Diplomatische Forschungen in Mitteldeutschland, hg. v. Graber, Tom (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 12). Leipziger Universitätsverlag GmbH, Leipzig 2005. 390 S., 27 Abb. Besprochen von Harald Winkel.
Die Beiträge des anzuzeigenden Sammelbandes gehen auf die im Oktober 2000 seitens des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. in Meißen veranstaltete, gleichlautende Tagung zurück. In der Ausgewogenheit ihrer thematischen Mischung stellen die Aufsätze zusammengenommen eine umfassende Bestandsaufnahme und Positionsbestimmung der diplomatischen Forschung in den drei mitteldeutschen Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen dar. Neben der Bilanzierung des derzeitigen Standes und der Präsentation aktueller Forschungsergebnisse werden Perspektiven künftiger diplomatischer Arbeiten aufgezeigt. Hier greifen Entwicklungen, die die diplomatische Grundlagenforschung im Allgemeinen kennzeichnen: In seinem einführenden Beitrag skizziert Rudolf Schieffer die derzeitige Lage der Diplomatik, die von „einer allmählichen Verschiebung des Schwerpunkts ins spätere Mittelalter“ gekennzeichnet sei und sich „der Herausforderung durch große Stoffmassen ebenso wie neue Medien“ (S. 27) zu stellen habe. Daneben hat die Diplomatik, wie die Historischen Hilfswissenschaften überhaupt, bekanntlich einen schweren Stand im heutigen Wissenschaftsbetrieb – der Herausgeber Tom Graber greift den von Peter Rück verwendeten Begriff der „Marginalisierung“ auf (S. 8) –, so dass institutionelle, personelle und finanzielle Ressourcen mehr denn je zu ganz entscheidenden Parametern geworden sind.
Die Bandbreite,
die diplomatische Arbeit dabei jenseits der Diplomatik klassischer Prägung auch
einnehmen kann, verdeutlicht der Beitrag von Michael Lindner zur
historischen Urkundenforschung (War das Medium schon die Botschaft? Mediale
Form, Inhalt und Funktion mittelalterlicher Herrscherurkunden), in dem er die
mittelalterliche Königsurkunde als Medium der Kommunikation, als Medium der
konsensualen Herrschaft im hoch- und spätmittelalterlichen Reich thematisiert.
Drei Beiträge
befassen sich mit der urkundlichen Überlieferung Mitteldeutschlands und
skizzieren den Stand und die derzeitige Situation der Editions- und
Regestenarbeit. Matthias Werner stellt Geschichte, Stand und
Perspektiven des Codex diplomaticus Saxoniae dar, des zentralen Urkundenwerkes
zur hoch- und spätmittelalterlichen Geschichte Sachsens. Sehr plastisch werden
die historischen und institutionellen Rahmenbedingungen gezeigt, die dieses
editorische Großvorhaben ganz maßgeblich formten, deutlich wird aber auch die
starke Beeinflussung durch die Persönlichkeit der jeweiligen Bearbeiter. Bis 1941
konnte erst etwa ein Drittel der ursprünglich vorgesehenen Bände realisiert
werden. Die wesentliche konzeptionelle Modifikation der seit Ende der 1990er
Jahre betriebenen Fortsetzung der Codex-Arbeit ist die Aufnahme von
Papsturkunden. Das Unternehmen hat kürzlich in Form des höchsten editorischen Ansprüchen
gerecht werdenden ersten Teils des Urkundenbuchs der bedeutenden meißnischen Zisterzienserabtei
Altzelle (2006), dem Hauskloster der Wettiner, erste Früchte getragen. Ungleich
pessimistischer äußert sich trotz des Erscheinens des wichtigen zweiten Bandes
des Urkundenbuches des Hochstifts Naumburg (2000) Walter Zöllner zur
Zukunft der traditionsreichen Urkundenpublikationen in Sachsen-Anhalt: „Die
Finanzmisere im Hochschulbereich, die lange Zeit fehlende Zusammenarbeit
zwischen der Staatlichen Archivverwaltung des Landes Sachsen-Anhalt […] und der
Historischen Kommission sowie das abnehmende Interesse an der Geschichte des
Mittelalters im Allgemeinen und an den Historischen Hilfswissenschaften im
Besonderen lassen wenig Hoffnung auf die Verwirklichung weiterer Projekte […]
aufkommen“ (S. 313). Ausgehend von einer Quantifizierung des gewaltigen Umfangs
der Urkundenüberlieferung Thüringens und einer Bestandsaufnahme der bislang
geleisteten Editionstätigkeit skizziert Enno Bünz die Aufgaben künftiger
Vorhaben. Unabdingbare Grundlage hierfür sei angesichts der großen
Kriegsverluste und der zersplitterten, schwer zu überschauenden Archivsituation
in Thüringen zunächst eine zentrale Erfassung der Urkunden. Zur Bewältigung der
im Spätmittelalter anschwellenden Quellenüberlieferung müssten kommenden
Urkundeneditionen und Regestenwerken machbare Qualitätsstandards (klare,
effektive Editionsgrundsätze, Fondprinzip, elektronische Datenbanken) zu Grunde
gelegt werden; der Überlieferungsmasse könne man mit den klassischen
Bearbeitungsprinzipien nicht Herr werden.
