Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Gustav Hugo, hg. v. Bialas, Stephan (= Jacob und Wilhelm Grimm Briefwechsel Kritische Ausgabe 3). Hirzel, Stuttgart 2004. 473 S. Besprochen von Lieselotte Jelowik.
Der vorliegende Band stellt den bisher nur „fragmentarisch und unzuverlässig“ (S. 13) erschlossenen Briefwechsel der Brüder Grimm mit Gustav Hugo in einer vollständigen und gediegenen Edition vor. Sie umfasst 288 Briefe, von denen der Großteil, nämlich 152, von Wilhelm Grimm an Hugo gerichtet sind. Lediglich 14 Briefe an Hugo stammen von Jacob Grimm. Von Gustav Hugo liegen 90 Gegenbriefe vor, deren Adressaten zum überwiegenden Teil Wilhelm Grimm bzw. dessen Frau Dorothea sind. Diese familiäre Dimension des Briefwechsels weist bereits darauf hin, dass zwischen Hugo und den Grimms ein freundschaftlich vertrautes, beinahe innig zu nennendes Verhältnis bestand, das auch den Inhalt vieler Briefe kennzeichnet. Der Briefwechsel umfasst den Zeitraum von 1817 bis 1844 mit deutlichem Schwerpunkt in den dreißiger und vierziger Jahren. Dass in dieser Zeit mitunter täglich Briefe, vornehmlich zwischen Hugo und Wilhelm Grimm hin und her gingen, zeugt von der Intensität der Beziehungen. Wie sehr vor allem Hugo dieser fast tägliche Austausch zum Bedürfnis geworden war, zeigen seine öfter in Briefen vereinigten tagebuchartigen Aufzeichnungen (S. 64ff., 211ff., 282ff.). Trotz seines Augenleidens, das ihn häufig zwang, „mit Hülfe fremder Augen zu schreiben“ (S. 288), hielt Hugo bis zuletzt an der Gepflogenheit des häufigen, fast regelmäßigen Briefwechsels fest. Die in der Göttinger, möglicherweise schon in der Kasseler Zeit der Brüder Grimm begründete enge Beziehung zu Hugo bewährte sich vor allem in der auf die Amtsenthebung der „Göttinger Sieben“ folgenden Zeit, in der Hugo zeitweilig Wilhelm Grimm und dessen Familie beherbergte und auch finanziell unterstützte. Die hannoverschen und göttingischen Vorgänge des Jahres 1837 bilden zwangsläufig einen Hauptgegenstand des Briefwechsels. Dabei ist Hugos bekannte kritische Haltung in der Verfassungsangelegenheit Hannovers und zur Entlassung der sieben Göttinger Professoren allenthalben spürbar. Die Ermahnung des hannoverschen Königs an die Universität Göttingen, ihre Professoren sollten sich „mit den Wissenschaften beschäftigen u die Politik ja seyn lassen“ (S. 168), hielt weder Hugo noch seine Briefpartner davon ab, auch die politischen Fragen der Zeit in den Kreis ihres Briefwechsels zu ziehen, wobei Wilhelm Grimm sich geradezu entschuldigte, wenn er „keine politische(n) Neuigkeiten mitzutheilen“ hatte (S. 156). Die königliche „forderung, sich nicht mit politik zu beschäftigen“, war für ihn gleichbedeutend mit dem Gebot, „nur die Meinung zu haben, die gerade beliebt ist“ (S. 170). In diesem Sinne bemerkenswert ist Hugos – in anderem Zusammenhang geäußertes – Bekenntnis: „Daß Sie glaubten, ich sey meinem Metier nach ein Royalist, daran thaten Sie mir Unrecht. Ich bin es nur in so ferne ich in einer Monarchie lebe, in einer Republik wäre ich ein Republikaner“ (S. 214). Eine solche Vertraulichkeit prägt weite Teile des Briefwechsels. Nicht nur deshalb fällt die vorliegende Edition aus dem Rahmen gelehrten Schriftverkehrs, wie er im 19. Jahrhundert in Ermangelung anderer Kommunikationsmöglichkeiten allgemein üblich und verbreitet war, heraus. Zwar handelt es sich „in Anbetracht der daran beteiligten Personen um eine Gelehrten-Korrespondenz, nicht aber um eine gelehrte“ (S. 13). Sieht man von dem – verglichen mit der Intensität und dem Gesamtumfang des Briefwechsels – eher sparsamen gedanklichen Austausch über die Arbeit der Grimms am Deutschen Wörterbuch ab, an der Hugo mit eigenen Vorstellungen und Fragen sachkundig und interessiert Anteil nahm, so spielen wissenschaftliche Aspekte in den beiderseitigen Briefen kaum eine Rolle. Dem Mitteilungsbedürfnis der Briefpartner und der Spezifik ihrer Beziehungen entsprach es offensichtlich weit mehr, sich wechselseitig über persönliche Befindlichkeiten zu unterrichten, freilich unter Einbeziehung eines breiten Umfeldes, und einander an ihrem Alltagsleben teilhaben zu lassen. Dabei eröffnen sich dem Leser Einblicke in den Professorenalltag in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, deren Relevanz für die Universitäts- und Gelehrtengeschichte schwerlich zu leugnen ist. Das gilt nicht minder für jene Teile des Briefwechsels, die Mitteilungen über die Universität Göttingen nach 1837 enthalten. Bemerkenswert auch die Fülle von Informationen über Vorgänge an anderen deutschen Universitäten, namentlich Berufungen, Universitätswechsel, Professorenschicksale, wobei freilich diese Passagen mitunter in die Nähe dessen geraten, was man gemeinhin als Gesellschaftsklatsch bezeichnet.
