Caroni,
Pio, Die Einsamkeit des Rechtshistorikers. Notizen zu einem problematischen
Lehrfach. Helbing und Lichtenhahn. Basel 2005. XI, 175 S. Besprochen von
Stephan Meder.
Einsamkeit und Freiheit - das sind Begriffe, auf deren
Grundlage Wilhelm von Humboldt vor knapp zweihundert Jahren sein Bildungsideal
formuliert hat: Danach sollen Lehrende und Lernende aus dem Zusammenhang der
bürgerlichen Lebenssphäre und ihren praktischen Zwecken und Interessen
herausgenommen und für eine durch reine Wissenschaft vermittelte Bildung
freigestellt werden. In Verbindung mit Einsamkeit definiert Humboldt Freiheit
negativ durch Abgrenzung der Wissenschaft gegenüber den pragmatischen, auf
nützliche Berufsausbildung gehenden Forderungen der Gesellschaft und positiv
durch das auf reine Wissenschaft beschränkte Leben des Gelehrten.[1] Dieses
Bildungsideal steht bekanntlich seinerseits in einem umfassenden, zweieinhalb
Jahrtausende währenden Traditionszusammenhang. Es war zuerst Aristoteles, der
zur Charakterisierung einer von der Praxis gelösten Wissenschaft den Begriff
der theoria (lat. contemplatio) eingeführt hat: Während die praktischen
und im Dienste der „Künste“ stehenden Wissenschaften die Aufgabe haben, die
Dinge für uns verfügbar zu machen und so immer praktischen Zwecken
untergeordnet sind, sollen nach Aristoteles die „theoretischen“ Wissenschaften
als „nicht notwendige“ und daher „freie“ Erkenntnis ihren Zweck in sich selbst
tragen.[2]
Die „Einsamkeit des Rechtshistorikers“ handelt vom „Gesundheitszustand
der Rechtsgeschichte“, den man gegenwärtig wohl eher mit Ausdrücken wie „Krise,
Niedergang, Agonie und dergleichen“ beschreiben würde (S. V). Wer in solchen
Zeiten Wissenschaft um der „freien“ Erkenntnis willen betreibt, kann mit
praktischen Bedürfnissen und Interessen der Gesellschaft leicht in Konflikt
geraten: „Die titelgebende Einsamkeit wird“, wie im Vorwort näher ausgeführt, „zunächst
in der Beziehung zu den Vertretern des geltenden Rechts erlebt“ (S. IX). Denn
diese haben kaum Probleme, ihr Lehrfach unter den Gesichtspunkten von
Nützlichkeit und Praxis darzustellen. Einsamkeit wird aber auch gegenüber
Kollegen der eigenen Zunft empfunden. Dazu gehören in erster Linie jene
Rechtshistoriker, „denen etwas mehr rechtsdogmatische Relevanz (mit
entsprechender öffentlicher Anerkennung) nicht unwillkommen wäre“ (S. X). Diese
vorsichtige Formulierung läßt noch nicht sogleich erkennen, daß die in dem Band
versammelten, zwischen 1994 und 2004 entstandenen vier Beiträge im wesentlichen
um die Frage nach dem Verhältnis von Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik
kreisen. Gemeint sind nämlich die Anhänger eines vermeintlichen
,(Neo-)Pandektismus’ und ihre rastlose Suche nach den „neuesten
Nutzanwendungen“ (S. 44). Sie sind es vor allem, denen gegenüber Einsamkeit
erlebt und durch deren Forschungsprogramm Freiheit beschränkt wird.