Vor dem
Hintergrund ihrer Tätigkeit bei der Regesten-Edition der Urkunden und Briefe
Friedrichs III. thematisieren Elfie-Marita Eibl und Eberhard Holtz
die Problematiken großer, langfristig angelegter Editionsprojekte. Angesichts
der umfangreichen spätmittelalterlichen Überlieferung unterstreicht Eibl
die Notwendigkeit einer systematischen Erfassung des Materials als ersten
Schritt der Bearbeitung, um „der „uferlosen Fülle“ zunächst einmal „Herr zu
werden“ (S. 247). Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen im Sächsischen
Hauptstaatsarchiv Dresden und im Mecklenburgischen Landeshauptarchiv Schwerin
gibt die Autorin dergestalt künftigen Projekten wertvolle Anregungen für die
Erfassung von archivalischen Quellen des 15. Jahrhunderts. Ebenfalls auf
Grundlage einer Schilderung der praktischen Erfahrungen bei der Erfassung der
Friedrich-Urkunden in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt weist Holtz
auf die wichtige Rolle des Internets bei Langzeit-Editionen hin. Eine dynamische
Internet-Edition der Friedrich-Regesten könnte einer breiten Öffentlichkeit die
Ergebnisse unmittelbar zugänglich machen.
Henning
Steinführer beschreibt detailliert die Entwicklungen, die das Urkunden- und
Kanzleiwesen der sächsischen Städte im Spätmittelalter kennzeichnen, und gibt
einen Überblick über die Träger des kommunalen administrativen Schriftwesens. Dem
landesherrlichen Kanzleiwesen widmet sich Thomas Vogtherr mit seiner
Untersuchung zu Auswahl, Tätigkeit und Karrieren der Kanzler der Wettiner, die
er für den Zeitraum von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zur Leipziger
Teilung 1485 vornimmt. Brigide Schwarz lotet am Beispiel Sachsens den Nutzen
aus, den die urkundliche und Registerüberlieferung des Vatikanischen Archivs
für landesgeschichtliche Untersuchungen und Fragestellungen erbringen kann.
Drei Aufsätze
präsentieren schließlich eindrucksvolle Ergebnisse der aktuellen diplomatischen
Forschung, die der mitteldeutschen Landesgeschichte ganz wesentliche Impulse
verleihen werden. Zunächst kann Thomas Ludwig in seinem Beitrag zur
Gliederung der Magdeburger Kirchenprovinz im 10. Jahrhundert ausgehend von
Fälschungsbefunden die frühe Zugehörigkeit der Niederlausitz zum Magdeburger
Erzsprengel belegen. Tom Graber führt nach allen Regeln der Echtheitskritik
die kuriose Fälschung einer Urkunde auf Papst Gregor X. für das
Zisterzienserinnenkloster zu Leipzig (1274 Juni 22) vor, bei der es dem
Fälscher gelingt, „nicht einen einzigen Fehler auszulassen, den zu begehen ihm
überhaupt möglich war“ (S. 91). Holger Kunde schließlich, der kürzlich
die ausgedehnten Fälschungsaktivitäten des bedeutenden Zisterzienserklosters
Pforte im 13. Jahrhundert aufdecken konnte, skizziert in seinem Beitrag die
erste, zwischen 1209 und 1213 zu datierende Fälschungskampagne der Abtei.
Gießen Harald
Winkel