Deutsches Verfassungsrecht 1806-1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, Band 1 Gesamtdeutschland, anhaltische Staaten und Baden, hg. v. Kotulla, Michael. Springer, Berlin 2006. LI, 2008 S. Besprochen von Andreas Kley.
Die Entwicklung des deutschen Verfassungsrechts im 19. Jahrhundert bis zum Umbruch von 1918 ist in zahlreichen Einzeldarstellungen vorgestellt und in verschiedenen Dokumentensammlungen belegt worden. Alle diese Darstellungen vermochten jedoch den Stoff nicht in eine Gesamtschau zu fassen. Das hier anzuzeigende monumentale Werk von Michael Kotulla füllt deshalb eine dringende Lücke in Wissenschaft, Forschung und Lehre der deutschen Verfassungsgeschichte. Es handelt sich um den ersten Band einer noch zu erwartenden (alphabetisch gereihten) Fortsetzung betreffend die weiteren einzelstaatlichen Entwicklungen. Immerhin ist mit der gesamtdeutschen Darstellung ein überaus wichtiger Teilbereich erfasst worden.
Das Werk gliedert sich in zwei Teile, nämlich (1.) eine historische Einführung (S. 13–456) und (2.) die Verfassungsdokumente (S. 457–2008). Die „historische Einführung“ trägt einen bescheidenen Titel; in Wahrheit handelt es sich um eine belegte Darstellung des Kontextes der einzelnen Dokumente. Im zweiten Teil wird bei diesen stets auf die einführende Darstellung verwiesen, was den Nutzen des Werks erheblich vergrößert. Bei den Dokumenten handelt es sich nicht bloß um den Wiederabdruck schon längst bekannter Texte. Der Autor und Herausgeber hat sich vielmehr die Mühe gemacht, weitere, bisher nicht greifbare Dokumente zu erfassen. Er hat mit der buchstabengetreuen Übernahme der Darstellung (Zeilen- und Seitenangaben gemäß Original) und der ursprünglichen Schreibweise eine kluge Entscheidung getroffen. Damit lässt es sich mit den Texten so arbeiten, als hätte man die jeweilige Originalfassung in der Hand. Die Anpassung der Schreibweise ist glücklicherweise unterlassen worden; der Leser wird vor der Illusion bewahrt, es handle sich um Texte von heute. Zudem ist die heutige Rechtschreibung ja noch immer nicht stabilisiert, sodass es sich nicht lohnt, sich darauf einzulassen.
Der reiche Band lädt zum Schmökern ein; angesichts der Stoffülle kann hier nur beispielhaft auf einzelne Dokumente und Vorgänge eingegangen werden. Das seit 1871 zu Deutschland gehörende Elsass-Lothringen war während vier Jahrzehnten nicht in der Reichsverfassung ausgewiesen. Erst mit Gesetz über die Verfassung Elsass-Lothringens vom 31. Mai 1911 fand das „Reichsland“ Erwähnung. Dabei wurde Elsass-Lothringen zwar als ein Gliedstaat des deutschen Reiches behandelt, ohne aber rechtlich ein solcher zu sein (S. 298). Die merkwürdige Stellung des Reichslandes war auf den unwahrscheinlichen Fall der Auflösung des Reichslandes zugeschnitten. Verlor Elsass-Lothringen die Eigenschaft als Reichsland, indem es entweder in einem der Bundesstaaten aufginge oder unter mehreren von ihnen aufgeteilt würde, so sollten die Stimmen von Elsass-Lothringen keinem andern Bundesstaat zuwachsen (S. 298). – Dies nur ein Beispiel der lückenlos dokumentierten Änderungen der Reichsverfassung (Nr. 136) bis zu ihrem Ausserkrafttreten.
Eindrücklich zu lesen in der Einführung (S. 313ff.) und vor allem in den Dokumenten (Nr. 144, 146, 147) ist der rasche Prozess des Machtverlustes des deutschen Kaisers und preußischen Königs. Sein Festhalten an der Krone führte dazu, dass die fällige Abdankungserklärung von der politischen Entwicklung überholt wurde. Ohne entsprechende Ermächtigung des Kaisers verkündete der Reichskanzler Prinz Max von Baden am 9. November gegen 12 Uhr: „Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen“. In Wahrheit war es noch nicht soweit, aber die revolutionäre Auflehnung war schon soweit gediehen, dass auch diese (unwahre) Aussage schon zu spät kam. Wie Kotulla völlig zutreffend schreibt: „Dieser Bekanntmachung haftete etwas Staatsstreichartiges und zugleich der ereignisgeschichtliche Hauch des amtlich-endgültigen an: Staatsstreichartig deshalb, weil durch sie ohne die von Verfassungs wegen dazu gehörige kaiserliche Autorisierung das – wenn auch längst überfällige – Abtreten des Kaisers antizipiert wurde und es jedenfalls nicht in der Kompetenz des Reichskanzlers lag, seinen Dienstherrn, den Kaiser, eigenmächtig seiner staatsrechtlichen Stellung zu entheben“ (S. 315). Liest man die entsprechenden Texte zur wirklichen Abdankung des Kaisers durch, so sind weniger Dramatik und mehr Wehmut über das Endgültige spürbar. Es ist noch immer beeindruckend zu sehen, wie das Zögern des Kaisers bis zum Letzten dazu geführt hat, dass die geschichtliche Entwicklung ihn obsolet werden ließ. Erst drei Tage später, am 12. November 1918 folgte der Aufruf des Rats der Volksbeauftragten an das deutsche Volk. Der kurze Text enthält den Kern einer Verfassung mit wichtigen Grundrechten, der Einsetzung eines Verfassungs- und Gesetzgebers und der Beseitigung des Kriegszustandes (Dok. 145).
Die Phase des Übergangs von einer Staatsform in eine andere ist besonders heikel und regt zu theoretischen Überlegungen an. Der hier beschriebene und eindrücklich dokumentierte Vorgang belegt die Richtigkeit von Hermann Hellers Überlegung: „Die Frage nach der Legitimität einer Verfassung kann selbstverständlich nicht damit beantwortet werden, dass man auf ihr Zustandekommen nach irgendwelchen vorher geltenden positiven Rechtssätzen verweist“ (Staatslehre, 6. Aufl., Tübingen 1983, S. 315). Deshalb kann in einem logischen Sinne die kommende Weimarer Verfassung nicht als Ausfluss eines Verfassungsbruches diskreditiert werden. Umgekehrt war dem Kaiser als der personifizierten Macht des bisherigen Reiches jeglicher faktische Einfluss abhanden gekommen; er war mit den für die Machtstruktur ausschlaggebenden Schichten (H. Heller) nicht mehr durch gemeinsame Rechtsgrundsätze verbunden. In kürzester Zeit verlor er Macht und Autorität, d. h. seine Existenz als ein Staatsorgan. Die Schnelligkeit dieses Wandels mutet unheimlich an.
Michael Kotulla hat für die Arbeit mit der deutschen Verfassungsgeschichte ein Instrument geschaffen, das höchsten Ansprüchen genügt. Die systematischen und chronologischen Dokumentenverzeichnisse erlauben ein rasches Auffinden des gesuchten Texts und der dazugehörigen Erklärungen. Die Fundstellen der Dokumente sind exakt nachgewiesen und ersparen dem Leser und Benutzer manchen Gang in die Bibliothek oder das Archiv. Der Autor und Herausgeber ist zur Durchführung seines Vorhabens zu beglückwünschen; er hat ein Werk geschaffen, das während Jahrzehnten von größtem Nutzen sein wird.
Zürich Andreas Kley