Pandektismus, das ist zunächst die mit dem Namen Savigny
und der historischen Schule verbundene Wissenschaft vom römischen Privatrecht
im 19. Jahrhundert. Das Merkmal dieser Wissenschaft sieht Caroni darin,
daß sie „weniger auf Förderung autonomer historischer Forschungen, denn auf
eine außerhalb der Gesetzgebung verfaßte Reform der Lehre des geltenden
Rechts“ gerichtet war (S. 7 - Hervorhebung im Original). Daher haben
Pandektismus und historische Schule nicht jede Beschäftigung mit rechtlicher
Vergangenheit für zulässig erachtet, sondern „bloß jene, die mit den Neigungen
und Plänen Savignys übereinstimmte“ (S. 129). Auf Grund von Savignys Bevorzugung
des rezipierten wissenschaftlichen Rechts sei der Konflikt mit den Germanisten
vorprogrammiert gewesen. Zwar hat Savigny, wie Caroni zutreffend
hervorhebt, die germanistischen Weggenossen zur Verwirklichung des „gemeinsamen
Planes“ wiederholt aufgefordert. Doch sei darin „nicht mehr als eine
unverbindliche, höfliche Geste“ zu erblicken (S. 134). Vor allem aber seien
diejenigen ausgegrenzt worden, die sich konsequent weigerten, Rechtsgeschichte
applikativ, also um des geltenden Rechts willen zu betreiben. Denn für die
Pandektistik gehörten Vergangenheit und Gegenwart zusammen, „Kontinuität“ sei
die Prämisse gewesen, auf der ihr Forschungsprogramm letztlich beruhte (S. 47,
91, 145). So erkläre sich auch Savignys Haltung im Kodifikationsstreit. Das
Schulenhaupt habe nämlich schon frühzeitig erkannt, daß Kodifikationen eine
Zäsur bedeuten und der Berücksichtigung romanistischer Lösungen entgegenstehen
können.
Ob diese Darstellung Savigny und der durch ihn
begründeten Richtung gerecht wird, muß hier nicht eingehender erörtert werden.
Es sei jedoch die Anmerkung erlaubt, daß Savigny Rechtsgeschichte keineswegs
ausschließlich um des geltenden Rechts willen betrieben hat. Dies zeigen etwa
die in den fünf Bänden der „Vermischten Schriften“ abgedruckten, zum Teil
monographieartigen Abhandlungen, von denen Savigny mehrere in der
historisch-philologischen Classe der Berliner Akademie der Wissenschaften
gelesen hat. Erinnert sei zudem an Savignys Nähe zu den Altertumswissenschaften
und seine persönliche Verbundenheit mit führenden Repräsentanten dieser
Disziplin wie Friedrich August Wolf, Friedrich Creuzer, Friedrich Ast, August
Boeckh oder auch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, die dem geltenden
Recht, wenn überhaupt, nur geringes Interesse entgegengebracht haben.[3] Auch die
Begeisterung für Barthold Georg Niebuhrs Gaius-Fund wäre kaum verständlich,
wenn Savigny, bekanntlich ein Verfechter des Humboldtschen Bildungsideals,[4] allein
applikative Rechtsgeschichte hätte betreiben wollen. Zu berücksichtigen ist
ferner, daß die durch Savigny angestoßene Forschungsrichtung in mancher
Hinsicht erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts voll zur Geltung kam,
wo textkritische Untersuchungen, Palingenesie, Interpolationenforschung,
Byzantinistik, Studien zum römischen Straf- und Staatsrecht oder - allgemein -
zur römischen Geschichte als vielfältige Beispiele „autonomer historischer
Forschungen“ zu nennen wären. Darüber hinaus wäre zu fragen, ob es sich bei
Savignys Aufforderungen an die Germanisten wirklich nur um Lippenbekenntnisse
gehandelt hat. Dagegen spricht nicht nur die Tatsache, daß Savigny selbst
„autonome Forschungen“ auf dem Gebiet der deutschen Rechtsgeschichte betrieben
hat,[5] sondern auch
seine enge Verbundenheit mit Persönlichkeiten wie Jacob Grimm oder Karl
Friedrich Eichhorn.[6]
Schließlich dürfte auch die Annahme nicht zutreffen, daß die Pandektistik
Kodifikationsplänen generell ablehnend gegenübergestanden ist. Nach einer
Veränderung der politischen und sozialen Gegebenheiten in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts hat sie dieses Vorhaben jedenfalls unterstützt und es ist
gewiß kein Zufall, wenn vom Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch gesagt wurde, es
sei ein in Paragraphen gegossenes Pandektenlehrbuch.
