Gewalt in der frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft frühe Neuzeit im VHD, hg. v. Ulbrich, Claudia/Jarzebowski, Claudia/Hohkamp, Michaela (= Historische Forschungen 81). Duncker & Humblot, Berlin 2005. 408 S. Besprochen von Arne Duncker.

 

In den vergangenen fünfzehn Jahren hat das Interesse an der geschichtswissenschaftlichen Erfassung von Gewaltphänomenen spürbar zugenommen, nicht nur hinsichtlich der traditionellen Verknüpfung von Gewaltverhältnissen mit Herrschafts- und Widerstandsrechten, sondern auch im Zusammenhang mit neuen Fragestellungen der Sozialgeschichte, Volkskunde und Geschlechtergeschichte, aus rechtshistorischer Perspektive auch in Verbindung mit historischer Kriminalitätsforschung. Vor diesem Hintergrund veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit am 18.-20. September 2003 an der Freien Universität Berlin eine thematisch in sechs Sektionen gegliederte Tagung zum Thema „Gewalt in der Frühen Neuzeit“, deren Beiträge - es handelt sich insgesamt um 31 Aufsätze - im vorliegenden Band versammelt sind. Wenngleich die Frage nach Gewalt, potestas und violentia notwendig die Fragen nach Recht und Legitimation nach sich zieht (vgl. nur S. 11-13, 161f., 177-180, 261, 271, 291, 307), handelt es sich bei den Verfassern der Beiträge bedingt durch den Entstehungszusammenhang der Berliner Tagung weniger um Rechtshistoriker, sondern vorwiegend um Vertreter anderer Zweige der Geschichtswissenschaft.

 

Der erste Abschnitt „Massaker in der Frühen Neuzeit“ befasst sich mit massiven gewalttätigen Aktionen großen Umfangs gegen Unterlegene oder Wehrlose im Zusammenhang mit der Ausübung oder Sicherung politischer Macht. In einem einleitenden Beitrag (S. 15-19) beschreibt Medick u. a. die Begriffsgeschichte der Wörter Massacre und Massaker. Sodann untersuchen Burschel und Crouzet zwei zentrale Gewaltexzesse der frühneuzeitlichen europäischen Geschichte: die zurecht als Massaker gewertete Schlacht bei Frankenhausen von 1525 anhand einer zeitgenössischen Flugschrift des Johann Agricola (S. 21-31) sowie königliche und „religiöse“ Gewalt im Massaker der Bartholomäusnacht 1572 (S. 33-58) unter dem Gesichtspunkt der Beteiligung oder Nichtbeteiligung Karls IX. Weitere Beiträge behandeln Gewalt und Massaker im Kontext der überseeischen Kolonisierung: Büschges (S. 59-71) analysiert Massaker während der spanischen Eroberung Mexikos und Krieger (S. 73-81) Massaker und koloniale Staatsgewalt in Indien, wobei er teilweise über die Frühe Neuzeit hinausgehend exemplarisch neben den von den Engländern insgesamt friedlich geschlichteten Kastenunruhen in Madras 1707 auch das Massaker von Amritsar 1919 auswertet: diese beiden Ereignisse markieren für ihn Anfangs- und Endpunkt einer Entwicklung, in der sich das Verhältnis der kolonialen Obrigkeit zur Ausübung physischer Gewalt als politisches Mittel grundlegend wandelte (S. 80).

 

In der zweiten Sektion wird Gewalt im Kontext politischer Ideale und sozialer Leitbilder behandelt. Auf Loetz’ einleitenden nicht sehr überzeugenden Versuch einer genaueren Begriffsbestimmung (S. 84: „,Politische Ideale’ und ,soziale Leitbilder’ freilich sind unpräzise Kategorien. Dennoch erfüllen sie hier ihren Zweck.“) folgen vier im besten Sinne weiterführende Beiträge. Zunächst untersucht Lindemann unter dem Titel „Gewalt und Bürgerlichkeit: Hamburg und Amsterdam in vergleichender Perspektive“ (S. 87-99) historische Mordfälle, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert zur strafrechtlichen Aburteilung kamen, wobei während einiger der Kriminaluntersuchungen die Folter angewendet worden war. Füssel (S. 101-116) beschäftigt sich in einem hervorragend aus den Quellen erarbeiteten und mit Fallbeispielen illustrierten Beitrag mit sozialen Leitbildern in akademischen Initiationsriten der Frühen Neuzeit. Dabei versäumt er es nicht, auf die „akademische Logik der Gewalt“ einzugehen (S. 111-116), welche er wohl zutreffend in der symbolischen Übermächtigung des zu Unterwerfenden sieht, dabei die Funktion für die autonome Binnenhierarchisierung ständischer Körperschaften charakterisiert und die Unterwerfung unter körperliche Gewalt als Element eines Männerbundes beschreibt. In seinem Aufsatz „Frugalität und Virilität. Zur Mythisierung kriegerischer Gewalt im republikanischen Diskurs in der Schweiz des 18. Jahrhunderts.“ (S. 117-130) analysiert Holenstein Darstellungen eidgenössischer Geschichte und eidgenössischer Tugenden durch Schweizer Autoren des 18. Jahrhunderts. Kümin (S. 131-139) beschäftigt sich in einer kriminalgeschichtlich aufschlussreichen Abhandlung mit Gewalttaten in Wirtshäusern.

