Caroni, Pio, Die Einsamkeit des Rechtshistorikers. Notizen zu einem problematischen Lehrfach. Helbing und Lichtenhahn. Basel 2005. XI, 175 S. Besprochen von Stephan Meder.

 

Einsamkeit und Freiheit - das sind Begriffe, auf deren Grundlage Wilhelm von Humboldt vor knapp zweihundert Jahren sein Bildungsideal formuliert hat: Danach sollen Lehrende und Lernende aus dem Zusammenhang der bürgerlichen Lebenssphäre und ihren praktischen Zwecken und Interessen herausgenommen und für eine durch reine Wissenschaft vermittelte Bildung freigestellt werden. In Verbindung mit Einsamkeit definiert Humboldt Freiheit negativ durch Abgrenzung der Wissenschaft gegenüber den pragmatischen, auf nützliche Berufsausbildung gehenden Forderungen der Gesellschaft und positiv durch das auf reine Wissenschaft beschränkte Leben des Gelehrten.[1] Dieses Bildungsideal steht bekanntlich seinerseits in einem umfassenden, zweieinhalb Jahrtausende währenden Traditionszusammenhang. Es war zuerst Aristoteles, der zur Charakterisierung einer von der Praxis gelösten Wissenschaft den Begriff der theoria (lat. contemplatio) eingeführt hat: Während die praktischen und im Dienste der „Künste“ stehenden Wissenschaften die Aufgabe haben, die Dinge für uns verfügbar zu machen und so immer praktischen Zwecken untergeordnet sind, sollen nach Aristoteles die „theoretischen“ Wissenschaften als „nicht notwendige“ und daher „freie“ Erkenntnis ihren Zweck in sich selbst tragen.[2]

 

Die „Einsamkeit des Rechtshistorikers“ handelt vom „Gesundheitszustand der Rechtsgeschichte“, den man gegenwärtig wohl eher mit Ausdrücken wie „Krise, Niedergang, Agonie und dergleichen“ beschreiben würde (S. V). Wer in solchen Zeiten Wissenschaft um der „freien“ Erkenntnis willen betreibt, kann mit praktischen Bedürfnissen und Interessen der Gesellschaft leicht in Konflikt geraten: „Die titelgebende Einsamkeit wird“, wie im Vorwort näher ausgeführt, „zunächst in der Beziehung zu den Vertretern des geltenden Rechts erlebt“ (S. IX). Denn diese haben kaum Probleme, ihr Lehrfach unter den Gesichtspunkten von Nützlichkeit und Praxis darzustellen. Einsamkeit wird aber auch gegenüber Kollegen der eigenen Zunft empfunden. Dazu gehören in erster Linie jene Rechtshistoriker, „denen etwas mehr rechtsdogmatische Relevanz (mit entsprechender öffentlicher Anerkennung) nicht unwillkommen wäre“ (S. X). Diese vorsichtige Formulierung läßt noch nicht sogleich erkennen, daß die in dem Band versammelten, zwischen 1994 und 2004 entstandenen vier Beiträge im wesentlichen um die Frage nach dem Verhältnis von Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik kreisen. Gemeint sind nämlich die Anhänger eines vermeintlichen ,(Neo-)Pandektismus’ und ihre rastlose Suche nach den „neuesten Nutzanwendungen“ (S. 44). Sie sind es vor allem, denen gegenüber Einsamkeit erlebt und durch deren Forschungsprogramm Freiheit beschränkt wird.

 

Pandektismus, das ist zunächst die mit dem Namen Savigny und der historischen Schule verbundene Wissenschaft vom römischen Privatrecht im 19. Jahrhundert. Das Merkmal dieser Wissenschaft sieht Caroni darin, daß sie „weniger auf Förderung autonomer historischer Forschungen, denn auf eine außerhalb der Gesetzgebung verfaßte Reform der Lehre des geltenden Rechts“ gerichtet war (S. 7 - Hervorhebung im Original). Daher haben Pandektismus und historische Schule nicht jede Beschäftigung mit rechtlicher Vergangenheit für zulässig erachtet, sondern „bloß jene, die mit den Neigungen und Plänen Savignys übereinstimmte“ (S. 129). Auf Grund von Savignys Bevorzugung des rezipierten wissenschaftlichen Rechts sei der Konflikt mit den Germanisten vorprogrammiert gewesen. Zwar hat Savigny, wie Caroni zutreffend hervorhebt, die germanistischen Weggenossen zur Verwirklichung des „gemeinsamen Planes“ wiederholt aufgefordert. Doch sei darin „nicht mehr als eine unverbindliche, höfliche Geste“ zu erblicken (S. 134). Vor allem aber seien diejenigen ausgegrenzt worden, die sich konsequent weigerten, Rechtsgeschichte applikativ, also um des geltenden Rechts willen zu betreiben. Denn für die Pandektistik gehörten Vergangenheit und Gegenwart zusammen, „Kontinuität“ sei die Prämisse gewesen, auf der ihr Forschungsprogramm letztlich beruhte (S. 47, 91, 145). So erkläre sich auch Savignys Haltung im Kodifikationsstreit. Das Schulenhaupt habe nämlich schon frühzeitig erkannt, daß Kodifikationen eine Zäsur bedeuten und der Berücksichtigung romanistischer Lösungen entgegenstehen können.