In der Kodifikation erblickt Caroni jene
Schnittstelle, die den Übergang vom Pandektismus zum ,Neopandektismus’
markiert. Die Ausführungen zu diesem Punkt haben zentrale Bedeutung und seien
daher kurz zusammengefaßt: Unter den Bedingungen der im 19. Jahrhundert
herrschenden Rechtsquellenvielfalt hat die Rechtsgeschichte Caroni
zufolge für das geltende Recht noch eine konstitutive Rolle gespielt. Die
historische Analyse hatte vor Inkraftreten des Deutschen Bürgerlichen
Gesetzbuches „die entscheidende Vorfrage nach dem Bestand des geltenden
Rechts zu beantworten, daher auch im Einzelnen abzuklären, ob eine konkrete
Lösung des historischen gemeinen Rechts immer noch anwendbar oder nicht etwa
durch gegenteilige Übung bzw. durch derogierende Gesetzgebung beseitigt worden
war“.[7] Nach 1900 sei
es zu einer schlagartigen Veränderung der Lage gekommen. Durch die
Verstaatlichung des Rechts sei die historische Abklärung zur Identifikation
jener Teile, die noch Geltung hatten, überflüssig geworden. Der
Rechtshistoriker habe sich nun in einer Situation gefunden, wo ihm jede
anwendungsbezogene Aufgabe entzogen und nur noch die reine Kontemplation des
endgültig Vergangenen überlassen war (S. 60, 139f.). Dieser Wandel hätte
eigentlich den Abschied von einer geltungsorientierten Rechtsgeschichte
bedeuten müssen. Dazu aber sei es nicht gekommen. Die Entwicklung lief
stattdessen „auf eine faktische Weiterführung“ just jener rechtshistorischen
Methode hinaus, die dem „formell überwundenden Rechtsquellensystem zugrunde
lag“ (S. 141f.).
Nach Caroni hat das Kodifikationsprinzip den Sieg
über das vor 1900 herrschende Rechtsquellensystem davongetragen. Es bedeute
einen Bruch - eine „Wende“ oder „Zäsur“, welche Vergangenheit und Gegenwart
entkoppelt hat (S. 155ff., 171f.). Dies würden die ,Neopandektisten’ verkennen,
deren Idee von Kontinuität und Linearität „die Züge eines überwundenen
Rechtsquellensystems widerspiegelt“ (S. 147 - Hervorhebung im Original). Sie wollten
Geschichte nur noch als „Apologie der Gegenwart“ (S. 29), als „Präfiguration
des geltenden Rechts“ (S. 27, 49, 145), als Bestätigung des „Erhofften“ und
„Erwarteten“ betreiben (S. 49). Caronis Kritik geht im Kern also dahin,
daß die Methode des ,Pandektismus’ auf eine petitio principii - einen
unzulässigen Zirkelschluß - hinausläuft, wonach ein Beweis in seinen
Voraussetzungen bereits dasjenige enthält, was erst zu beweisen wäre (S. IX, 30f.,
65, 152, 161, 172). Dies habe eine Beschränkung der Forschungsfreiheit zur
Folge, weil, solange nur „eine Rückschau mit legitimierender Funktion“
erwartet werde, zwangsläufig all das ausgeblendet bleibe, was sich nicht als „Präfiguration“
oder „Antizipation“ wahrnehmen lasse (S. 144f. - Hervorhebung im
Original). An einer Stelle bemerkt Caroni, auch Eugen Huber habe an die
Vergangenheit Erwartungen herangetragen, welche ihm „als Präfiguration bzw.
