Die zeitliche Dimension des Rechts. Historische Rechtsforschung und geschichtliche Rechtswissenschaft, hg. v. Pahlow, Louis (= Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft 112). Schöningh, Paderborn 2005. 306 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die Beiträge im vorliegenden Band beruhen im Wesentlichen auf den Vorträgen, die dem Graduiertenkolleg „Mittelalterliche und neuzeitliche Staatlichkeit (10.-19. Jahrhundert)“ angehörende Nachwuchswissenschaftler auf einer Tagung auf Schloß Rauischholzhausen bei Marburg 2003 gehalten haben. Hinzu kommen noch die überarbeiteten Vorträge von Pio Caroni und Christof Dipper anlässlich des 60. Geburtstags Diethelm Klippels über die Frage des Verhältnisses von Rechtsgeschichte, Rechts- und Geschichtswissenschaften. In seinem Einleitungsbeitrag geht Pahlow davon aus, dass die (vor allem zeitgeschichtlich orientierte) Rechtsgeschichte „innerhalb der Rechtswissenschaft sicherstellen soll, dass die Zeitgebundenheit des Rechts bewusst bleibt und methodisch adäquat berücksichtigt werden kann“ (S. 19). Im Vordergrund stehe für die Rechtsgeschichte „auch ein mit der Rechtswissenschaft gemeinsam verfolgtes Erkenntnisobjekt: das geltende Recht“ (S. 21). Pio Caroni vertritt eine ähnliche, wenn auch im Hinblick auf die Historizität des Rechts radikalere Linie. Caroni beschränkt sich in seinem Beitrag auf die „Optik der Lehre“ (S. 30), die ein umfassendes Bild von der Zeitlichkeit (Geschichtlichkeit) des Rechts und dessen „Wahrnehmung als Teilordnung“ (S. 52) vermitteln solle. Auch Dipper empfiehlt dem Rechtshistoriker die „Zeitdimension als Proprium der Geschichtswissenschaft“ (S. 60) zu respektieren. Ferner sollte der Rechtshistoriker berücksichtigen, dass der Begriff der „Verrechtlichung“ als Teil der Modernisierung bei Historikern eine „mindestens unterschwellig positive Konnotation“ habe. Endlich zeigt er drei Themenfelder auf, deren Bearbeitung aus der Sicht der Geschichtswissenschaft durch die Rechtsgeschichte erwünscht erscheint (Revolutionsforschung, Diktaturvergleich und These vom deutschen „Sonderweg“). In dem Beitrag „Juristische Quellen des NS-Staates. Zur Methodik rechtsgeschichtlicher Forschung zum Nationalsozialismus“ fordert M. Wagner-Kern die Einbeziehung insbesondere archivalischer Quellen sowie der geistigen und rechtstechnischen „Quellen des Nationalsozialismus“ in die zeitgeschichtlichen Arbeiten zur NS-Zeit.

 

Die speziellen Beiträge des Bandes befassen sich mit speziellen Themenbereichen sowohl aus rechtshistorischer als auch aus allgemeinhistorischer Sicht. Die Abhandlungen der Historiker S. Kesper-Biermann und M. Henze behandeln unter der Thematik „Individuum und Staat“ Probleme der Verstaatlichung des Schulwesens (anhand der höchstrichterlichen Judikatur des Oberappellationsgerichts Kassel) und des Strafvollzugs. Henze verfolgt, wie bereits in ihrer Dissertation (Strafvollzugsreformen im 19. Jahrhundert, 2003) die Einzelhaft in den ersten deutschen, bei der Forschung bisher kaum beachteten Strafvollzugsgesetzen von Baden (1845) und Bayern (1861). Zum Themenbereich „Kodifikationsgeschichte“ stellt Schöler anhand bisher kaum herangezogener Quellen heraus, dass die Rechtsvereinheitlichungsdiskussion bereits Ende des 18. Jahrhunderts und in der Rheinbundzeit eine wichtige Rolle spielte und auch nach dem Kodifikationsstreit zwischen Savigny und Thibaut (1814) nahtlos weitergeführt wurde. M. Zwanzger geht den geringen Erfolg der Kodifikationsidee Benthams gegenüber den Commentaries William Blackstones (1. Auflage L. 1765-1769) nach, die er als innovatives juristisches Lehrbuch zum Common Law und als Plädoyer für eine akademische Juristenausbildung (S. 193) kennzeichnet. Hinsichtlich der Thematik „Staat und Bevölkerung“ (Bevölkerungspolitik) befassen sich C. Möller mit der rechtspolitischen Rechtfertigung medizinalpolitischer Maßnahmen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert und P. Overath mit der Diskussion französischer bevölkerungspolitischer Gesetze bei dem Mediziner und Nationalökonom Hans Harmsen (zwischen 1924 und 1934). Leider geht Overath nicht näher auf die Biographie von Harmsen und im Einzelnen auch nicht auf die französische bevölkerungspolitische Gesetzgebung ein. Zum Abschnitt „Wirtschaft und Recht“ stellt L. Pahlow die Bedeutung der Verwertbarkeit von Patenten und des Lizenzzwangs für die Durchsetzung des Patentschutzes gegenüber den Patentgegnern dar, die noch zu Beginn der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts dominierten. G. Lies-Benachib legt die im Verlauf seiner Geltung unterschiedliche rechtspolitische Rechtfertigung des erst 2001 aufgehobenen Rabattgesetzes von 1933 dar.

 

Der Band verdeutlicht für die Beiträge von rechtshistorischer Seite die Schwierigkeiten des neuzeitlich bzw. zeitgeschichtlich ausgerichteten Rechtshistorikers, dem das geltende Recht bearbeitenden Rechtswissenschaftler und zugleich dem historischen Erkenntnisinteresse des Historikers gerecht zu werden. Diese Position gibt dem Rechtshistoriker andererseits, solange er den rechtswissenschaftlichen Fakultäten angehört, eine vergleichsweise Unabhängigkeit von fachspezifischen Einengungen, von denen sich die Rechtsgeschichte zunehmend befreit hat. Insgesamt stellen die speziellen Beiträge Beispiele für die von Klippel angemahnte „integrierte Rechtsgeschichte“ dar, wobei die Einbeziehung allgemein-, wirtschafts- oder sozialhistorischer Entwicklungen mit Recht durchaus flexibel gehandhabt wird; allerdings fehlt ein primär dogmengeschichtlicher Beitrag. Am besten gelungen erscheint dies in den Darstellungen von Henze, Schöler, Pahlow und Lies-Benachib, welche zugleich für die Rechtsgeschichte bislang wenig beachtete Themenbereiche erschließen.

 

Kiel

Werner Schubert