 

Ob diese Darstellung Savigny und der durch ihn begründeten Richtung gerecht wird, muß hier nicht eingehender erörtert werden. Es sei jedoch die Anmerkung erlaubt, daß Savigny Rechtsgeschichte keineswegs ausschließlich um des geltenden Rechts willen betrieben hat. Dies zeigen etwa die in den fünf Bänden der „Vermischten Schriften“ abgedruckten, zum Teil monographieartigen Abhandlungen, von denen Savigny mehrere in der historisch-philologischen Classe der Berliner Akademie der Wissenschaften gelesen hat. Erinnert sei zudem an Savignys Nähe zu den Altertumswissenschaften und seine persönliche Verbundenheit mit führenden Repräsentanten dieser Disziplin wie Friedrich August Wolf, Friedrich Creuzer, Friedrich Ast, August Boeckh oder auch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, die dem geltenden Recht, wenn überhaupt, nur geringes Interesse entgegengebracht haben.[3] Auch die Begeisterung für Barthold Georg Niebuhrs Gaius-Fund wäre kaum verständlich, wenn Savigny, bekanntlich ein Verfechter des Humboldtschen Bildungsideals,[4] allein applikative Rechtsgeschichte hätte betreiben wollen. Zu berücksichtigen ist ferner, daß die durch Savigny angestoßene Forschungsrichtung in mancher Hinsicht erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts voll zur Geltung kam, wo textkritische Untersuchungen, Palingenesie, Interpolationenforschung, Byzantinistik, Studien zum römischen Straf- und Staatsrecht oder - allgemein - zur römischen Geschichte als vielfältige Beispiele „autonomer historischer Forschungen“ zu nennen wären. Darüber hinaus wäre zu fragen, ob es sich bei Savignys Aufforderungen an die Germanisten wirklich nur um Lippenbekenntnisse gehandelt hat. Dagegen spricht nicht nur die Tatsache, daß Savigny selbst „autonome Forschungen“ auf dem Gebiet der deutschen Rechtsgeschichte betrieben hat,[5] sondern auch seine enge Verbundenheit mit Persönlichkeiten wie Jacob Grimm oder Karl Friedrich Eichhorn.[6] Schließlich dürfte auch die Annahme nicht zutreffen, daß die Pandektistik Kodifikationsplänen generell ablehnend gegenübergestanden ist. Nach einer Veränderung der politischen und sozialen Gegebenheiten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sie dieses Vorhaben jedenfalls unterstützt und es ist gewiß kein Zufall, wenn vom Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch gesagt wurde, es sei ein in Paragraphen gegossenes Pandektenlehrbuch.

 