Antizipation eines bestimmten Modells“ erschienen sei (S. 48f.). Andererseits
aber heißt es, daß „Geschichte als Präfiguration der Gegenwart an sich weder
gut noch schlecht“ sei; vielmehr müsse man sie an „ihren Ergebnissen“ messen
(S. 49). Spätestens hier drängt sich die Frage auf, ob Caroni wirklich
glaubt, die Meßlatte so hoch hängen zu müssen, daß selbst Hubers „System und
Geschichte des schweizerischen Privatrechts“ oder gar das „Schweizerische
Zivilgesetzbuch“ (und wohl auch Savignys „System des heutigen römischen
Rechts“) als inakzeptable „Ergebnisse“ vermeidbarer Zirkelschlüsse zu
qualifizieren seien.
Es bleibt die Frage, nach welcher Methode und mit welchen
Inhalten eigentlich Caroni Rechtsgeschichte betreiben möchte. Im
Vergleich zur Kritik an Pandektistik und ,Neopandektistik’ sind die Hinweise
hierzu eher spärlich ausgefallen. Den Ausgangspunkt bildet die sympathische
Erwägung, „möglichst unvoreingenommen und erwartungslos“ an die
rechtshistorische Forschung heranzugehen (S. 31, 48). Dabei seien die neuen
Möglichkeiten zu nutzen, die durch die modernen Kodifikationen eröffnet wurden.
Denn erst durch sie sei Rechtsgeschichte als Fach überhaupt denkbar geworden,
und zwar in Gestalt einer Disziplin, der keine anderen als kontemplative Funktionen
zugewiesen werden brauchen (S. 60, 65). Unter Kontemplation versteht Caroni
- in Parallele zur aristotelischen theoria - eine Tätigkeit, die nicht
primär auf Anwendung gerichtet ist (S. 7f., 60, 139, 158). Gleichwohl ist auch
er der Meinung, daß Rechtsgeschichte nur Sinn macht und erst dann gelehrt
werden soll, wenn sie eine wesentliche Beziehung zur Gegenwart herstellt (S.
5f., 30, 163, 171f.). Gelehrt werden soll insbesondere, daß Recht und
Gesellschaft „zwangsläufig in einer Wechselwirkung“ stehen (S. 87). Daß Recht
auch auf seine Autonomie bedacht sein muß, weil ihm - wie die Geschichte lehrt
- die Einwirkung außerrechtlicher Diskurse gefährlich werden kann, will Caroni
nicht gelten lassen. Das Recht „führt kein Eigenleben“, heißt es lapidar (S. 87):
„Rechtsgeschichte als Teil der Sozialgeschichte scheint folglich die
Lösung zu sein“ (S. 88 - Hervorhebung im Original). Im Unterricht sollen also
vor allem sozial- und wirtschaftshistorische Fragestellungen in den Vordergrund
rücken (S. 35, 49, 159ff.), welche durch die Pandektistik ebenso ausgeklammert
worden seien (S. 49) wie etwa das adelige Standesrecht, das Lehnsrecht, das ius
mercatorium, die mittelalterlichen Rechtsbücher sowie alle jene
Rechtsquellen, die bloß lokale Geltung hatten und daher als ius proprium,
ius non commune und dergleichen bezeichnet wurden.[8] Überhaupt
müsse der Welt des Nichtausgedrückten und Nichtgewordenen größere Bedeutung
beigemessen werden, etwa den nicht realisierten Kodifikationsprojekten oder
anderen unausgeführten Programmen (S. 100). Vor allem aber müsse die Frage nach
den sozialen Hintergründen des historischen Sieges des Kodifikationsprinzips
aufgeworfen werden (S. 62). Denn dabei würde deutlich werden, warum das von der
Pandektistik so gerühmte Mischrechtssystem des gemeinen Rechts zuerst in eine
Krise geraten und schließlich durch eine neue Rechtsquellenlehre überholt
worden ist (S. 63).
