Düwel, Lars, Die Nichtigkeit und Anfechtbarkeit der Ehe in der
Rechtsprechung des Reichsgerichts zwischen 1900 und 1945 (= Rechtshistorische
Reihe 329). Lang, Frankfurt am Main 2006. 226 S. Besprochen von Arne Duncker.
In seiner gut gelungenen und materialreichen Dissertation
über die Nichtigkeit und
Anfechtbarkeit der Ehe 1900-1945 analysiert Düwel insgesamt 204
einschlägige Entscheidungen des Reichsgerichts. Die Untersuchung konzentriert
sich insbesondere auf den generalklauselartig gefassten § 1333 BGB von 1896
(Anfechtung der Ehe wegen Irrtums über persönliche Eigenschaften des anderen
Ehegatten), welcher über die Hälfte der gesamten Arbeit ausmacht. Diese in der
Praxis bedeutendste Bestimmung zur Eheanfechtung gibt zugleich Gelegenheit zu
grundsätzlichen Erwägungen hinsichtlich zeitgenössischer Ehevorstellungen, denn
Tatbestandsmerkmale des § 1333 wie die „verständige Würdigung des Wesens der
Ehe“ sind je nach der zum betreffenden Zeitpunkt herrschenden Auffassung vom
Wesen der Ehe nahezu beliebig ausfüllbar, so z. B. durch voneinander getrennte
sexuelle Verhaltensnormen für Frauen und Männer unter Benachteiligung der Frau
oder in der NS-Rechtsprechung durch Urteile gegen sog. rassische Mischehen.
In einer kurzen Einleitung (S. 15f.)
gibt Düwel einen Überblick über Gliederung, Material und Fragestellungen. Ziel
der Untersuchung ist es demnach, festzustellen, wie sich die Rechtsprechung des
Reichsgerichts „zum neu geschaffenen Recht der Nichtigkeit und Anfechtbarkeit
der Ehe in dem Zeitraum vom wilhelminischen Kaiserreich über die Weimarer
Republik bis zur Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland entwickelte
und wie sich die juristischen, sozialen und politischen Veränderungen in diesem
Zeitraum auf das Institut der Ehe auswirkten.“ Der erste Abschnitt der Arbeit
(S. 17-52) befasst sich sodann mit der Entstehung und Entwicklung der
einschlägigen Gesetzesbestimmungen. Zunächst wird kurz die Rechtslage vor dem Bürgerlichen
Gesetzbuch dargestellt (S. 17-26), anhand von katholischem und protestantischem
Eherecht, bayerischem Codex Maximilianeus, Preußischem ALR, Code Napoléon,
Badischem Landrecht, Sächsischem BGB sowie Reichspersonenstandsgesetz von 1875.
Recht überzeugend und umfassend werden die Materialien zum BGB referiert (S.
27-43), wobei die Auswertung freilich meist auf einer deskriptiven Ebene
verbleibt. Weiterführende Ansatzpunkte finden sich insbesondere auf S. 36-38,
wo die öffentliche Kritik am 1. BGB-Entwurf (Schilling, Spahn, Hinschius u. a.)
kurz wiedergegeben wird. Eine vertiefende Behandlung des dort vorgefundenen
Meinungsbildes wäre wünschenswert gewesen. Insbesondere erscheint die Frage
naheliegend, ob und gegebenenfalls inwiefern sich die damals geäußerten
Bedenken angesichts der späteren Rechtsprechung des Reichsgerichts als
zutreffend erwiesen haben oder nicht. Auf S. 43-52 werden unter guter
Auswertung des zeitgenössischen Schrifttums die nationalsozialistischen
Veränderungen des Ehe- und Familienrechts dargestellt: insgesamt vier Gesetze
von 1933 bis zum Ehegesetz von 1938.
Der eigentliche Hauptteil der Arbeit
(S. 53-180) ist der Judikatur des Reichsgerichts gewidmet. Bereits aus der
Vielzahl der einschlägigen Fälle - Düwel behandelt über 200 Fundstellen,
darunter zehn bisher unveröffentlichte Fälle aus Archivbeständen - lässt sich ableiten, dass Nichtigkeit und
Anfechtbarkeit der Ehe keineswegs ein völlig unbeachtliches Randgebiet des
Eherechts verkörperten. Aus der im Anhang beigefügten Ehestatistik (S. 203f.)
ergibt sich, dass immerhin einige hundert solcher Fälle jährlich entschieden
wurden: etwa ein bis drei Prozent der damaligen Anzahl von Ehescheidungen.