Eine neue Dimension erreichte der Informationsaustausch zwischen den Briefschreibern mit der Übersiedlung der Brüder Grimm nach Berlin im März 1841. Vor allem Wilhelm Grimms detaillierte, oft mit Alltagsgeschehnissen und Anekdoten gewürzte Schilderungen lassen geradezu plastisch das Bild gesellschaftlicher Zustände im Berlin der vierziger Jahre entstehen und sind zudem köstlich zu lesen. Savigny als Wissenschaftler, Minister und Mittelpunkt des geselligen Lebens ist gewissermaßen allgegenwärtig. Auch von Puchta, Eichhorn, Homeyer, Rudorf, Pertz, Waitz, Richthofen, Alexander von Humboldt und Schelling als Mitgliedern der Berliner Gesellschaft ist mehr oder weniger häufig die Rede. Umgekehrt berichtete Hugo über das Wohl und Wehe seiner Kollegen Mühlenbruch, Bauer, Bergmann, Blume und Thöl sowie der Göttinger Juristenfakultät überhaupt. Nimmt man den Verwandten-, Bekannten- und Freundeskreis hinzu, den die Briefschreiber in ihre wechselseitige Information einbezogen, so wird deutlich, dass der Herausgeber es mit einem umfangreichen Personenkreis zu tun hatte, dessen biographische Aufarbeitung eine besondere Herausforderung darstellte. Soweit die Rezensentin dies zu beurteilen vermag, hat Bialas sich dieser Aufgabe mit Bravour entledigt. Seine genealogische Feinarbeit, in die auch die scheinbar entlegensten Zeitgenossen der Korrespondenten einbezogen werden, nötigt Respekt ab. Ebenso zeugen die sachlichen und historischen Erläuterungen zum Inhalt der Briefe von Umsicht und wissenschaftlicher Sorgfalt. Einbußen erleidet dagegen mitunter die von Bialas eingangs zugesicherte „besondere Sorgfalt ... (bei) der Kommentierung juristischer Fragen“ (S. 20), so z. B., wenn er von „Erklärungsversuche(n) Hugos zur Entstehung der drei lateinischen Teile des Corpus Iuris Civilis, der Digesten, ...“ spricht (S. 176). Anmerkungen zu Personen, Ereignissen oder Sachverhalten finden sich oft nicht, wie üblich, am Ort der ersten Erwähnung, sondern erst an späterer, weit entlegener Stelle (vgl. Briefe Nr. 58, 71 und 87 zu Heinrich Ritter sowie Nr. 119 und 248 zu Karl von Richthofen).
Überhaupt stellt der offenbar den Richtlinien für die Gesamtedition folgende wissenschaftliche Apparat den Leser vor manche Geduldsprobe: Anstelle von Fußnoten ist jedem Brief ein sogenannter Sachkommentar beigegeben, innerhalb dessen die (zahlreichen) Anmerkungen des Herausgebers den Zeilen der Briefe unter teilweiser Wiederholung der betreffenden Brieftexte zugeordnet sind. Sorgt dies schon für Unübersichtlichkeit, so tun platzsparender Kleindruck und zahlreiche, freilich unvermeidliche Verweisungen ein Übriges, das uneingeschränkte Lesevergnügen, das die Briefe bereiten, zu trüben.
Halle (Saale) Lieselotte Jelowik