Caronis
Charakterisierung der Rechtsgeschichte unter der Herrschaft des
Kodifikationsprinzips vermag angesichts des großen Spektrums unterschiedlicher
Forschungsrichtungen nicht uneingeschränkt zu überzeugen. Niemand hat
behauptet, daß es nur eine allein richtige Methode rechtsgeschichtlicher
Forschung oder ein einziges, ausschließlich legitimes Erkenntnisinteresse gibt.
Auch Caroni ist der Auffassung, daß Rechtsgeschichte nicht nur zum
Verständnis der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart beitragen kann. Warum
soll rechtshistorische Erkenntnis dann nicht auch dem Verständnis des
geltenden Rechts zuträglich sein können? Caroni meint zu Recht, daß wir
vermehrt lernen müssen, „über Dogmen und rechtliche Prinzipien zu staunen, sie
als geschichtsträchtige Aussagen zu entdecken“ (S. 14). Aber staunen wir nicht
gerade auch dann, wenn wir einen Einblick in die Historizität noch heute angewendeter
Rechtsinstitute und in den reichen Schatz von Erfahrungen gewinnen, welche die
Geschichte zur Lösung aktueller Probleme bereithält? Und greift es nicht zu
kurz, wenn man bei der Einschätzung moderner, der Pandektenwissenschaft entsprungener
Kodifikationen wie dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem schweizerischen
Zivilgesetzbuch vom „konkreten Inhalt“ einzelner Regeln absehen und
stattdessen ausschließlich „formelle Aspekte“ wie Einheit,
Geschlossenheit oder Staatlichkeit ins Auge fassen soll (S. 155f. -
Hervorhebungen im Original)? Niemand wird bestreiten, daß Rechtshistoriker nach
1900 anders als vor Inkrafttreten der Kodifikation arbeiten müssen und daß Caroni
die Differenz zwischen den verschiedenen Rechtsquellensystemen zutreffend herausgearbeitet
hat. Doch lassen sich gerade über konkrete Inhalte und den Text einzelner
Regelungen des Gesetzbuches eben auch Verbindungslinien ziehen: Wer wollte, um
ein Beispiel zu nennen, bezweifeln, daß es auch eine gemeinsame Linie etwa
zwischen römischer delegatio, gemeinrechtlicher Delegation,
BGB-Anweisung und moderner extravaganter Anweisung als Strukturelement zur
Erfassung komplexer bargeldloser Zahlungsvorgänge gibt und daß nicht nur eine
rechtshistorische Kenntnis der Differenzen, sondern auch der Verbindungen für die
heutige Privarechtsdogmatik „nützlich“, stimulierend oder gar notwendig sein
kann? Und wer könnte ernsthaft behaupten, daß eine Betrachtung (theoria,
contemplatio), die auch das geltende Recht einschließt, dem Ideal von
Einsamkeit und Freiheit, sofern es auch heute noch für erstrebenswert gehalten
wird, zwangsläufig zuwiderlaufen muß?