Düwels Arbeit geht ähnlich vor wie ein
Gesetzeskommentar: der Autor gliedert das Fallmaterial nach denjenigen
Paragraphen des BGB von 1896, welche jeweils die hauptsächliche
Entscheidungsgrundlage bildeten und innerhalb der Paragraphen gliedert er nach
Tatbestandsmerkmalen. Im einzelnen behandelt er die Nichtigkeit wegen
Formmangel (§ 1324 BGB), wegen Geschäftsunfähigkeit (§ 1325) und wegen
Namensehe (§ 1325a., eingefügt 1933), ferner die Eheanfechtung wegen Irrtums
über die Eheschließung (§ 1332), Irrtums über persönliche Eigenschaften des
anderen Ehegatten (§ 1333) und arglistiger Täuchung (§ 1334 I) sowie die Bestimmungen
zu nachträglicher Bestätigung der Ehe und Anfechtungsfrist (§§ 1337, 1339) und
zur Wirkung der Nichtigkeit (§§ 1329, 1343). Der deutlich überwiegende Teil der
Darstellung (S. 60-160) ist § 1333 gewidmet. Danach konnte die Ehe von einem
Ehegatten angefochten werden, der sich bei der Eheschließung über solche
persönlichen Eigenschaften des anderen Ehegatten geirrt hatte, die ihn bei
Kenntnis der Sachlage und bei „verständiger Würdigung des Wesens der Ehe“ von
der Eingehung der Ehe abgehalten hätten. § 1333 gehörte damit zu den wenigen
Normen des BGB, die offen das „Wesen der Ehe“ als maßgebliches
Entscheidungskriterium erwähnten. Nach dem Willen des historischen Gesetzgebers
(Motive IV, S. 104) sollte bekanntlich das „sittliche Wesen der Ehe“ im Eherecht
in der gleichen Art wie Treu und Glauben im Obligationenrecht die Grundlage
bilden, von welcher bei der Auslegung des Gesetzes und der Beurteilung aller
Rechtsverhältnisse der Ehegatten gegeneinander auszugehen sei. Auch dort, wo es
in Eherechtsnormen nicht ausdrücklich genannt war, sollte es somit als
elementarer Grundsatz des Eherechts jederzeit mit einzubeziehen sein. Eine Norm
aber, welche das „Wesen der Ehe“ ausdrücklich als Tatbestandsmerkmal aufführt,
lädt die Rechtsprechung geradezu zur Definition zentraler Ehemerkmale ein. Wie
die Dokumentation bei Düwel zeigt, hat das Reichsgericht diese Gelegenheit
vielfach genutzt, und es dürfte für die künftige Forschung gewinnbringend sein,
aus den nun zahlreich dokumentierten Fallentscheidungen ein grundsätzliches
Bild der Ehe anhand ihrer nach Meinung der Gerichte wesentlichen Eigenschaften
abzuleiten.
Düwel beschreibt unterschiedliche
Fallgruppen zu § 1333. Eine wichtige Fallgruppe bildeten Krankheiten (vgl. S.
74-115). Besprochen werden Fälle körperlicher Krankheiten wie Tuberkulose und
Syphilis, vor allem aber zahlreiche Entscheidungen zu Geisteskrankheiten, u. a.