In der Kodifikation erblickt Caroni jene Schnittstelle, die den Übergang vom Pandektismus zum ,Neopandektismus’ markiert. Die Ausführungen zu diesem Punkt haben zentrale Bedeutung und seien daher kurz zusammengefaßt: Unter den Bedingungen der im 19. Jahrhundert herrschenden Rechtsquellenvielfalt hat die Rechtsgeschichte Caroni zufolge für das geltende Recht noch eine konstitutive Rolle gespielt. Die historische Analyse hatte vor Inkraftreten des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches „die entscheidende Vorfrage nach dem Bestand des geltenden Rechts zu beantworten, daher auch im Einzelnen abzuklären, ob eine konkrete Lösung des historischen gemeinen Rechts immer noch anwendbar oder nicht etwa durch gegenteilige Übung bzw. durch derogierende Gesetzgebung beseitigt worden war“.[7] Nach 1900 sei es zu einer schlagartigen Veränderung der Lage gekommen. Durch die Verstaatlichung des Rechts sei die historische Abklärung zur Identifikation jener Teile, die noch Geltung hatten, überflüssig geworden. Der Rechtshistoriker habe sich nun in einer Situation gefunden, wo ihm jede anwendungsbezogene Aufgabe entzogen und nur noch die reine Kontemplation des endgültig Vergangenen überlassen war (S. 60, 139f.). Dieser Wandel hätte eigentlich den Abschied von einer geltungsorientierten Rechtsgeschichte bedeuten müssen. Dazu aber sei es nicht gekommen. Die Entwicklung lief stattdessen „auf eine faktische Weiterführung“ just jener rechtshistorischen Methode hinaus, die dem „formell überwundenden Rechtsquellensystem zugrunde lag“ (S. 141f.).

 

Nach Caroni hat das Kodifikationsprinzip den Sieg über das vor 1900 herrschende Rechtsquellensystem davongetragen. Es bedeute einen Bruch - eine „Wende“ oder „Zäsur“, welche Vergangenheit und Gegenwart entkoppelt hat (S. 155ff., 171f.). Dies würden die ,Neopandektisten’ verkennen, deren Idee von Kontinuität und Linearität „die Züge eines überwundenen Rechtsquellensystems widerspiegelt“ (S. 147 - Hervorhebung im Original). Sie wollten Geschichte nur noch als „Apologie der Gegenwart“ (S. 29), als „Präfiguration des geltenden Rechts“ (S. 27, 49, 145), als Bestätigung des „Erhofften“ und „Erwarteten“ betreiben (S. 49). Caronis Kritik geht im Kern also dahin, daß die Methode des ,Pandektismus’ auf eine petitio principii - einen unzulässigen Zirkelschluß - hinausläuft, wonach ein Beweis in seinen Voraussetzungen bereits dasjenige enthält, was erst zu beweisen wäre (S. IX, 30f., 65, 152, 161, 172). Dies habe eine Beschränkung der Forschungsfreiheit zur Folge, weil, solange nur „eine Rückschau mit legitimierender Funktion“ erwartet werde, zwangsläufig all das ausgeblendet bleibe, was sich nicht als „Präfiguration“ oder „Antizipation“ wahrnehmen lasse (S. 144f. - Hervorhebung im Original). An einer Stelle bemerkt Caroni, auch Eugen Huber habe an die Vergangenheit Erwartungen herangetragen, welche ihm „als Präfiguration bzw. Antizipation eines bestimmten Modells“ erschienen sei (S. 48f.). Andererseits aber heißt es, daß „Geschichte als Präfiguration der Gegenwart an sich weder gut noch schlecht“ sei; vielmehr müsse man sie an „ihren Ergebnissen“ messen (S. 49). Spätestens hier drängt sich die Frage auf, ob Caroni wirklich glaubt, die Meßlatte so hoch hängen zu müssen, daß selbst Hubers „System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts“ oder gar das „Schweizerische Zivilgesetzbuch“ (und wohl auch Savignys „System des heutigen römischen Rechts“) als inakzeptable „Ergebnisse“ vermeidbarer Zirkelschlüsse zu qualifizieren seien.

 