Die Beschränkung auf „formelle Aspekte“ greift aber noch
aus einem anderen Grund zu kurz. Es ist nämlich zu fragen, ob das
Kodifikationsprinzip, welches das im 19. Jahrhundert herrschende
Mischrechtssystem überholt und eine Entkoppelung von Vergangenheit und
Gegenwart herbeigeführt haben soll, nicht seinerseits inzwischen durch eine
Entwicklung überholt wurde, die unter dem Stichwort der Rechtsquellenvielfalt
zu charakterisieren wäre. Erinnert sei nur an die Diskussionen, die in den
letzten Jahren über „Gewährleistungsstaat“, „Deregulierung“ oder
„Selbstregulierung“ geführt wurden. Dabei ist gefordert worden, daß der Staat
die von ihm traditionell übernommenen Aufgaben überdenke, Verantwortlichkeiten
verändere, zurückschraube und in bestimmten Bereichen nicht mehr
Eigenleistungen erbringe, sondern Leistungen auf Dritte, vornehmlich Private
übertrage. Von einem sich inzwischen auf vielen Ebenen abzeichnenden
Funktionswandel des Staates ist längst auch das Gebiet der Rechtsetzung
betroffen, wo neben öffentliche Stellen zunehmend Private treten. Zwar bildet
das Bürgerliche Gesetzbuch auch heute noch eine wichtige Rechtsquelle. Doch ist
nicht zu übersehen, daß - anders als noch vor 100 Jahren - ein juristisches
Urteil im Privatrecht zunehmend auch durch außerstaatliche Rechtsquellen
bestimmt wird. Genau genommen bildet das Bürgerliche Gesetzbuch heute nur noch
eine von mehreren Rechtsquellen, deren Spektrum zudem durch das Anwachsen von
Richterrecht und Spezialgesetzgebung sowie die gesteigerte Bedeutung von
Rechtsbildungen auf internationaler Ebene erheblich erweitert worden ist. Vor
diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, daß sich in letzter Zeit die Klagen über
den unbefriedigenden Zustand von Kodifikation und staatlicher Gesetzgebung
mehren und von einem Trend zur Dekodifikation die Rede ist.
Es ließe sich also darüber streiten, ob Einheit, Geschlossenheit
oder Staatlichkeit als „formelle“ Merkmale des Kodifikationsprinzips noch
hinreichen, um den Unterschied zu den vor 1900 herrschenden Verhältnissen zu
charakterisieren. Die jüngste Entwicklung scheint im Gegenteil auf eine
Rechtsquellensituation hinauszulaufen, die den Zuständen vor 1900 in mancher
Hinsicht näher steht als der durch das Kodifikationsprinzip herbeigeführten
„Wende“.[9] Angesichts der
gesteigerten Bedeutung von privater Rechtsetzung und Juristenrecht ist in der
Literatur auch schon behauptet worden, die aktuellen Tendenzen seien einer
„juristischen Erfahrung“ entsprungen, die auf Parallelen mit den
Rechtsquellensystemen von ius commune und common law schließen
lassen.[10] Gerade unter
den erwähnten „formellen“ Gesichtspunkten hätte es daher nahegelegen, nicht nur
das Trennende hervorzuheben, sondern auch die Möglichkeit einer Verbindung
zwischen neuesten Entwicklungen und den vor 1900 herrschenden
Mischrechtssystemen in Betracht zu ziehen.[11]
Spitz formulierte Thesen rufen Widerspruch hervor und
halten die wissenschaftliche Diskussion in Gang. Die „Einsamkeit des
Rechtshistorikers“ muß als grundlegendes, ehrliches und gedankenreiches Werk
anerkannt werden, welches die Frage nach dem Verhältnis von Rechtsgeschichte
und Privatrechtsdogmatik uns Heutigen aktueller und brisanter erscheinen läßt
als früheren Zeiten. Es bietet auch denjenigen Lesern wertvolle Anregung und
Gewinn, die den Positionen des Verfassers nicht in allen Punkten folgen mögen.
Hannover Stephan
Meder
[1] Vgl. etwa Humboldts Denkschrift aus dem Jahre 1810 Über die innere und
äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in:
Gesammelte Schriften, Bd. X. Zweite Abteilung: Politische Denkschriften, Bd. 1,
1802-1810 (hg. v. B. Gebhardt), 1903, S. 250, 251 (weitere Nachweise bei Helmut
Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Zur sozialen Idee der deutschen
Universität, 1960, S. 7ff.).
[2] Vgl. nur Axel Horstmann, Antike Theoria und moderne Wissenschaft,
1992, S. 34, 42ff.
[3] Dazu näher Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen. Savignys
Grundlegung der juristischen Hermeneutik, 2004, S. 28ff.
