Gaul, Felix, Der Jurist Rudolf Isay (1886-1956). Ein verantwortungsbewusster Vermittler im Spannungsfeld zwischen dynamischer Rechtsschöpfung, ökonomischem Wandel und technischem Fortschritt (= Rechtshistorische Reihe 324). Lang, Frankfurt am Main 2005. 386 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Mit dem Werk Felix Gauls liegt nach den Untersuchungen von Günther Roßmanith: „Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung. Hermann Isay (1873-1938) (Berlin 1975) auch eine Darstellung des Lebens und Werkes von Hermann Isays Bruder über den in gleicher Weise in der Weimarer Zeit sehr bekannten Rudolf Isay vor. Gaul beschreibt zunächst das Leben und die Grundüberzeugungen Isays; Quelle hierfür ist die 1960 veröffentlichte Selbstbiographie Isays. Isay, geboren 1886 in Trier als Sohn eines Kaufmanns, schloss das Studium der Rechtswissenschaften in Bonn 1907 ab, wo er bei Zitelmann promovierte. Nach dem Assessorexamen trat er in die Anwaltspraxis seines Bruders Hermann ein, der er zusammen mit Eduard Reimer bis 1935 angehörte. Bereits 1910 veröffentlichte Isay das grundlegende, freirechtlich orientierte Werk: „Das Recht am Unternehmen“. Es folgte 1919/20 der zusammen mit seinem Bruder Hermann verfasste Kommentar zum Preußischen Allgemeinen Berggesetz (1. Halbband in 2. Auflage. 1999; von R. Isay neu überarbeitet). Grundlegend waren sein Kommentar zur Kartellverordnung von 1923 (Berlin 1925) und seine zahlreichen Abhandlungen zum Kartellrecht. Nach seiner Rückkehr aus der Immigration nach Brasilien (1933-1951) beteiligte er sich als Honorarprofessor der Universität Bonn intensiv an den Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung des neuen entstehenden Kartellrechts. Isay hatte sich die Entscheidung zur Rückkehr nach Deutschland nicht leicht gemacht; die These von der Kollektivschuld lehnte er entsprechend seiner persönlichen und ressentimentfreien Grundhaltung ab (S. 61ff.). Die rechtsphilosophischen, rechtsethischen sowie ökonomischen und sozialen Grundüberzeugungen Isays lassen sich mit Gaul dahin charakterisieren (S. 71ff.), dass er sich ausdrücklich zu den Lehren der Freirechtsschule bekannte (S. 180ff.) und von einer idealistischen, gemäßigten relativistischen Grundhaltung ausging. Seine rechtsethischen Überzeugungen entsprachen den Einzelelementen der Rechtsidee im Sinne Gustav Radbruchs (Gerechtigkeits-, Zweckmäßigkeits- und Rechtssicherheitselement, verbunden mit der Toleranzidee und dem Grundsatz der Menschlichkeit; S. 102ff.). Wirtschaftspolitisch stand er dem klassischen Wirtschaftsliberalismus nahe, modifiziert durch die Notwendigkeiten der Krisenzeit nach dem Ersten Weltkrieg (gebundene Wirtschaft), die seine zeitlebens kartellfreundliche Haltung bestimmten. Seine Methode zur Rechts- und Entscheidungsfindung beruht auf einer ebenfalls gemäßigten freirechtlich praktizierten Vorgehensweise (S. 147-213), wobei er sich der Pervertierungsanfälligkeit dieser Methode bewusst war, gegen die ihn jedoch seine formellen und materiellen Leitlinien schützten (S. 223ff.). Mit Recht weist Gaul darauf hin, dass die heute geltenden Grundsätze der Rechtsprechung und des herrschenden Schrifttums für die richterlichte Rechtsfortbildung mit den Lehren von Isay weitgehend übereinstimmten (S. 331).

