Fallanalyse und Täterprofil, hg. v. Hoffmann, Jens/Musolff, Cornelia (= BKA-Forschungsreihe 52), Neudruck. Luchterhand, Neuwied 2003. 309 S. Besprochen von Eva Lacour.

 

Diese Buch, ein Nachdruck des Bandes 52 der BKA-Forschungsreihe, handelt von der operativen Fallanalyse. Durch Medienberichte bekannter geworden ist die Bezeichnung „Profiling“. Die Fallanalyse versucht, über die Rekonstruktion und Interpretation des Verhaltens eines meist unbekannten Täters sowie des von ihm begangenen Verbrechens „Hypothesen über Hintergründe der Tat aufzustellen, mit dem Ziel, polizeitaktisch relevante Informationen zu produzieren“ (S. 17). Dabei geht es nicht unbedingt darum, die Fahnder direkt zum Täter zu führen, sondern vor allem, „den Ermittlern eine andere Sichtweise auf das Verbrechen anzubieten“ (S. 25), die dann vielleicht zu neuen Fahndungsstrategien führt.

 

Die Autoren sehen Vorläufer der operativen Fallanalyse bis ins 19. Jahrhundert zurück. Der Psychiater und Gerichtsmediziner Cesare Lombroso leitete den Wandel ein von der tatbezogenen Denkweise hin zu einer individuellen, täterbezogenen Betrachtung. Schon Lombroso musste von seinem ursprünglichen Ziel, den „geborenen Verbrecher“ anhand biologischer Merkmale zu identifizieren und bereits zu erkennen, noch bevor er sein erstes Delikt verübte, abgehen und glaubte am Ende nur noch, dass sich 35 bis 40% der Kriminellen eindeutige körperliche Kennzeichen zuordnen ließen (S. 32). Der modernen Kriminologie gilt es „als grobe Verzerrung, Kriminelle als Opfer ihrer angeborenen Natur anzusehen sowie das Verbrechen aus dem Bereich des menschlichen Willens herauszurücken und es nicht in seinem sozialen und gesellschaftlichen Bezugsrahmen zu betrachten“ (S. 35). Auch Informationen über die Opfer, wie Status, Verhalten, Bekleidung, Herkunft, Lebenssituation oder Gewohnheiten, werden heute bei der Erstellung von Profilen berücksichtigt.

 

Das erste bekannte Täterprofil der deutschen Kriminalgeschichte ist das „Phantom von Düsseldorf“, ein Serienmörder, dessen Bild der Kriminaldirektor W. Gacy 1930 entwarf. Bis in die 1970er Jahren wurden nur sporadisch Täterprofile von Psychiatern in den USA und Großbritannien angefertigt. Erst 1974 wurde die Behavioral Science Unit (BSU) des amerikanischen FBI gegründet, die das Feld systematisch bearbeitete. Zwischen 1979 und 1983 legten die Verhaltenswissenschaftler mit einer großen Studie den Grundstein für ein empirisch fundiertes Kategoriensystem für Serienmörder und Vergewaltiger für Profiling-Zwecke. In den 1980er Jahren wurden in Deutschland und der Schweiz vereinzelt Täterprofile nach der Methode der BSU angefertigt und Anfang der 1990er Jahre begannen Österreich und die Niederlande damit, die Methoden des FBI systematisch zu importieren und an den europäischen kulturellen Kontext zu adaptieren. Interessant ist dabei, dass die nordamerikanischen Profiling-Modelle und Profiling-Techniken für Sexualdelikte offenbar bis auf kleine Abweichungen auf Europa übertragbar sind. Der wohl spektakulärste Fahndungserfolg, bei dem die operative Fallanalyse den entscheidenden Impuls zur Ergreifung des Täters gab, war der Briefbomber, der seit 1993 in Österreich und Bayern vier Menschen getötet und 13 verletzt hatte und 1997 gefasst werden konnte.

 

Die Autoren erläutern mittels zahlreicher Beispiele aus dem Bereich der Sexualverbrechen das Vorgehen und die Methoden von Täter- und Tathergangsanalyse. Nachdem das amerikanische FBI zunächst relativ starre Typologien zu den Deliktsbereichen Sexualmord und Vergewaltigung erarbeitet hatte, die sich dann in der Praxis als wenig ertragreich erwiesen, ging man mit der „Crime Scene Analysis“, für die sich in Österreich der Begriff „Tatortanalyse“ und in Deutschland „Tathergangsanalyse“ eingebürgert hat, neue, flexiblere, praxisnahe und systematischere Wege. Nicht mehr die Frage nach der Identität des Täters steht am Anfang der Ermittlungen, sondern zunächst wird anhand der objektiven Spurenlage geklärt, was genau geschehen ist. Erst nachdem die Vorbereitung einer Tat, ihr Ablauf und das Verhalten des Täters nach der Tat detailliert geklärt sind, macht man sich an die Erstellung eines Täterprofils.

 

1992 richtete das Bundeskriminalamt in Wiesbaden das Forschungsprojekt „Kriminalistisch-kriminologische Fallanalyse (KKF)“ für Erpressung und erpresserischen Menschenraub ein (S. 195). Damit fing für Deutschland ein neues Kapitel der Fallanalyse an. Man begann sich vom amerikanischen Vorbild zu lösen und mit Hilfe differenzierter, moderner sozialwissenschaftlicher Methoden ein Modell zu entwickeln, das sich auf den Verlauf einer Erpressung oder Entführung konzentriert. Mit ihm lassen sich bei aktuellen Fällen z. B. einer Entführung Vorhersagen treffen zum Risiko des Opfers, getötet zu werden, oder bei einer Erpressung zur Gefährlichkeit des Täters.

 

Das Buch beschreibt anhand einer simulierten Erpressung das Vorgehen bei der operativen Fallanalyse. Doch weisen die Autoren darauf hin, dass nur geschulte Fallanalytiker zu zuverlässigen Prognosen kommen können. Zwei Datenbanken – FEUER als Ermittlungsunterstützung und ESPE zu externen Experten und Spezialisten, die bei der Einschätzung der Umsetzbarkeit von Drohungen und Forderungen eines Erpressers helfen können, – wurden für die Praxis der Ermittlungsbehörden aufgebaut.

 

Den Abschluss des Buches bildet eine genaue Beschreibung des in Kanada entwickelten Datenbanksystems ViCLAS (Violent Crime Linkage Analysis System), mit dem dort seit 1995 Tötungsdelikte, Entführungen und Vergewaltigungen erfasst werden, um Serientaten zu identifizieren. In Kanada wurden dadurch innerhalb von 4 1/2 Jahren mehr als tausend Verbrechen (von 42.000 eingespeisten Fällen mit 6250 identifizierten Serientaten) als Teil einer Serie identifiziert, die vorher nicht als solche aufgefallen waren. Inzwischen wird das System auch in Europa eingesetzt; als erste begannen Österreich und die Niederlande damit, dann folgten Belgien, Großbritannien und Deutschland. Die Autoren sind vom Nutzen von ViCLAS überzeugt, doch warnen sie vor dem Missverständnis, das System decke quasi von selbst Serientaten auf. Nicht die Datenbank, sondern nur der mit ihr arbeitende Analytiker erbringt durch seine Recherchen, sein Fachkönnen und insbesondere sein Wissen bezüglich des Verhaltens von Gewalttätern das Ergebnis.

 

Anschau                                                                                                                     Eva Lacour