[4] Inwieweit Savignys Streben nach einer Vereinigung von Theorie und Praxis
auch auf der von Aristoteles begründeten Tradition fußt, kann hier nicht näher
ausgeführt werden. Dies gilt auch für den Begriff der Einsamkeit, der in Bezug
auf Savigny eher als eine Form der „kollektiven Einsamkeit“ zu begreifen wäre
(vgl. hierzu und zur Formung einer „Gemeinschaft der Einsamen“ H. Emmel,
in: HWPh, Bd. 2, 1972, Stichwort „Einsamkeit“, Sp. 408).
[5] Vgl. etwa seinen „Beitrag zur Rechtsgeschichte des Adels im neueren
Europa“, in: Abhandlungen der Akademie 1836, Berlin 1838
(historisch-philologische Classe), S. 1-40; erneut in: Vermischte Schriften,
Bd. 4, Berlin 1850 (ND Aalen 1968), S. 1-73.
[6] Ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, daß Savigny seine Aufforderung an die
Vertreter des deutschen Privatrechts ernst gemeint hat, bietet sein Brief an
Eichhorn vom 21. Oktober 1851, in: Hugo Loersch, Briefe von Karl
Friedrich Eichhorn, Bonn 1881, S. 80-82.
[7] S. 7 - Hervorhebung im Original. Dazu auch S. 59, 122, 130.
[8]S. 54ff. Unter den Prämissen von Heteronomie und Diskontinuität erscheint
es konsequent, die Abschaffung der Lehre des römischen Rechts zu fordern, vgl.
die Andeutungen S. 38 („ ,Historisierung’ des römischen Rechts“), S. 85 („Vereinfachung
und Straffung des Lehrangebots“) oder S. 163 („nicht Althistoriker auszubilden“).
[9] Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei betont, daß Caroni die
neuesten Entwicklungen durchaus zur Kenntnis und zum Anlaß wichtiger
Überlegungen nimmt (z. B. S. 105-115 oder in: Gesetz und Gesetzbuch. Beiträge
zu einer Kodifikationsgeschichte, 2003, S. 87-94).
[10] Vgl. Paolo Grossi (Quaderni fiorentini, 2000, S. 551, 556), auf den
Caroni (S. 113f.) sich bezieht. Bei Grossi ist in Übereinstimmung
mit dem üblichen Sprachgebrauch von Kontinuität vor allem dort die Rede, wo er
sich auf die Tradition des common law bezieht (vgl. auch Prima lezione
di diritto, 2003, S. 64; René David/Günther Grasmann, Einführung in die
großen Rechtssysteme der Gegenwart, 2. Auflage 1988, S. 436; allgemein zum
Thema „Kodifikation und Kontinuität“: die Beiträge in ZNR 2001, S. 293-307).
[11] Letztlich dürfte es sich bei der Entscheidung für oder gegen „Kontinuität“
um eine rechtspolitische Frage handeln: Wer die Vereinheitlichung von
Rechtsquellen durch staatliche Gesetzgebung - aus welchen Gründen auch immer -
für problematisch (oder wie Grossi gar für einen „Rückschritt“) hält,
wird an Traditionen des Rechtsquellenpluralismus anzuknüpfen suchen, die es ja
auch auf dem Kontinent immer schon gegeben hat. Die Gegenmeinung wird die durch
Verstaatlichung und Monopolisierung von Recht bewirkte Zäsur für endgültig
ansehen und den Gesichtspunkt der Diskontinuität betonen. Im übrigen soll
natürlich nicht behauptet werden, daß heutige Zustände mit denen vor 1900 direkt
vergleichbar seien; doch sollte es gestattet sein, mit Begriffen wie „Rechtsquellenvielfalt“
oder „Mischrechtssystem“ als „Suchscheinwerfern“ in die Vergangenheit
hineinzuleuchten. Die Annahme, daß bestimmte Muster schon in früheren Zeiten
verfügbar waren, muß ja nicht bedeuten, daß das Ergebnis der Suche bereits
vorweggenommen wurde.