Hysterie, Neurasthenie, Epilepsie, in der NS-Zeit auch Schizophrenie. Nach 1933
spielt im nationalsozialistischen Eheverständnis die Erbgesundheit eine
zentrale Rolle, so dass im Falle vermeintlich vererbbarer Krankheitsanlagen
grundsätzlich die Eheauflösung erleichtert wurde. Allerdings hat das
Reichsgericht - trotz gegenteiliger Forderungen aus dem Schrifttum - strenge
Anforderungen an den Nachweis einer Erbkrankheit durch den anfechtenden Gatten
gestellt und damit auf dem beweisrechtlichen Weg die Eheauflösung wieder
eingeschränkt. Eine weitere Fallgruppe zu § 1333 bildet der Irrtum über das
Alter der Ehegattin (S. 71-74): wenngleich der Altersirrtum über „den
Ehegatten“ ein geschlechtsneutral formuliertes Kriterium ist, sind in der
Praxis bei allen vor dem Reichsgericht entschiedenen Fällen Ehemänner gegen
ihre Frauen vorgegangen, weil sie diese bei der Heirat irrtümlich einige Jahre
jünger eingeschätzt hatten. Häufig zur Entscheidung kamen Irrtümer über
„sittliche Eigenschaften“ (S. 124-141), wobei der Begriff der Sittlichkeit fast
ausschließlich auf geschlechtliche Eigenschaften bezogen wurde und innerhalb
dieser Eigenschaften an die Frau schärfere Anforderungen gestellt wurden als an
den Mann. So berechtigte beispielsweise der Virginitätsmangel - fehlende
Jungfräulichkeit - der Frau den Mann grundsätzlich zur Anfechtung, während an
den Mann nicht die gleichen rechtlichen Ansprüche auf geschlechtliche
Unberührtheit vor der Ehe gestellt wurden. Weiterhin sind (vgl. S. 143-149) die
Trennungen sog. rassischer Mischehen nach 1933 zu erwähnen (für diesen
Teilbereich seiner Arbeit verweist Düwel ergänzend auf die neueren Arbeiten Hetzels
1997 und Blümels 1999). Die Argumentation des trennungswilligen Partners
ging in solchen Verfahren dahin, er habe zwar bei der Heirat die Abstammung des
anderen Teils gekannt, sei sich aber erst nach 1933 unter
nationalsozilistischem Einfluss über die Bedeutung des Rassenunterschieds klar
geworden. Das Reichsgericht hatte sich seit 1934 mit solchen Fällen
auseinanderzusetzen und verfolgte zunächst eine vorsichtige und eher
einschränkende Rechtsprechung, wobei allerdings die Möglichkeit einer
Eheanfechtung aus rassischen Gründen grundsätzlich bejaht wurde. Erst ab 1938,
als § 1333 BGB von § 37 EheG abgelöst worden war, gab das Gericht seine
Bedenken vollständig auf und ließ die Aufhebung von sog. Mischehen durchweg zu.
In einem Schlussabschnitt (S. 181-201)
fasst Düwel die Ergebnisse zusammen, stellt die weitere Entwicklung nach 1945
bis zur Gegenwart dar und verweist u. a. darauf, dass in den ersten Jahrzehnten
der Bundesrepublik Deutschland weiter am überkommenen Sittlichkeitsbild des
Reichsgerichts festgehalten wurde (S. 200f.). Ergänzt wird die Arbeit u. a.
durch einen statistischen Anhang und ein Verzeichnis der benutzten
Gerichtsentscheidungen nebst Fundstellen. Leider ist das Fehlen eines Personen-
und Sachregisters sowie eines Abkürzungsverzeichnisses zu bemängeln.
Insgesamt handelt es sich um eine
lesenswerte, sehr gut recherchierte Arbeit, die erstmals das umfangreiche
einschlägige Fallmaterial nebst vielen Stimmen aus der zeitgenössischen
Literatur zusammenstellt und insofern sicher eine für die Familienrechtsgeschichte
insgesamt nicht unbedeutende Forschungslücke schließt. Die Untersuchung bewegt
sich über weite Strecken auf einer deskriptiven Ebene, schöpft somit die
Möglichkeiten zur Interpretation der vorliegenden Quellen nicht immer aus.
Wertvolle Interpretationsansätze ergeben sich gleichwohl bereits aus der bei
Düwel ergänzend ausgewerteten und referierten zeitgenössischen Fachliteratur.
Beispielhaft hierfür sei die sehr schön ausgewählte Stelle auf S. 138 f.
aufgeführt, wo - selbstverständlich männliche - Vertreter einer
Ungleichbehandlung der Geschlechter in „sittlicher“ Hinsicht zu Wort kommen und
teils ausführlich zitiert werden.
Hannover Arne
Duncker