Es bleibt die Frage, nach welcher Methode und mit welchen Inhalten eigentlich Caroni Rechtsgeschichte betreiben möchte. Im Vergleich zur Kritik an Pandektistik und ,Neopandektistik’ sind die Hinweise hierzu eher spärlich ausgefallen. Den Ausgangspunkt bildet die sympathische Erwägung, „möglichst unvoreingenommen und erwartungslos“ an die rechtshistorische Forschung heranzugehen (S. 31, 48). Dabei seien die neuen Möglichkeiten zu nutzen, die durch die modernen Kodifikationen eröffnet wurden. Denn erst durch sie sei Rechtsgeschichte als Fach überhaupt denkbar geworden, und zwar in Gestalt einer Disziplin, der keine anderen als kontemplative Funktionen zugewiesen werden brauchen (S. 60, 65). Unter Kontemplation versteht Caroni - in Parallele zur aristotelischen theoria - eine Tätigkeit, die nicht primär auf Anwendung gerichtet ist (S. 7f., 60, 139, 158). Gleichwohl ist auch er der Meinung, daß Rechtsgeschichte nur Sinn macht und erst dann gelehrt werden soll, wenn sie eine wesentliche Beziehung zur Gegenwart herstellt (S. 5f., 30, 163, 171f.). Gelehrt werden soll insbesondere, daß Recht und Gesellschaft „zwangsläufig in einer Wechselwirkung“ stehen (S. 87). Daß Recht auch auf seine Autonomie bedacht sein muß, weil ihm - wie die Geschichte lehrt - die Einwirkung außerrechtlicher Diskurse gefährlich werden kann, will Caroni nicht gelten lassen. Das Recht „führt kein Eigenleben“, heißt es lapidar (S. 87): „Rechtsgeschichte als Teil der Sozialgeschichte scheint folglich die Lösung zu sein“ (S. 88 - Hervorhebung im Original). Im Unterricht sollen also vor allem sozial- und wirtschaftshistorische Fragestellungen in den Vordergrund rücken (S. 35, 49, 159ff.), welche durch die Pandektistik ebenso ausgeklammert worden seien (S. 49) wie etwa das adelige Standesrecht, das Lehnsrecht, das ius mercatorium, die mittelalterlichen Rechtsbücher sowie alle jene Rechtsquellen, die bloß lokale Geltung hatten und daher als ius proprium, ius non commune und dergleichen bezeichnet wurden.[8] Überhaupt müsse der Welt des Nichtausgedrückten und Nichtgewordenen größere Bedeutung beigemessen werden, etwa den nicht realisierten Kodifikationsprojekten oder anderen unausgeführten Programmen (S. 100). Vor allem aber müsse die Frage nach den sozialen Hintergründen des historischen Sieges des Kodifikationsprinzips aufgeworfen werden (S. 62). Denn dabei würde deutlich werden, warum das von der Pandektistik so gerühmte Mischrechtssystem des gemeinen Rechts zuerst in eine Krise geraten und schließlich durch eine neue Rechtsquellenlehre überholt worden ist (S. 63).

 

Caronis Charakterisierung der Rechtsgeschichte unter der Herrschaft des Kodifikationsprinzips vermag angesichts des großen Spektrums unterschiedlicher Forschungsrichtungen nicht uneingeschränkt zu überzeugen. Niemand hat behauptet, daß es nur eine allein richtige Methode rechtsgeschichtlicher Forschung oder ein einziges, ausschließlich legitimes Erkenntnisinteresse gibt. Auch Caroni ist der Auffassung, daß Rechtsgeschichte nicht nur zum Verständnis der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart beitragen kann. Warum soll rechtshistorische Erkenntnis dann nicht auch dem Verständnis des geltenden Rechts zuträglich sein können? Caroni meint zu Recht, daß wir vermehrt lernen müssen, „über Dogmen und rechtliche Prinzipien zu staunen, sie als geschichtsträchtige Aussagen zu entdecken“ (S. 14). Aber staunen wir nicht gerade auch dann, wenn wir einen Einblick in die Historizität noch heute angewendeter Rechtsinstitute und in den reichen Schatz von Erfahrungen gewinnen, welche die Geschichte zur Lösung aktueller Probleme bereithält? Und greift es nicht zu kurz, wenn man bei der Einschätzung moderner, der Pandektenwissenschaft entsprungener Kodifikationen wie dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem schweizerischen Zivilgesetzbuch vom „konkreten Inhalt“ einzelner Regeln absehen und stattdessen ausschließlich „formelle Aspekte“ wie Einheit, Geschlossenheit oder Staatlichkeit ins Auge fassen soll (S. 155f. - Hervorhebungen im Original)? Niemand wird bestreiten, daß Rechtshistoriker nach 1900 anders als vor Inkrafttreten der Kodifikation arbeiten müssen und daß Caroni die Differenz zwischen den verschiedenen Rechtsquellensystemen zutreffend herausgearbeitet hat. Doch lassen sich gerade über konkrete Inhalte und den Text einzelner Regelungen des Gesetzbuches eben auch Verbindungslinien ziehen: Wer wollte, um ein Beispiel zu nennen, bezweifeln, daß es auch eine gemeinsame Linie etwa zwischen römischer delegatio, gemeinrechtlicher Delegation, BGB-Anweisung und moderner extravaganter Anweisung als Strukturelement zur Erfassung komplexer bargeldloser Zahlungsvorgänge gibt und daß nicht nur eine rechtshistorische Kenntnis der Differenzen, sondern auch der Verbindungen für die heutige Privarechtsdogmatik „nützlich“, stimulierend oder gar notwendig sein kann? Und wer könnte ernsthaft behaupten, daß eine Betrachtung (theoria, contemplatio), die auch das geltende Recht einschließt, dem Ideal von Einsamkeit und Freiheit, sofern es auch heute noch für erstrebenswert gehalten wird, zwangsläufig zuwiderlaufen muß?