 

Sektion 3 („Gewalttätigkeit und Herrschaftsverdichtung“) behandelt gewaltsame Akte in Kriegs- und Besatzungszeiten sowie die Regulierung städtischer Konflikte. Auf einen einleitenden Beitrag Carls (S. 141-143) folgt Kormanns Untersuchung „Violentia, Potestas und Potential“ über Gewalt in Selbstzeugnissen von Mönchen und Nonnen des Dreißigjährigen Krieges (S. 145-154) mit guten weiterführenden Quellenbezügen. Physische Konflikte zwischen schwedischem Militär und Einwohnern der damals schwedischen Territorien Vorpommern und Bremen-Verden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind Gegenstand von Lorenz’ Beitrag (S. 155-172), der teilweise einem in Arbeit befindlichen Habilitationsprojekt entstammt (vgl. S. 157, Fn. 9), in welchem auch die militärrechtliche Seite noch in Einzelheiten verarbeitet werden wird. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Legitimität damaliger Gewalt bei militärischer Besetzung erfolgt sodann bei Meumann (S. 173-187) unter Einbeziehung der damaligen kriegsvölkerrechtlichen Lehren (S. 183 f.). Mit „Stadtfrieden“ in Deutschland und der Schweiz im 15.-18. Jahrhundert zwischen bürgerlicher und obrigkeitlicher Regelung befasst sich Eibach (S. 189-205). Er beschreibt unterschiedliche Wege der Gewaltausübung durch Bürger in privaten und öffentlichen Angelegenheiten und kommt grundsätzlich zu dem Ergebnis, dass mit der Waffenausrüstung auch die tatsächliche Gewaltausübung und Friedenskontrolle nach und nach den Bürgern entzogen wird und in die Hände von Söldnern oder Stadtwächtern gelangt, die als berufsmäßiges Sicherheitspersonal von der städtischen Obrigkeit bezahlt und befehligt werden. Dieser Beitrag liefert sicherlich wichtige Erklärungsansätze für zukünftige regionale und überregionale rechtshistorische Untersuchungen zur städtischen Verfassungsgeschichte.

 

Sektion 4 behandelt Optionen und Beilegung zwischenstaatlicher Gewalt in der Frühen Neuzeit. Zur Einführung verweist Schulze auf politische Tendenzen zur Verringerung der Zahl von Herrschaftsträgern, verbunden mit gewaltsamer Arrondierung von Territorien, Kriegen und der Herausbildung von „Spielregeln“ (S. 208) in Gestalt eines neuen Völkerrechts, ferner auf die Eindämmung innergesellschaftlicher und innerstaatlicher Gewalt u. a. durch Fehde- und Duellverbot unter gleichzeitiger Kräftigung der staatlichen Zentralgewalt und herrscherlichen potestas. Wolf untersucht in diesem Zusammenhang Ansätze der Forschung sowie die Praxis Bayerns und der Kurpfalz (S. 209-226). In seinem Aufsatz über Gewalt als Mittel staatlicher Expansion im Urteil der Aufklärungszeit (S. 227-235) zieht Schilling vorrangig deutsche und französische Quellen des 18. Jahrhunderts heran. Duchhardt (S. 237-243) beschreibt „Gewaltverhinderung als Ansatz der praktischen Politik und des politischen Denkens“: Friedensverträge, verpasste Möglichkeiten zur Entwicklung eines Systems kollektiver Sicherheit, das Fehlen wirklicher Abrüstungszusagen, das Fehlen eigener und neuer Gedanken zur Friedenssicherung bei den praktischen Politikern, andererseits aber Projekte zeitgenössischer Intellektueller zu Gewaltverzicht und ewigem Frieden. Die Rolle von Friedensvermittlung und Schiedsgerichtsbarkeit in frühneuzeitlichen Staatenkonflikten beleuchtet Kampmann (S. 245-259). Mit typischen politischen und nicht zuletzt auch juristischen Argumentationsmustern der damaligen Zeit zur Legitimation militärischer Gewalt befasst sich Pröves Aufsatz „Vom ius ad bellum zum ius in bello“ (S. 261-270).

