band einen vertieften, allerdings wegen des punktuellen Charakters der Einzelbeiträge keinen umfassenden Einblick in die russische Rechtskultur. Hervorzuheben ist der kulturwissenschaftlich-historische Bezugsrahmen, der dem rechtswissenschaftlich gebildeten Leser zahlreiche neue Erkenntnisse und Denkanstöße vermitteln kann. Hierzu tragen auch die zahlreichen rechtstheoretischen Aufsätze bei, die das notwendige Rüstzeug liefern.

 

München                                                                                                                   Herbert Küpper