 

Die Beschränkung auf „formelle Aspekte“ greift aber noch aus einem anderen Grund zu kurz. Es ist nämlich zu fragen, ob das Kodifikationsprinzip, welches das im 19. Jahrhundert herrschende Mischrechtssystem überholt und eine Entkoppelung von Vergangenheit und Gegenwart herbeigeführt haben soll, nicht seinerseits inzwischen durch eine Entwicklung überholt wurde, die unter dem Stichwort der Rechtsquellenvielfalt zu charakterisieren wäre. Erinnert sei nur an die Diskussionen, die in den letzten Jahren über „Gewährleistungsstaat“, „Deregulierung“ oder „Selbstregulierung“ geführt wurden. Dabei ist gefordert worden, daß der Staat die von ihm traditionell übernommenen Aufgaben überdenke, Verantwortlichkeiten verändere, zurückschraube und in bestimmten Bereichen nicht mehr Eigenleistungen erbringe, sondern Leistungen auf Dritte, vornehmlich Private übertrage. Von einem sich inzwischen auf vielen Ebenen abzeichnenden Funktionswandel des Staates ist längst auch das Gebiet der Rechtsetzung betroffen, wo neben öffentliche Stellen zunehmend Private treten. Zwar bildet das Bürgerliche Gesetzbuch auch heute noch eine wichtige Rechtsquelle. Doch ist nicht zu übersehen, daß - anders als noch vor 100 Jahren - ein juristisches Urteil im Privatrecht zunehmend auch durch außerstaatliche Rechtsquellen bestimmt wird. Genau genommen bildet das Bürgerliche Gesetzbuch heute nur noch eine von mehreren Rechtsquellen, deren Spektrum zudem durch das Anwachsen von Richterrecht und Spezialgesetzgebung sowie die gesteigerte Bedeutung von Rechtsbildungen auf internationaler Ebene erheblich erweitert worden ist. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, daß sich in letzter Zeit die Klagen über den unbefriedigenden Zustand von Kodifikation und staatlicher Gesetzgebung mehren und von einem Trend zur Dekodifikation die Rede ist.

 

Es ließe sich also darüber streiten, ob Einheit, Geschlossenheit oder Staatlichkeit als „formelle“ Merkmale des Kodifikationsprinzips noch hinreichen, um den Unterschied zu den vor 1900 herrschenden Verhältnissen zu charakterisieren. Die jüngste Entwicklung scheint im Gegenteil auf eine Rechtsquellensituation hinauszulaufen, die den Zuständen vor 1900 in mancher Hinsicht näher steht als der durch das Kodifikationsprinzip herbeigeführten „Wende“.[9] Angesichts der gesteigerten Bedeutung von privater Rechtsetzung und Juristenrecht ist in der Literatur auch schon behauptet worden, die aktuellen Tendenzen seien einer „juristischen Erfahrung“ entsprungen, die auf Parallelen mit den Rechtsquellensystemen von ius commune und common law schließen lassen.[10] Gerade unter den erwähnten „formellen“ Gesichtspunkten hätte es daher nahegelegen, nicht nur das Trennende hervorzuheben, sondern auch die Möglichkeit einer Verbindung zwischen neuesten Entwicklungen und den vor 1900 herrschenden Mischrechtssystemen in Betracht zu ziehen.[11]

 

Spitz formulierte Thesen rufen Widerspruch hervor und halten die wissenschaftliche Diskussion in Gang. Die „Einsamkeit des Rechtshistorikers“ muß als grundlegendes, ehrliches und gedankenreiches Werk anerkannt werden, welches die Frage nach dem Verhältnis von Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik uns Heutigen aktueller und brisanter erscheinen läßt als früheren Zeiten. Es bietet auch denjenigen Lesern wertvolle Anregung und Gewinn, die den Positionen des Verfassers nicht in allen Punkten folgen mögen.