 

„Interkulturelle“ Aspekte unter Einbeziehung muslimischer und indianischer Kulturen werden in Sektion 5 besprochen („Krieg und Recht in interkultureller Begegnung und Konfrontation: Mittelmeer und Atlantischer Raum in der Frühen Neuzeit“; vgl. Einleitung Schmidt, S. 271-273). Dies umfasst einen sehr lesenswerten Beitrag über Fälle von Mord, Raub und Bedrohung in Nordwestanatolien um 1760 (Faroqhi, S. 275-290, mit wertvollen Ansätzen zur türkischen Rechtsgeschichte, welche Anlass zu weitergehenden Forschungen bieten sollten), eine Untersuchung über Recht und Gewalt in den englisch-indianischen Beziehungen im Nordamerika des 17. Jahrhunderts (Häberlein, S. 291-305), einen Aufsatz über Krieg und Recht in den Auseinandersetzungen des spanischen Imperiums mit Muslimen und Indios im 16./17. Jahrhundert (Schmidt, S. 307-323) sowie unter dem Titel „Verrechtlichte Gewalt zwischen Muslimen und Christen“ eine Abhandlung zu den französischen und spanischen Beziehungen zum Maghreb (Windler, S. 325-339).

 

Die sechste und abschließende Sektion behandelt „Gewalt und Imagination“. Zur Einführung beschreibt Mommertz (S. 341f.) drei Ebenen im Verhältnis von Imagination und Gewalt: um Imaginationen von bzw. im Zusammenhang mit physischer Gewalt, um Handlungen und Kräfte, die nach heutigen Kriterien von Kausalität nicht als Gewalt gelten, aber in der Frühen Neuzeit als Gewalt erfahren und erlebt wurden („imaginative Gewalt“, z. B. aufgrund vermeintlicher Hexerei und Zauberei, vgl. dann S. 343-347), schließlich um Wechselbeziehungen zwischen den Gewaltformen der physischen, imaginierten physischen und imaginativen Gewalt. Das Konzept der „imaginativen Gewalt“ erläutert Mommertz sodann in einem grundlegenden Beitrag (S. 343-357). Weitere Beiträge behandeln die Imagination von Gewalt als Krankheitsursache in der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung (Bähr, S. 359-373), Gewaltdiskurse im Zusammenhang mit der irischen Rebellion von 1641 (Lotz-Heumann, S. 375-389) und eine mit mehreren Bildtafeln unterstützte Analyse von frühneuzeitlichen visuellen Quellen - u. a. Einblattdrucken des 16. Jahrhunderts - mit Berichten und Darstellungen gewaltsamer Handlungen (Rudolph, S. 391-408).

 

Leider enthält der Sammelband weder biblio- und biographische Anmerkungen zu den Autoren und Autorinnen noch ein Stichwortregister, was angesichts der umfangreichen Drittmittelförderung von Tagung und Publikation (vgl. Einleitung auf S. 14) sicherlich ohne Schwierigkeiten organisatorisch möglich gewesen wäre und wesentlich zu einer angemessenen Verbreitung und Aufschließung vieler lesenswerter Ergebnisse der einzelnen Untersuchungen beigetragen hätte.

 

Gewalt als historisches Phänomen ist fast immer auch ein rechtshistorisches Phänomen. Regelmäßig wird die Mehrzahl der Gewaltausübenden der Überzeugung sein, rechtmäßig, legitim oder doch mit der Aussicht auf Straflosigkeit zu handeln, und die Mehrzahl der Gewaltopfer und Geschädigten wird der Überzeugung sein, unrechtmäßige Gewalt zu erleiden. Aus rechtshistorischer Sicht stellen sich hier die Fragen, wie im jeweiligen historischen Umfeld die rechtmäßige Ausübung von Gewalt zu definieren ist und wer sie definiert. Fragen dieser Art haben einst in Grotius’ Werk zur Grundlegung des neuzeitlichen Völkerrechts beigetragen (was im vorliegenden Band nicht unerwähnt bleibt, vgl. nur Pröve, S. 264). Aus spezifisch rechtshistorischer Sicht vereinigt der Sammelband einige durchaus im engeren Sinne rechtshistorisch relevante Beiträge und eine Reihe von gleichfalls lesenswerten Beiträgen zur Rechtstatsachenfoschung. Aus allgemeinhistorischer Sicht stellt die Tagung von 2003 und der mit ihr verbundene Sammelband einen nicht unbedeutenden Markstein in der Geschichte der deutschsprachigen historischen Gewaltforschung dar, indem in einer Momentaufnahme die unterschiedlichsten derzeit maßgeblichen Ansätze zur Erforschung von Gewalt in der Frühen Neuzeit versammelt worden sind. So ist ein in mehrfacher Hinsicht wertvolles Grundlagenwerk entstanden, dem eine angemessene Verbreitung zu wünschen ist und auf das zukünftige Forschungen regelmäßig zurückgreifen sollten.

 

Hannover                                                                                                         Arne Duncker