 

Im dritten Teil seines Werkes behandelt Gaul die einflussreichsten „Rechtschöpfungsvorschläge“ und Gesetzentwürfe Isays und deren Auswirkungen auf die Rechtsentwicklung bis heute (S. 237-326). Für das Unternehmensrecht hat sich zwar die von Isay geforderte Anerkennung des Rechts am (auch am zusammengesetzten) Unternehmen nicht durchsetzen können. Jedoch ist die analoge Anwendung des kaufrechtlichen Gewährleistungsrechts auf den Unternehmenskauf mit der Schuldrechtsreform auch durch das Gesetz anerkannt worden (vgl. § 453 n. F.). Isays Vorschläge für eine ökonomisch sinnvolle Verwertung des Unternehmens als Befriedigungsmittel waren in den Vorentwürfen (wiedergegeben bei W. Schubert [Hg.], Quellen zur Zivilprozessreform in der Weimarer Zeit, Frankfurt am Main 2006, S. 251ff.) zum ZPO-Referentenentwurf von 1931 enthalten. Isays Aufsatz von 1910 über die „Mittelbare Erfindungsbenutzung“ führte zur Anerkennung der mittelbaren Patentverletzung 1928 durch das Reichsgericht (GRUR 1928, S. 386ff.) und zur gesetzlichen Verankerung dieses Instituts im Jahre 1981 in § 10 PatG. Am nachhaltigsten ist Isays Einfluss auf die Kartellrechtspraxis und Kartellrechtsdiskussion während der Weimarer Zeit (S. 266ff.). An einer Schnittstelle zwischen Kartell- und Wettbewerbsrecht lag der sog. „Benrather Tankstellenfall“, zu dem er ein aufsehenerregendes Rechtsgutachten erstattete (S. 277ff.); die heutige Rechtsentwicklung bestätigte Isays Zweifel an der Nachweisbarkeit des subjektiven Vernichtungszwecks. Zwar folgte das Gesetz gegen die Wettbewerbsbeschränkungen (1957) nicht Isays kartellfreundlicher Haltung (Missbrauchskonzeption statt Verbotsprinzip); jedoch bestätigte die EU-Kommission im Zuge der Reform des Kartellverfahrensrechts (2004) „genau diejenigen Positionen, die Isay bereits in den 50er Jahren als negative Konsequenzen bei der Durchführung des Kartellverbots“ vorausgesagt hatte (S. 347).

 

Die Grundanschauungen der beiden Brüder Rudolf und Hermann Isay, dessen Buch von 1929 „Entscheidung und Rechtsfindung“ große Aufmerksamkeit gefunden hatte, dürften sich nicht unwesentlich voneinander unterschieden haben, was von Gaul jedoch nicht näher thematisiert wird. Wie Roßmanith feststellt, ist die Rechtsgefühlstheorie Hermann Isays der Weimarer Naturrechtslehre zuzurechnen; Grundlage und Quelle jeder Entscheidung sei, so Roßmanith, im Anschluß an Max Scheler das phänomenologische Wertfühlen gewesen (S. 123). Demgegenüber war die Entscheidungsfindungslehre Rudolf Isays auch sozialwissenschaftlich bestimmt und methodisch durch Rationalitätskriterien stärker abgesichert. Hervorzuheben ist, dass Gaul auch den – oft verzögerten – Wirkungen der rechtspolitischen Vorschläge Rudolf Isays detailliert nachgegangen ist, eine Vorgehensweise, die sich in biographischen Studien noch immer viel zu selten findet. Insgesamt hat Gaul mit seinem in den Mittelteilen allerdings etwas zu breit geratenen Buch eine Darstellung über Leben und Werk Rudolf Isays vorgelegt, der in seiner Bedeutung für die deutsche Rechtsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bisher nicht hinreichend gewürdigt worden ist. Zugleich stellt es einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Wirtschaftsrechts und der Methodenlehre der Weimarer Zeit und der frühen Bundesrepublik dar.

 

Kiel

Werner Schubert