 

Hannover                                                                                                         Stephan Meder



[1] Vgl. etwa Humboldts Denkschrift aus dem Jahre 1810 Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Gesammelte Schriften, Bd. X. Zweite Abteilung: Politische Denkschriften, Bd. 1, 1802-1810 (hg. v. B. Gebhardt), 1903, S. 250, 251 (weitere Nachweise bei Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Zur sozialen Idee der deutschen Universität, 1960, S. 7ff.).

[2] Vgl. nur Axel Horstmann, Antike Theoria und moderne Wissenschaft, 1992, S. 34, 42ff.

[3] Dazu näher Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, 2004, S. 28ff.

[4] Inwieweit Savignys Streben nach einer Vereinigung von Theorie und Praxis auch auf der von Aristoteles begründeten Tradition fußt, kann hier nicht näher ausgeführt werden. Dies gilt auch für den Begriff der Einsamkeit, der in Bezug auf Savigny eher als eine Form der „kollektiven Einsamkeit“ zu begreifen wäre (vgl. hierzu und zur Formung einer „Gemeinschaft der Einsamen“ H. Emmel, in: HWPh, Bd. 2, 1972, Stichwort „Einsamkeit“, Sp. 408).

[5] Vgl. etwa seinen „Beitrag zur Rechtsgeschichte des Adels im neueren Europa“, in: Abhandlungen der Akademie 1836, Berlin 1838 (historisch-philologische Classe), S. 1-40; erneut in: Vermischte Schriften, Bd. 4, Berlin 1850 (ND Aalen 1968), S. 1-73.

[6] Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, daß Savigny seine Aufforderung an die Vertreter des deutschen Privatrechts ernst gemeint hat, bietet sein Brief an Eichhorn vom 21. Oktober 1851, in: Hugo Loersch, Briefe von Karl Friedrich Eichhorn, Bonn 1881, S. 80-82.

[7] S. 7 - Hervorhebung im Original. Dazu auch S. 59, 122, 130.

[8]S. 54ff. Unter den Prämissen von Heteronomie und Diskontinuität erscheint es konsequent, die Abschaffung der Lehre des römischen Rechts zu fordern, vgl. die Andeutungen S. 38 („ ,Historisierung’ des römischen Rechts“), S. 85 („Vereinfachung und Straffung des Lehrangebots“) oder S. 163 („nicht Althistoriker auszubilden“).

[9] Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei betont, daß Caroni die neuesten Entwicklungen durchaus zur Kenntnis und zum Anlaß wichtiger Überlegungen nimmt (z. B. S. 105-115 oder in: Gesetz und Gesetzbuch. Beiträge zu einer Kodifikationsgeschichte, 2003, S. 87-94).

[10] Vgl. Paolo Grossi (Quaderni fiorentini, 2000, S. 551, 556), auf den Caroni (S. 113f.) sich bezieht. Bei Grossi ist in Übereinstimmung mit dem üblichen Sprachgebrauch von Kontinuität vor allem dort die Rede, wo er sich auf die Tradition des common law bezieht (vgl. auch Prima lezione di diritto, 2003, S. 64; René David/Günther Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, 2. Auflage 1988, S. 436; allgemein zum Thema „Kodifikation und Kontinuität“: die Beiträge in ZNR 2001, S. 293-307).

[11] Letztlich dürfte es sich bei der Entscheidung für oder gegen „Kontinuität“ um eine rechtspolitische Frage handeln: Wer die Vereinheitlichung von Rechtsquellen durch staatliche Gesetzgebung - aus welchen Gründen auch immer - für problematisch (oder wie Grossi gar für einen „Rückschritt“) hält, wird an Traditionen des Rechtsquellenpluralismus anzuknüpfen suchen, die es ja auch auf dem Kontinent immer schon gegeben hat. Die Gegenmeinung wird die durch Verstaatlichung und Monopolisierung von Recht bewirkte Zäsur für endgültig ansehen und den Gesichtspunkt der Diskontinuität betonen. Im übrigen soll natürlich nicht behauptet werden, daß heutige Zustände mit denen vor 1900 direkt vergleichbar seien; doch sollte es gestattet sein, mit Begriffen wie „Rechtsquellenvielfalt“ oder „Mischrechtssystem“ als „Suchscheinwerfern“ in die Vergangenheit hineinzuleuchten. Die Annahme, daß bestimmte Muster schon in früheren Zeiten verfügbar waren, muß ja nicht bedeuten, daß das Ergebnis der Suche bereits vorweggenommen wurde.