LammelDasEuropa20060809 Nr. 11361 ZRG GA 124 (2007) 70

 

 

Das Europa des „Dritten Reichs“. Recht, Wirtschaft, Besatzung, hg. v. Bähr, Johannes/Banken, Ralf (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 181 = Das Europa der Diktatur 5). Klostermann, Frankfurt am Main 2005. VI, 288 S. Besprochen von Siegbert Lammel.

 

In zehn länderorientierten und einer sachorientierten Studie werden die wirtschaftlichen Tatbestände der deutschen Besatzung in den von ihr betroffenen europäischen Ländern dargestellt, übergreifend zusammengefasst in einer allgemeinen Einleitung. Polen, Norwegen, die Niederlande, Frankreich, Serbien, Griechenland und schließlich Italien erduldeten eine mehr oder minder umfangreiche wirtschaftliche Ausbeutung. Grundgedanke des NS-Wirtschaftens war dabei die Schaffung eines gesamteuropäischen Wirtschaftsraumes (zynisch betrachtet eine Vorwegnahme der Europäischen Gemeinschaft), allerdings einzig zu Diensten des Deutschen Reiches. Diese Dienstleistungen waren in ihrer geplanten Intensität noch zu unterscheiden hinsichtlich der westlichen und der östlichen besetzten Länder. Während im Westen eine Art selbständiger (Kollaborations-)Verwaltung geduldet bzw. installiert wurde, griff das Regime im Osten zur direkten Herrschaft; denn dort waren keine (schein-)selbständigen Staaten geplant, sondern ein Reservoir für eine Sklavenwirtschaft, Schaffung eines Kolonialreiches. Aber auch in den westlichen Ländern wird von den Verfassern stets der Verstoß gegen die Regelungen der Haager Landkriegsordnung betont. Wenn dem (unzweifelhaft) so war, stellt sich doch die Frage: wozu brauchten die Besatzer dann eigentlich eine Rechtsordnung? Diese Frage stellt sich besonders hinsichtlich der beiden Polen-Artikel. Konfiskationen, Demontagen, Enteignungen erhielten nachträglich (!) eine formal rechtliche Grundlage. Selbst die Güter der ermordeten Juden standen unter einem Rechtsvorbehalt: ihre spätere Verwertung durch Verkauf scheiterte rechtlich (!) daran, dass sie formalrechtlich noch nicht enteignet waren. Wenn die tragischen Schicksale einmal ausgeblendet werden, ist man versucht, an absurdes Theater zu denken. Und diese „Absurdität“ setzt sich gleichsam als rote Linie in allen Ländern fort: in Generalgouvernement werden Richtlinien für ein Rechtsetzungsverfahren erlassen; die Entziehung des Immobilieneigentums der Juden musste grundbuchrechtlich dokumentiert werden; Unternehmensübernahmen wurden nicht durch Eigentumsübertragung auf einen neuen Eigentümer vollzogen, sondern es wurde eine Treuhandschaft eingeführt, die strukturell die alten Rechtstitel wahrte; in Griechenland wird ein rechtliches Rahmenwerk für die Ausbeutung geschaffen. Besonders deutlich wird das „rechtsförmliche“ Verfahren an den Beispielen Frankreich und Italien. Die Verhandlungen zwischen der deutschen IG Farben und der französischen Farbenindustrie über eine Mehrheitsbeteiligung der IG Farben hätten – abstrakt und abgehoben von den Zeitumständen – durchaus in der Gegenwart geführt werden können (besonders die Problematik der steuerlichen Gesichtspunkte mutet geradezu modern an); Impulse aus dem Besatzungsrecht (betreffend das Bankrecht) für notwendige Neuerungen auch in der Nachkriegszeit lassen den Zwangscharakter des Besatzungsrechts in einem anderen Licht erscheinen. Und in Italien schließlich setzten sich Wirtschaftspraktiker unter der Leitung von Speer bei der Einführung neuer Formen wirtschaftlicher Zusammenarbeit durch; erst hier fehlte das „öffentliche“ Recht, aber in einem anderen Sinne als möglicherweise zu erwarten gewesen wäre, denn an seine Stelle trat Vertragsrecht.

 

Unbeantwortet bleibt aber weiterhin die Frage nach dem „Warum“? Warum bedurfte es des Rechts, wenn doch sowieso alles unter der Prämisse der Rechtlosigkeit stand? Reicht es dafür aus, wie in der Einleitung auf eine Ordnungs- und Steuerungsfunktion des  Rechts zu verweisen (zumal es mit der Ordnungsfunktion angesichts des fast in allen Beiträgen aufgeführten Chaos wegen Kompetenzüberschneidungen nicht weit her war)? Dem widersprechen doch Aussagen in den Länderberichten, wonach durchaus eine Wahl unter verschiedenen „Rechtsordnungen“ bestanden hatte, zwischen dem rigorosen Polizeirecht z. B. und dem „Privatrecht“. Warum erachtete man das Polizeirecht für ungeeignet? Ein wirksameres Ordnungs- und Steuerungsinstrument als das Polizeirecht ist doch kaum denkbar.

 

Nur ganz versteckt tauchen in den Beiträgen Erklärungsversuche auf: die Wurzeln des Erfolges der NSDAP werden in der Furcht der Bevölkerung vor dem Kommunismus und wirtschaftlicher Anarchie gesehen (so Dean in seinem Beitrag S. 85), so dass die etablierten Eigentumsrechte jedenfalls formaliter nicht angetastet werden sollten. Der Schein einer „Rechtsstaatlichkeit“ musste gewahrt bleiben, um sich seiner Wurzeln nicht zu berauben. Damit im Einklang steht die Rechtsförmlichkeit, die bei den Enteignungen der Juden gewahrt werden sollte: die nachfolgenden „Eigentümer“ sollten sich auf einen rechtsförmlichen Titel für ihr Eigentum berufen können. Der Wahrung dieser (Schein-)Legalität dienten dann auch die Kollaborations-Verwaltungen. Sie waren dazu ausersehen, gegenüber der nationalen (unterworfenen) Bevölkerung die Unterwerfung durch eine fremde Macht dadurch nicht deutlich werden zu lassen, dass Rechtsvorschriften von den eigenen nationalen Verwaltern erlassen werden. Und die Wirtschaft war vielfach ebenfalls nicht national, sondern kapital-orientiert; ihr ging es – sehr deutlich ausgedrückt – um das Geschäft.

 

Das Buch hinterlässt im Hinblick auf die Funktion des „Rechts“ in einem Europa des Dritten Reichs einen sehr ambivalenten Eindruck. Zwar werden die wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen teilweise sehr detailliert beschrieben (wobei der wirtschaftliche Erfolg oftmals im umgekehrten Verhältnis zum sächlichen und personellen Einsatz stand), aber es wird viel zu wenig herausgearbeitet, warum die damaligen Machthaber sich trotz aller „Rechtlosigkeit“ des Mittels des Rechts bedient haben.

 

Frankfurt am Main                                                                                         Siegbert Lammel